Dem schönen Schein erlegen

Die Liebe vermag es nicht, soziale Schranken zu überwinden: Das ist das Thema von Alexandre Dumas’ 1848 veröffentlichtem Roman "Die Kameliendame". Er hat ihn selbst zu einem Theaterstück umgearbeitet, Giuseppe Verdi machte 1853 daraus die Oper "La Traviata".
Die Kurtisane Marguerite Gautier verliebt sich in den jungen, mittellosen Armand Duval und will mit ihm auf dem Land, abseits der Pariser Vergnügungen, ein neues Leben beginnen. Doch weil Armands Vater ihr Vorhaltungen macht und die Hochzeit von Armands Schwester wegen der anrüchigen Verbindung zu platzen droht, verlässt Marguerite Armand und kehrt zu ihren alten Liebhabern nach Paris zurück. Sie ist bereits unheilbar an Tuberkulose erkrankt. Erst in Marguerites Sterbestunde finden die Liebenden noch einmal zueinander.

Was für ein glänzendes Leben die Kameliendame führt, macht schon das Programmheft klar: Ausnahmsweise auf Hochglanzpapier gedruckt. Der Vorhang ist aus Goldstoff, die ganze Bühne ein großer, goldener Kasten. Selbst der Rückzug aufs Land edel designt: Da wehen dann weiße Tücher von links und rechts auf die Bühne, die Flower-Power der Landluft übersetzt Bühnenbildner Jan Versweyveld in ein großes weißes Wallen. Und dann die Kostüme: Die große, hagere Chris Nietvelt ist mit ihren überlangen Gliedmaßen ein perfekter Kleiderständer und nur mit edelsten Stoffen behängt: Bis zum Po ausgeschnittene Kleider, die ihren schlanken Rücken elegant in Szene setzen, natürlich ebenfalls aus Goldstoff oder aus glitzernden Tressen.

Womöglich hat Ivo van Hove mit diesem perfekten Oberflächendesign die Oberflächlichkeit der von ihm porträtierten Gesellschaft ausstellen wollen, doch er erliegt selbst dem schönen Schein. Nicht zuletzt deswegen, weil es unter dieser Oberfläche nicht genügend brodelt: Felix Kramer/Armand und Chris Nietvelt/Marguerite stehen auch während der Liebesszenen stets an entgegen gesetzten Enden der Bühne, sie behaupten ihre Gefühle jeder für sich. So haben sie dem Egoismus und dem kalten Luxus der Vergnügungsgesellschaft keine Wärme oder Nähe entgegen zu setzen.

"Wer nicht liebt, der muss wohl die Einsamkeit des Herzens mit Lärm übertönen", lautet Armands entscheidender Satz. Ivo van Hove übersetzt ihn in ein spezielles Sounddesign: Häufig lärmt die Musik so laut, dass die Schauspieler nicht mehr zu verstehen sind und mit übertriebener Gestik oder Clownerien eine Partypantomime vorführen. Auf Dauer sehr ermüdend, die Szenen unterscheiden sich in ihrer Unverständlichkeit nicht. Egal ob die Stimmen der Schauspieler zu Micky-Maus-Gepiepse verzerrt werden oder Rap und Techno aus den Lautsprechern hämmert: Viel tönender Leerlauf auf der Bühne. Und selbst während der zarten Liebesszenen zwischen Armand und Marguerite blubbert immer irgend eine Musik im Hintergrund: Ivo van Hove wollte wohl zeigen, dass auch an dieser Liebe von Anfang an der Wurm der bürgerlichen Äußerlichkeit nagt. Der Beziehung nimmt er damit die Entwicklung, dem Zuschauer geht es auf die Nerven.

Natürlich braucht jede Kameliendamen-Inszenierung eine große Hauptdarstellerin: Marguerite Gautier war einst die Paraderolle der großen Sarah Bernhardt, noch mit 67 Jahren verkörperte sie die Kameliendame in einer Verfilmung. Dabei war das reale Vorbild der Kameliendame, Marie Duplessis, bei ihrem Tod erst 23! Chris Nietvelt führt die Bühnentradition würdig fort: Sie ist 45 und spielt mit ganz großen Gesten und großen, meist auch noch weit aufgerissenen Augen. Pathos gehört zu ihrem Wesen, wahrscheinlich redet sie zuhause in ihrer Küche mit der gleichen Emphase. Die edle Künstlichkeit ihres Auftritts wird noch dadurch gesteigert, dass die Niederländerin das fremde Deutsch überdeutlich artikuliert.

Und so wirkt die gesamte Inszenierung wie aus der Zeit von Gustaf Gründgens. Ivo van Hove verwendet alles, was wir so landläufig als moderne Theatermittel kennen, unter anderem eine völlig überflüssige Nacktszene am Schluss, um eine Geschichte des 19.Jahrhunderts zu erzählen und dabei ästhetisch in den fünfziger Jahren stecken zu bleiben. Damals hätte man wohl die Bedenken von Armands Vater noch verstehen können. Damals wäre noch interessant gewesen, wie sehr Armand selbst das bürgerliche Besitzdenken verinnerlicht hat, wenn er Marguerite mit seiner Eifersucht verfolgt. Doch heute ist die bürgerlichen Gesellschaft tolerant und ihre sexuelle Doppelmoral elastisch geworden, die Tuberkulose, an der Marguerite schließlich stirbt, in Europa längst überwunden. So herrscht auf der Bühne glanzvolle Langeweile wie im Leben der Kameliendame: Neue Facetten kann Ivo van Hove dem Stück nicht abgewinnen.

Die Kameliendame
Von Alexandre Dumas fils
Schauspielhaus Hamburg
Regie: Ivo van Hove