Den Kontrollverlust erfahren
05:32 Minuten
Ein Oldenburger Projekt simuliert in einem Erlebnisparcours die Symptome von Demenz. Unsere Reporterin Felicitas Boeselager hat den Selbstversuch gewagt und viel gelernt - zum Beispiel, dass Humor ein wichtiger Schlüssel für mehr Verständnis ist.
"Erna liest die Zahlen auf dem Wecker im Schlafzimmer, 2:26 Uhr. Erna versteht nicht, was das bedeutet. Sie liegt im Bett, den Haushaltskittel hat sie noch an, sie ist hellwach."
Erna Müller gibt es nicht. Aber es könnte sie geben. Eine alte demente Frau, die das Gefühl für Zeit und Raum verloren hat. In den nächsten drei Stunden bin ich nicht mehr Felicitas, sondern Erna. Ich stehe mit 30 anderen Menschen im Senioren- und Pflegestützpunkt in Oldenburg, um an insgesamt 13 verschiedenen Stationen ein Gefühl für Ernas Leben zu bekommen. Aufstehen, Anziehen, Essen, Einkaufen, Schlafengehen.
"Für Menschen, die mit Demenzerkrankten leben, arbeiten, sie pflegen, mit ihnen umgehen sollen, soll es ein Erfahrungsbereich sein, wo sie merken, wie fühlt man sich, wenn man in dieser Form an seine Grenzen kommt, um aus dieser Empathiefähigkeit heraus, vielleicht einen anderen Umgang zu finden", sagt Katja Bunge Köpping vom Senioren- und Pflegestützpunkt in Oldenburg. Wenn ich den anderen Teilnehmern hier bei ihren Aufgaben zuschaue, muss ich heimlich lachen. Sieht nicht besonders geschickt aus, wie sie sich hier anstellen.
Schwieriger Selbstversuch
Aber dann bin ich selbst dran und muss mit dicken Handwerkerhandschuhen einen Haushaltskittel anziehen und ihn zuknöpfen. Dabei soll ich, nur um mich zusätzlich verwirren, bis 36 zählen.
Demente vergessen häufig, wie alltägliche Dinge funktionieren: Sie wissen dann zum Beispiel nicht mehr, dass ein Knopf in ein Knopfloch muss oder wieso sie gerade einen Kittel anhaben. "24, äh nein, 28, ich kann nicht mehr zählen", sagte ich und schwitze, die Zeit ist längst um. Aber der Ehrgeiz packt mich, ich gebe erst auf, als alle Knöpfe zu sind.
Eine der anderen Teilnehmerinnen liest mir jetzt über 20 verdrehte Begriffe vor, wenn ich sie erkenne, dann muss ich sie beschreiben und mir merken: "Binderraten" - "äh, das isst man sonntags mit einer braunen Sauce" - "Hockentrefe" - "Keine Ahnung" - "Lutzpappen" - "Ah, das braucht man, wenn die Wohnung dreckig ist." Am Ende dann vollständig wieder aufzählen. Das klingt eigentlich nicht so schwer, ist es aber. Und simuliert das Gefühl, die Bedeutung einfacher Begriffe nicht mehr zu erkennen. Dementen kommen diese oft so fremd vor wie uns ein verdrehtes oder durchgewürfeltes Wort.
Spiegelverkehrtes Lesen
Als nächstes muss ich mir einen ewig langen Einkaufszettel inklusive Preise merken, ihn dann aufschreiben und den Gesamtpreis errechnen. Allerdings gibt es noch einen kleinen Twist: Stifte und Einkaufszettel liegen in einer Holzbox, am hinteren Ende der Box ist ein Spiegel angebracht. Ich kann meine eigenen Hände nur durch den Spiegel sehen, so muss ich jetzt versuchen zu schreiben. "Wir malt man nochmal ein S? Wie malt man ein S? Also, wenn ich jetzt die Augen zumachen würde, dann würde es sofort gehen." Ich klopfe frustriert auf die Box.
Durch den Spiegel scheint meine Hand ein Eigenleben entwickelt zu haben: "Mann, ich kann nicht glauben, dass mir meine Hand nicht mehr gehorcht, das kann ja wohl nicht so schwer sein, das geht immer in die falsche Richtung." Erst als ich die Augen schließe, also schummle, geht es.
Schummeln ist übrigens typisch für Demente, erklärt mir Katja Bunge Köpping: "Gerade wenn sie anfänglich erkrankt sind, ihnen es sehr bewusst ist, wo sie jetzt ihre Defizite haben und dann die Angst, es könnte jemand merken, da wird ganz viel geschummelt." Damit wir mit unserem Scheitern nicht alleine sind, wird jede Station betreut. Nach jeder Aufgabe müssen wir beschreiben, wie es uns geht. Die eigenen Gefühle zu reflektieren, hilft Demente besser zu verstehen. Ich kann jetzt zumindest nachempfinden, warum sie sich manchmal schämen oder aggressiv werden.
Rauschender Kopf
Ich sage: "Ja, das ist scheiße, man lacht zwar so, weil es so skurril ist, dass man das nicht kann, aber in Wirklichkeit ist es natürlich irgendwie unglaublich, dass man sich nicht vertrauen kann und man kommt aus der Situation nicht raus. Also ich komme aus der Situation raus, weil ich meine Hand aus der Kiste und den Stift liegen lassen kann."
Nach drei Stunden im Leben von Erna Müller rauscht mein Kopf, ich habe Wortfindungsschwierigkeiten und will am liebsten nur noch schlafen. Trotzdem habe ich auch viel gelacht während des Parcours. Am Anfang habe ich mich dafür geschämt.
Katja Bunge Köpping hat mich aber beruhigt: "Also, das ist ein ganz wichtiger Schlüssel in der Arbeit mit Menschen, die Einschränkungen haben, dass man auch mit Humor da rangehen kann, dass man nicht sein eigenes Bild von der Welt auf wen anderes überstülpt, sondern vielleicht lernt, auf die Welt des anderen einzugehen."
Informationen zum Projekt "Hands on Dementia"