Dem Falschen auf der Spur
Helmut Krausser hat Archäologie studiert, als Nachtwächter und als Rocksänger gearbeitet und in seinen Büchern schon die unterschiedlichsten Sujets verarbeitet. Sein neuer Roman dreht sich um einen aggresiven Werbe-Manager, der sich letztlich nach Gefühlen sehnt.
David ist ein klassischer Metropolenbewohner, der all das verkörpert, was heute als erstrebenswert gilt: Dynamik, Erfolg, Schönheit. Der 38-jährige Fotograf verkehrt in den richtigen Clubs, umgibt sich mit Fotomodellen, zieht ab und zu eine Linie Koks und verschafft sich mit aggressivem Auftreten auch in seiner Werbefirma den gebührenden Respekt. Bei einer Präsentation greift er den Texter Serge so heftig an, dass dieser einen Zusammenbruch erleidet.
Pikanterweise ist Serges Freundin Kati eine von Davids Eroberungen, wovon Serge nichts ahnt. Kati hat sich für ihn entschieden, was David zum ersten Mal seit Jahren aus der Bahn wirft. Wie sich sein kaltes Herz plötzlich wieder regt, ist eine der vielen Geschichten, die Helmut Krausser in seinem neuen Roman "Die letzten schönen Tage" miteinander verwebt. Krausser splittert die Erzählperspektive geschickt auf und montiert eine Art Stimmencluster: Die Geschehnisse werden aus den Blickwinkeln von sechs verschiedenen Figuren dargelegt, wobei manche sehr häufig vorkommen und sogar als Ich-Erzähler auftreten wie Kati und Serge, andere, etwa Davids elfjährige Nichte Becky, nur ein einziges Mal.
Dieses multiperspektivische Verfahren passt zum Sujet, denn es geht um Befindlichkeiten nach der Jahrtausendwende, um Vereinzelung, Lebenskrisen, Rollenmodelle, Gefühlsstörungen. Längst sind es nicht mehr nur die Arbeitsverhältnisse, die Entfremdung erzeugen. Die Beziehungen selbst und das Innere der Menschen scheinen vollkommen entleert. Kraussers Figuren wirken wie ferngesteuert, getrieben von Zwängen, derer sie sich gar nicht bewusst sind.
Helmut Krausser hat Archäologie studiert, als Nachtwächter und als Rocksänger gearbeitet, aber vor allem viel veröffentlicht, darunter zahlreiche Romane, Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele. Sein neuster Roman trägt den Titel "Die letzten schönen Tage".
Helmut Krausser, 1964 geboren, Verfasser einer Vielzahl von Romanen, Tagebüchern, Libretti und Theaterstücken, legt mit "Die letzten schönen Tage" eine spannungsreiche Mischung aus Milieustudie und Gesellschaftsroman vor. Spätestens seit seinem bundesrepublikanischen Geschichtspanorama "Eros" (2006) hat Krausser die wuchtige Kraftmeierei seiner ersten Schaffensphase hinter sich gelassen – mit großem Gewinn. Hatte es früher scheppernde Kolportage, Mythenkitsch und furiose Sexszenen in Hülle und Fülle gegeben, favorisiert er jetzt eine unterkühlte Erzählweise. Das steigert sein zeitdiagnostisches Potenzial.
In "Die letzten schönen Tage" durchdringt er nicht nur die individuelle Psyche seiner Figuren, sondern fächert nebenbei auch das Verhältnis zwischen den Generationen auf. Da gibt es die elfjährige Becky, die von Mitschülern in Pornospielchen verwickelt wird. Dann kommen die pensionierten Lehrerinnen Jule und Lisbeth vor, deren heimliche Liaison während eines Kalifornienurlaubs in die Brüche geht. Schließlich tauchen nacheinander Serge, Kati und David auf; letzterer entpuppt sich als Jules Sohn. Eine besonders gespenstische Entwicklung nimmt das symbiotisch ineinander verkeilte Paar Serge und Kati.
Kraussers Erzählweise vermittelt durch den fortwährenden Perspektivwechsel den Kontrast zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Vor allem Serge ist eine schillernde Figur: Obwohl er seine Störung in einer elaborierten Sprache reflektiert, wird er immer wieder zum Opfer der eigenen Paranoia. Aber auch die beflissene, gutmütige Kati, die aus ihrer aufopfernden Fürsorge Bestätigung zieht, gewinnt mehrere Facetten. Am sympathischsten ist am Ende David, der seiner coolen Pose überdrüssig wird und sich nach Gefühlen sehnt. Manchmal kommt also doch jemand dem Falschen im falschen Leben auf die Spur.
Besprochen von Maike Albath
Helmut Krausser: Die letzten schönen Tage. Roman
DuMont Verlag, Köln 2011
223 Seiten, 19,99 Euro
Pikanterweise ist Serges Freundin Kati eine von Davids Eroberungen, wovon Serge nichts ahnt. Kati hat sich für ihn entschieden, was David zum ersten Mal seit Jahren aus der Bahn wirft. Wie sich sein kaltes Herz plötzlich wieder regt, ist eine der vielen Geschichten, die Helmut Krausser in seinem neuen Roman "Die letzten schönen Tage" miteinander verwebt. Krausser splittert die Erzählperspektive geschickt auf und montiert eine Art Stimmencluster: Die Geschehnisse werden aus den Blickwinkeln von sechs verschiedenen Figuren dargelegt, wobei manche sehr häufig vorkommen und sogar als Ich-Erzähler auftreten wie Kati und Serge, andere, etwa Davids elfjährige Nichte Becky, nur ein einziges Mal.
Dieses multiperspektivische Verfahren passt zum Sujet, denn es geht um Befindlichkeiten nach der Jahrtausendwende, um Vereinzelung, Lebenskrisen, Rollenmodelle, Gefühlsstörungen. Längst sind es nicht mehr nur die Arbeitsverhältnisse, die Entfremdung erzeugen. Die Beziehungen selbst und das Innere der Menschen scheinen vollkommen entleert. Kraussers Figuren wirken wie ferngesteuert, getrieben von Zwängen, derer sie sich gar nicht bewusst sind.
Helmut Krausser hat Archäologie studiert, als Nachtwächter und als Rocksänger gearbeitet, aber vor allem viel veröffentlicht, darunter zahlreiche Romane, Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele. Sein neuster Roman trägt den Titel "Die letzten schönen Tage".
Helmut Krausser, 1964 geboren, Verfasser einer Vielzahl von Romanen, Tagebüchern, Libretti und Theaterstücken, legt mit "Die letzten schönen Tage" eine spannungsreiche Mischung aus Milieustudie und Gesellschaftsroman vor. Spätestens seit seinem bundesrepublikanischen Geschichtspanorama "Eros" (2006) hat Krausser die wuchtige Kraftmeierei seiner ersten Schaffensphase hinter sich gelassen – mit großem Gewinn. Hatte es früher scheppernde Kolportage, Mythenkitsch und furiose Sexszenen in Hülle und Fülle gegeben, favorisiert er jetzt eine unterkühlte Erzählweise. Das steigert sein zeitdiagnostisches Potenzial.
In "Die letzten schönen Tage" durchdringt er nicht nur die individuelle Psyche seiner Figuren, sondern fächert nebenbei auch das Verhältnis zwischen den Generationen auf. Da gibt es die elfjährige Becky, die von Mitschülern in Pornospielchen verwickelt wird. Dann kommen die pensionierten Lehrerinnen Jule und Lisbeth vor, deren heimliche Liaison während eines Kalifornienurlaubs in die Brüche geht. Schließlich tauchen nacheinander Serge, Kati und David auf; letzterer entpuppt sich als Jules Sohn. Eine besonders gespenstische Entwicklung nimmt das symbiotisch ineinander verkeilte Paar Serge und Kati.
Kraussers Erzählweise vermittelt durch den fortwährenden Perspektivwechsel den Kontrast zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Vor allem Serge ist eine schillernde Figur: Obwohl er seine Störung in einer elaborierten Sprache reflektiert, wird er immer wieder zum Opfer der eigenen Paranoia. Aber auch die beflissene, gutmütige Kati, die aus ihrer aufopfernden Fürsorge Bestätigung zieht, gewinnt mehrere Facetten. Am sympathischsten ist am Ende David, der seiner coolen Pose überdrüssig wird und sich nach Gefühlen sehnt. Manchmal kommt also doch jemand dem Falschen im falschen Leben auf die Spur.
Besprochen von Maike Albath
Helmut Krausser: Die letzten schönen Tage. Roman
DuMont Verlag, Köln 2011
223 Seiten, 19,99 Euro