Der Tag ist voller Risse und Löcher
55:16 Minuten
Viele Menschen fürchten sich vor der Volkskrankheit Demenz. Die Literatur zeichnet jedoch ein überraschend vielschichtiges Bild des Leidens und legt den Gesunden nahe, ihr Verhalten zu überdenken.
Demente sind durchaus Hauptpersonen jener Bücher, die sich mit der Krankheit des Vergessens beschäftigen. Sie sind jedoch nur in seltenen Fällen zugleich ihre Erzähler. Die Herausforderung für die Autoren ist immens.
Der Koreaner Kim Young-ha hat sie angenommen. In "Aufzeichnungen eines Serienmörders" lässt er einen 70-jährigen Serienmörder erkranken.
Gegenwart wird unsicher
Byongsu Kim hat sich schon vor einiger Zeit aufs Altenteil zurückgezogen: "Meinen letzten Mord habe ich vor fünfundzwanzig Jahren begangen. Oder waren es sechsundzwanzig?"
Byongsu Kims Tochter scheint bedroht. Um sie zu schützen, will der pensionierte Tierarzt, der Gedichte schreibt, sich für Buddhismus interessiert, Montaigne liest und klassische Musik hört, noch ein letztes Mal zuschlagen. Die Zeit drängt, denn sein Gedächtnis beginnt, ihn im Stich zu lassen. Ihm droht sogar sein blutiges Vorhaben zu entfallen:
"Nach und nach schwinden die Wörter. (…) Alles entgleitet. Morgens lese ich die Zeitung, von vorne bis hinten. Wenn ich damit fertig bin, habe ich das Gefühl, mehr vergessen als gelesen zu haben. Ich lese trotzdem. Beim Lesen jedes Satzes ist mir, als baute ich mit Gewalt eine Maschine zusammen, zu der mir wesentliche Teile fehlen."
Immer unsicherer wird die Gegenwart. Vergangenheit und Träume dringen in sie ein. Dem Erzähler ist, wie nicht selten in moderner Literatur, nicht zu trauen; auch er traut sich nicht mehr.
Neues Genre
Hat Byongsu Kim wirklich eine Tochter? Ist deren Leben wirklich bedroht? Ist der Verdächtige ein Mörder oder ein Polizist?
"Aufzeichnungen eines Serienmörders" gehört zu einer wachsenden Zahl von Texten, die sich mit der Krankheit des Vergessens beschäftigen. Das relativ neue Genre besitzt sogar schon einen Klassiker: Arno Geigers "Der König in seinem Exil".
Wie bei Geiger sind es meist Angehörige, die die Erkrankung eines Verwandten schildern. Jutta Rosenkranz hat für ihr Feature zur Demenz auch Lyrik und Dramatik gefunden.
Sie zitiert etwa aus dem Theaterstück "Gemeinsam ist Alzheimer schöner" des österreichischen Schriftstellers Peter Turrini diesen Dialog eines Ehepaars, das seit 40 Jahren verheiratet ist:
Zitatorin: Kannst du mir helfen?
Zitator: Ich? Dir? Womit kann ich dir helfen?
Zitatorin: Mit der Zahnpasta. Ich schaffe das Zähneputzen nicht mehr. Es ist einfach zu viel auf einmal. Ich lege die Zahnbürste bereit, mache den Verschluss der Zahnpasta auf, schütte ein paar Tropfen Mundwasser ins Glas und plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich die Zahnbürste hingegeben habe.
Zitator: Das ist ganz normal, dass man in unserem Alter den Überblick verliert. Zähneputzen ist ja auch eine riesige Sache, eine Summe von Tätigkeiten, von Handgriffen. In der Jugend war das ganz einfach. Da hat man alles auf einmal gemacht. (…) Du musst beim Zähneputzen jeden Handgriff extra machen und dazwischen immer eine kleine Pause einlegen. Du nimmst die Zahnpasta zur Hand.
[Kurze Pause]
Zitatorin: Gut.
Zitator: Du öffnest den Verschluss der Zahnpasta.
[Pause]
Zitatorin: Gut.
Zitator: Du drückst die Zahnpasta auf die Borsten der Zahnbürste.
[Pause.]
Zitatorin: Gut.
Zitator: Du führst die Zahnbürste mit der Zahnpasta langsam zum Mund.
Zitatorin: Nicht gut. Vorher gebe ich das Mundwasser in den Becher.
Zitator: Also gut. Du gibst das Mundwasser vorher in den Becher. Aber dann führst du die Zahnbürste mit der Zahnpasta zum Mund.
Zitatorin: Und die Prothese?
Zitator: Du hast recht. Man hätte vorher die Prothese herausnehmen müssen, die muss ja händisch gereinigt werden.
Zitatorin: Siehst du, ich habe ja gesagt, dass Zähneputzen nicht so einfach ist. Am Ende hat man dann die Zahnpasta im Haar.
Zitator: Das macht nichts. Das Weiß der Zahnpasta passt sehr gut zu deinen schönen weißen Haaren.
(Peter Turrini: "Gemeinsam ist Alzheimer schöner. Theaterstück"; Haymon Verlag, Innsbruck 2020
Zitator: Ich? Dir? Womit kann ich dir helfen?
Zitatorin: Mit der Zahnpasta. Ich schaffe das Zähneputzen nicht mehr. Es ist einfach zu viel auf einmal. Ich lege die Zahnbürste bereit, mache den Verschluss der Zahnpasta auf, schütte ein paar Tropfen Mundwasser ins Glas und plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich die Zahnbürste hingegeben habe.
Zitator: Das ist ganz normal, dass man in unserem Alter den Überblick verliert. Zähneputzen ist ja auch eine riesige Sache, eine Summe von Tätigkeiten, von Handgriffen. In der Jugend war das ganz einfach. Da hat man alles auf einmal gemacht. (…) Du musst beim Zähneputzen jeden Handgriff extra machen und dazwischen immer eine kleine Pause einlegen. Du nimmst die Zahnpasta zur Hand.
[Kurze Pause]
Zitatorin: Gut.
Zitator: Du öffnest den Verschluss der Zahnpasta.
[Pause]
Zitatorin: Gut.
Zitator: Du drückst die Zahnpasta auf die Borsten der Zahnbürste.
[Pause.]
Zitatorin: Gut.
Zitator: Du führst die Zahnbürste mit der Zahnpasta langsam zum Mund.
Zitatorin: Nicht gut. Vorher gebe ich das Mundwasser in den Becher.
Zitator: Also gut. Du gibst das Mundwasser vorher in den Becher. Aber dann führst du die Zahnbürste mit der Zahnpasta zum Mund.
Zitatorin: Und die Prothese?
Zitator: Du hast recht. Man hätte vorher die Prothese herausnehmen müssen, die muss ja händisch gereinigt werden.
Zitatorin: Siehst du, ich habe ja gesagt, dass Zähneputzen nicht so einfach ist. Am Ende hat man dann die Zahnpasta im Haar.
Zitator: Das macht nichts. Das Weiß der Zahnpasta passt sehr gut zu deinen schönen weißen Haaren.
(Peter Turrini: "Gemeinsam ist Alzheimer schöner. Theaterstück"; Haymon Verlag, Innsbruck 2020
(pla)
Das Manuskript der Sendung können Sie hier herunterladen.