Dem Vater auf der Spur

Ursula Priess im Gespräch mit Katrin Heise |
Ursula Priess hat sich in ihrem Buch "Sturz durch alle Spiegel" mit ihrem Vater, dem Schweizer Autor Max Frisch, auseinandergesetzt. Die Autorin betont, dass es "kein Erinnerungsbuch" sei, "es ist auch keine Verurteilung, ich richte nicht". Es sei ein literarischer Versuch der Bestandsaufnahme, in dem sie Motive wie Verstrickung und Verlassenheit in ihrer Beziehung zu ihrem Vater untersucht.
Katrin Heise: Ursula Priess hat ein Buch über ihr Verhältnis zu ihrem Vater Max Frisch geschrieben. Erinnerungen und Fiktion mischen sich in diesem Buch. Da trifft sich eine Frau in Venedig mit einem Mann, den sie bisher nur übers Telefon kennt. Eine wunderbare Spannung liegt in der Luft und dann fällt dieser Satz: "Der Frisch also, der ist ihr Vater?" Und damit beginnt die Aufdeckung einer Verstrickung, die eigentlich nur ausgedacht sein kann. Der Unbekannte hat in der realen Welt des Vaters Frisch eine bedeutende Rolle gespielt und damit ist er wieder gegenwärtig: der Vater Max Frisch. Und er fordert geradezu von der Tochter, sich mit ihm zu beschäftigen, mit seiner Rolle in ihrem Leben. Und sie tut es in Form eines Buches - "Sturz durch alle Spiegel" - aber sie will nicht enthüllen, sie will nicht abrechnen. Das Buch erscheint heute und mit der Autorin Ursula Priess konnte ich mich vor der Sendung unterhalten.

Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Schönen guten Tag!

Ursula Priess: Ich danke für die Einladung.

Heise: Vor 18 Jahren, Frau Priess, ist Ihr Vater Max Frisch gestorben. Sie und Ihre Geschwister haben ihn damals auch begleiten können. Warum jetzt diese Bestandsaufnahme, wie Sie das nennen? Hat diese Venedig-Begegnung das geglaubte Tochter-Vater-Verhältnis infrage gestellt?

Priess: Ja, das kann man so sagen. Es bleibt dahingestellt, ob diese Venedig-Geschichte genauso war - natürlich, wie immer -, was dann in eine Form gebracht wird. Diese Geschichte könnte selbstverständlich auch ganz anders erzählt werden. Es würde mich zum Beispiel auch locken, diese Geschichte aus der Perspektive des Mannes zu erzählen. Aber wichtig ist jetzt im Zusammenhang mit diesem Buch, dass noch einmal drei Motive in schärfster Deutlichkeit zutage traten, die eigentlich die ganze Beziehung lebenslang zwischen der Tochter und dem Vater geprägt haben.

Heise: Drei Motive, welche sind das?

Priess: Ja, das ist das Stellvertretermotiv und das ist das Verstrickungsmotiv, das wird beide sehr, sehr deutlich, eigentlich sofort mit dem ersten Satz, und dann, als dieser Herr in Venedig sagen wir mal diese Beziehung abrupt abbrechen lässt, eben auch das Verlassenheitsmotiv. Also diese drei Motive werden in dieser reaktiviert, sage ich mal.

Heise: Das Verstrickungsmotiv, das ist ja schon diese Geschichte, die Sie da auch erzählen, diese fiktionale Geschichte, ist eben so eine Verstrickung, denn dieser Mann hat eventuell etwas im Leben von Max Frisch eine große Bedeutung. Das gibt es auch noch mal an einer anderen Stelle in Ihrem Leben, das kann man auch in dem Buch nachlesen: Ihre erste Liebe, wenn ich mich richtig erinnere, war der Sohn auch einer Beziehung von Ihrem Vater Max Frisch, auch wieder hier so eine Verstrickung.

Priess: Ja, und da finde ich eben auch wieder interessant, also ich hätte das nicht aufgenommen bei mir in meinem Buch, wenn er das - der Vater, also der Max Frisch - das nicht selber auch verarbeitet hätte. Also erlaube ich mir, das hier auch wieder aufzunehmen und derartige Verstrickungen gab es viele und gibt es immer weiter, und jetzt natürlich in dieser Venedig-Geschichte ganz krass. So wie es dort geschildert wird, wäre das die Begegnung der Tochter von Max Frisch mit einem ehemaligen möglichen Geliebten von der Ingeborg Bachmann, die zu jener Zeit mit meinem Vater ein Paar war in Rom und in Zürich.

Heise: Also sozusagen ein Konkurrent von Max Frisch, in Liebesdingen?

Priess: Ja nun , klar. Und ich meine, Max Frischs Eifersuchtsthema ist ja weidlich bekannt oder leidlich bekannt.

Heise: Das ist ja eine erstaunliche Konstruktion, die Sie dann eben auch anwenden, die hätte Ihrem Vater wahrscheinlich auch ganz gefallen, literarisch gesehen?

Priess: Ja, also ich hab das ja dann ganz am Ende des Buches noch mal aufgenommen, was wäre, wenn ich ihm das noch erzählen könnte. Und die Konstruktion hätte ihm sicher gefallen, und aus dieser großen Distanz hätt's ihn natürlich interessiert und Wunder genommen. Und wahrscheinlich hätten wir dann gelacht, kann man sich vorstellen, eben über die - dort im Text heißt es - über die Unüberbietbarkeit der realen Verstrickungen, hinter denen ja doch immer die Imaginierten herhinken müssen. Es ist vielleicht jetzt anders herum gesagt eine Frage, ob das wirklich vielleicht zu viel der Verstrickung im Text ist, aber das wird die Rezeption dann zeigen, ob das überhaupt so funktioniert. Nun ja!

Heise: Das wird jeder selber lesen, genau. Heute erscheint es nämlich, das Buch "Sturz durch alle Spiegel". Ursula Priess, die Tochter von Max Frisch, setzt sich darin mit ihrer Vater-Tochter- oder Tochter-Vater-Beziehung auseinander. Sie ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Frau Priess, das Verlassensmotiv, Sie hatten das noch genannt. Das Verlassensmotiv, in der fiktionalen Geschichte tritt's ganz klar zutage: Der Mann ...

Priess: Und mittendrin.

Heise: ... verabschiedet sich. Ja.

Priess: Ja, verschwindet - verschwindet, und wie er später bei einem Telefonanruf sagt, aus Angst vor Verstrickung. Nun, da draus schließt diese Frau in Venedig, diese Tochter - die ja in dritter Person erzählt wird, diese Venedig-Geschichte, um jetzt von mir als Autorin ein bisschen Distanz dazu zu bekommen - ja, verschwindet, ziemlich abrupt, und sofort fällt bei dieser Tochter, die dann alleine in Venedig steht, natürlich diese Verlassenheit des Kindes, als der Vater wegging. Das ist natürlich ein Motiv, was viele haben, die hierzulande in Deutschland, selbstverständlich auch viele von meinen Freundinnen und Freunden, Väter, die im Krieg geblieben sind, aber alle anderen auch, natürlich auch alle Scheidungs- und sonstigen Trennungskinder, also ein Motiv, was weit verbreitet ist.

Nun ist es eben aber in dieser Rahmenerzählung diese Kombination, was zwingend diese Neusichtung oder diese Bestandsaufnahme eben zwingend notwendig macht. Und Sie fragten am Anfang: Warum jetzt? Nun, eben weil es einen äußeren Anlass gab, den man vergleichen kann mit diesem Venedig-Ereignis, wo eben diese drei Motive zusammen auftraten. Darum - das ist natürlich nur die private Seite - sah ich mich gezwungen, es zu tun jetzt, mich meiner Beziehung zum Vater stellen, obwohl ich ja eigentlich irgendwie doch gelebt hatte bis dahin.

Heise: Gelebt eben auch mit dieser Vergangenheit, mit diesem Verhältnis.

Priess: Ja nun, aber man verdrängte ja auch oder hat dann ein festes Bild. Der Vater ist natürlich der Schuldige, was ja auch bequem ist, so zu leben, wenn ...

Heise: Wobei es in dem Buch um Schuld ja gar nicht geht.

Priess: Nee, nee, eben, und das ist dann ja auch das für mich Interessante gewesen: Wie kann ich das auflösen, eine Form zu finden, um nicht wieder ein Bild meinerseits herzustellen? Das war natürlich der Ansatz, der mich wirklich sehr gelockt hat. Das ist dann vielleicht auch das, was am Buch interessieren kann: Wie kann es möglich sein, von einer Person, die nicht fiktional ist, von einer realen und außerdem einer derart bekannten, wie der Max Frisch, namentlich zu erzählen, das überhaupt zu wagen? Wie ist es möglich und sogar mit seinen Mitteln, etwas anderes zu machen, als was der Vater gemacht hat?

Heise: Sie schildern in Ihrem Buch ja auch sehr intensiv die sehr anrührenden und sehr persönlichen Begegnungen gegen Ende seines Lebens. Also Sie haben, nachdem Sie den Kontakt abgebrochen hatten, gab es ein Wiederaufleben und eine ja auch intensive Auseinandersetzung, auch weiterhin mit Streitigkeiten, mit Auseinandersetzungen, mit heftigen Auseinandersetzungen oder Abwendungen. Aber diese Fragen, die Sie ja offenbar bisher bewegen, bis zu diesem Zeitpunkt bewegen, die haben Sie nicht stellen können, dieses Dargestellt-Werden als Objekt, an Ihren Vater direkt?

Priess: Nein, das habe ich, glaube ich, so in dem Text mehr oder weniger deutlich gesagt, es war mir nicht möglich, diese Fragen. Da waren Grenzen zwischen uns. Es gab dieses Problem, was da auch benannt wird: Ursel, die öffentliche Figur, das ist und bleibt dein Problem.

Heise: Hat er zu Ihnen gesagt?

Priess: Das hat er zu mir gesagt, und wir haben das nie wirklich besprechen können, nein, haben wir nicht.

Heise: Ab heute übergeben Sie Ihre "Bestandsaufnahme", so heißt es im Untertitel, "Der Sturz durch alle Spiegel - Eine Bestandsaufnahme", die übergeben Sie jetzt der Öffentlichkeit. Da liest es ja wieder jeder auf seine Art. Fällt Ihnen das schwer?

Priess: Nein, es fällt mir nicht schwer. Ich bin ungeheuer neugierig darauf, wie es gelesen wird. Ich weiß natürlich, dass es ein irres Wagnis, ein literarischer Versuch der Bestandsaufnahme. Es ist eben kein Erinnerungsbuch, ist kein Fotoalbum, hier war dies und da war das und ach, das war auch noch ganz nett oder das war scheußlich oder ... Es ist auch keine Verurteilung, ich richte nicht. Es ist die private Seite, aber die Form dafür zu finden, die hat mich schon sehr gereizt. Und ich bin einfach furchtbar neugierig und gespannt, natürlich auch sehr aufgeregt, ob das so angenommen wird, dass da eine neue Form gesucht wird oder vielleicht probiert wird. Ja, darum habe ich das gewagt.

Heise: Seien Sie gespannt auf das Buch. Heute erscheint es. "Sturz durch alle Spiegel" von Ursula Priess, heute im Ammann Verlag. Frau Priess, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch!

Priess: Ich danke Ihnen auch!