"Dem, der Fragen an mich haben sollte"
Es ist ein Tagebuch, das viele Fragen aufwirft, denn es ist das Tagebuch von Erwin Strittmatter, über dessen Biographie ein Verdacht kreist: War er bei der SS? Jetzt erschien eine Ausgabe seiner Tagebücher von 1954 bis 1973.
Am 9. Juli 1957 notiert Erwin Strittmatter in seinem Tagebuch: "Gegen Abend nochmals zum ZK. Muss Fragebogen ausfüllen, Lebenslauf schreiben. Das geht bis in die Nacht hinein. Weshalb?" Wundert sich da ein Täter?
Ist er vielleicht besorgt, weil herauskommen könnte, dass er seine biographischen Angaben, besonders die, die den Zeitraum zwischen 1941 und 1945 betreffen, frisiert hat?
Auf Strittmatters Biografie liegt ein Schatten, seit Werner Liersch auf die Existenz von zwei Karteikarten hingewiesen hat, auf denen ein SS-Untersturmführer am 15. April 1941 die rassischen Merkmale des Rekruten Erwin Strittmatter erfasst hat. Unweigerlich steht seither die Frage im Raum: War Strittmatter Angehöriger der SS?
Wenn ja, dann hätte er seinen Lebenslauf erheblich manipuliert und der selbst ernannte Antifaschist stünde plötzlich als strammer Faschist da, dessen Behauptung: "[K]eine Kugel [verließ] meinen Gewehrlauf" (Tagebuchnotiz vom 6.8.1963) eine Lüge gewesen sein könnte.
Die von Almut Giesecke herausgegebenen Strittmatter-Tagebücher erscheinen einen Monat vor der für den 21. Juli 2012 angekündigten neuen Strittmatter-Biografie von Annette Leo. Die Marketingabteilung des Aufbau Verlages war gut beraten, zunächst die Tagebücher und dann erst die Biografie herauszubringen.
Denn sollte durch die Biografie deutlich werden, dass Strittmatter Tatsachen verschwiegen hat, die er öffentlich hätte machen sollen, wäre dies mit erheblichen Folgen für seine Person und für sein Werk verbunden. Noch erheblicher aber wären sie für die vorliegenden Tagebücher.
Welchen Wert hätten solche, eigentlich der persönlichen Wahrheit verpflichteten Aufzeichnungen von einem Verfasser, von dem man nicht genau weiß, welche Rolle er spielte und dadurch offen bleibt: Wer spricht eigentlich in den Tagebüchern?
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Traumnotiz vom 4. September 1958: Ich "soll auf dem Theater in einem Stück, das ich nicht kenne, eine Rolle spielen. Ich kenn meinen Text nicht. Mein Auftritt rückt immer näher. Ich quäle mich. Meinen Text habe ich vergessen."
Die vorliegende Auswahl aus Strittmatters Tagebüchern beginnt ein Jahr nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und endet am 31. Dezember 1973, also vor der Biermann-Ausbürgerung.
Strittmatter übernahm in den Fünfziger Jahren öffentliche und auch Parteiämter, die ihm ein "Unbehagen" waren. Doch er war überzeugt davon, dass Walter Janka wegen "Dummheit bestraft werden musste". 1967 sprach er von einem "Katholiken-Verhältnis", das er "damals zur Partei hatte". "Gläubig" war er auch in Kunstdingen. Ein "wirklicher Optimismus" erschien ihm besser, als eine moderne, sich auf Kafka beziehende Literatur.
Neidisch beobachtete er 1962, wie rücksichtsvoll mit Peter Huchel umgegangen wurde. In Heiner Müller sah er 1963 einen "Revoluzzer und Konter-Revolutionär", den Paul Dessau wieder salonfähig gemacht hat und Mühe hatte er mit Heinrich Bölls "Billard um halb zehn" und Christa Wolfs "Der geteilte Himmel".
Zum Mauerbau, den er begrüßte, existieren keine Tagebuchaufzeichnungen. Die kritischen Äußerungen gegenüber dem 11. Plenum des ZK der SED – das u.a. zum Verbot von Bräunigs Roman "Rummelplatz" führte – hielt er für wucherndes "Geschwätz", so dass Evchen [Eva Strittmatter] und er "alle Hände voll zu tun [hatten], dass es nicht auch unseren Optimismus überwucherte."
Dieser Optimismus erfuhr in den folgenden Jahren durchaus Trübungen. Seine Äußerungen der DDR gegenüber wurden kritischer und es häuften sich Selbstmordgedanken. Darüber hinaus macht das Tagebuch deutlich, dass Strittmatter launisch und oft jähzornig war. Hatte er sich mit Eva überworfen oder ging es mit dem Schreiben nicht gut voran, suchte er Trost bei seinen Pferden.
Im Moment erweist sich die Strittmatter Biografie betreffende Faktenlage als ein diffuser Raum. Der 1994 verstorbene Autor wollte sich in den Tagebüchern – so zitiert ihn Herausgeberin Almut Giesecke in ihrem Nachwort – der Nachwelt mitteilen: "[D]em oder dem, der Fragen an mich haben sollte".
Er gibt in den vorliegenden Tagebüchern eine Reihe von Antworten, aber wesentliche Fragen bleiben offensichtlich bis zum Erscheinen der Biografie unbeantwortet.
Besprochen von Michael Opitz
Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben
Aus den Tagebüchern 1954 – 1973
Aufbau Verlag, Berlin 2012
601 Seiten; 24,99 Euro.
Ist er vielleicht besorgt, weil herauskommen könnte, dass er seine biographischen Angaben, besonders die, die den Zeitraum zwischen 1941 und 1945 betreffen, frisiert hat?
Auf Strittmatters Biografie liegt ein Schatten, seit Werner Liersch auf die Existenz von zwei Karteikarten hingewiesen hat, auf denen ein SS-Untersturmführer am 15. April 1941 die rassischen Merkmale des Rekruten Erwin Strittmatter erfasst hat. Unweigerlich steht seither die Frage im Raum: War Strittmatter Angehöriger der SS?
Wenn ja, dann hätte er seinen Lebenslauf erheblich manipuliert und der selbst ernannte Antifaschist stünde plötzlich als strammer Faschist da, dessen Behauptung: "[K]eine Kugel [verließ] meinen Gewehrlauf" (Tagebuchnotiz vom 6.8.1963) eine Lüge gewesen sein könnte.
Die von Almut Giesecke herausgegebenen Strittmatter-Tagebücher erscheinen einen Monat vor der für den 21. Juli 2012 angekündigten neuen Strittmatter-Biografie von Annette Leo. Die Marketingabteilung des Aufbau Verlages war gut beraten, zunächst die Tagebücher und dann erst die Biografie herauszubringen.
Denn sollte durch die Biografie deutlich werden, dass Strittmatter Tatsachen verschwiegen hat, die er öffentlich hätte machen sollen, wäre dies mit erheblichen Folgen für seine Person und für sein Werk verbunden. Noch erheblicher aber wären sie für die vorliegenden Tagebücher.
Welchen Wert hätten solche, eigentlich der persönlichen Wahrheit verpflichteten Aufzeichnungen von einem Verfasser, von dem man nicht genau weiß, welche Rolle er spielte und dadurch offen bleibt: Wer spricht eigentlich in den Tagebüchern?
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Traumnotiz vom 4. September 1958: Ich "soll auf dem Theater in einem Stück, das ich nicht kenne, eine Rolle spielen. Ich kenn meinen Text nicht. Mein Auftritt rückt immer näher. Ich quäle mich. Meinen Text habe ich vergessen."
Die vorliegende Auswahl aus Strittmatters Tagebüchern beginnt ein Jahr nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und endet am 31. Dezember 1973, also vor der Biermann-Ausbürgerung.
Strittmatter übernahm in den Fünfziger Jahren öffentliche und auch Parteiämter, die ihm ein "Unbehagen" waren. Doch er war überzeugt davon, dass Walter Janka wegen "Dummheit bestraft werden musste". 1967 sprach er von einem "Katholiken-Verhältnis", das er "damals zur Partei hatte". "Gläubig" war er auch in Kunstdingen. Ein "wirklicher Optimismus" erschien ihm besser, als eine moderne, sich auf Kafka beziehende Literatur.
Neidisch beobachtete er 1962, wie rücksichtsvoll mit Peter Huchel umgegangen wurde. In Heiner Müller sah er 1963 einen "Revoluzzer und Konter-Revolutionär", den Paul Dessau wieder salonfähig gemacht hat und Mühe hatte er mit Heinrich Bölls "Billard um halb zehn" und Christa Wolfs "Der geteilte Himmel".
Zum Mauerbau, den er begrüßte, existieren keine Tagebuchaufzeichnungen. Die kritischen Äußerungen gegenüber dem 11. Plenum des ZK der SED – das u.a. zum Verbot von Bräunigs Roman "Rummelplatz" führte – hielt er für wucherndes "Geschwätz", so dass Evchen [Eva Strittmatter] und er "alle Hände voll zu tun [hatten], dass es nicht auch unseren Optimismus überwucherte."
Dieser Optimismus erfuhr in den folgenden Jahren durchaus Trübungen. Seine Äußerungen der DDR gegenüber wurden kritischer und es häuften sich Selbstmordgedanken. Darüber hinaus macht das Tagebuch deutlich, dass Strittmatter launisch und oft jähzornig war. Hatte er sich mit Eva überworfen oder ging es mit dem Schreiben nicht gut voran, suchte er Trost bei seinen Pferden.
Im Moment erweist sich die Strittmatter Biografie betreffende Faktenlage als ein diffuser Raum. Der 1994 verstorbene Autor wollte sich in den Tagebüchern – so zitiert ihn Herausgeberin Almut Giesecke in ihrem Nachwort – der Nachwelt mitteilen: "[D]em oder dem, der Fragen an mich haben sollte".
Er gibt in den vorliegenden Tagebüchern eine Reihe von Antworten, aber wesentliche Fragen bleiben offensichtlich bis zum Erscheinen der Biografie unbeantwortet.
Besprochen von Michael Opitz
Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben
Aus den Tagebüchern 1954 – 1973
Aufbau Verlag, Berlin 2012
601 Seiten; 24,99 Euro.