Demenz-Pflege

Mobilisierung statt Fixierung

Pflegerin Nora Moatassimi mit Heimbewohnerin Anni. Zimmer mit Bett und zwei Matratzen auf dem Boden, in lila gehalten, auf einer Matratze liegt eine alte Frau, eine jüngere Frau beugt sich über sie.
Pflegerin Nora Moatassimi mit Heimbewohnerin Anni. © Barbara Schmidt-Mattern
Von Barbara Schmidt-Mattern |
Demenzkranke Menschen sind besonders sturzgefährdet. Deswegen ist es in vielen Pflegeheimen üblich, ihre Bewegung einzuschränken. Dazu gehören der Entzug von Rollatoren und die Bettfixierung. Ein Heim in Bonn setzt auf Alternativen.
Zusammengekauert in Embryohaltung liegt Anni, 83 Jahre alt, mit einem Teddy im Arm auf ihrer fliederfarbenen Matratze und wacht langsam auf. Pflegerin Nora Moatassimi berührt sachte ihren Arm:
"Gut geschlafen? Es gibt gleich Mittagessen!"
Vor fünf Jahren ist die demenzkranke alte Dame, die alle hier nur Anni nennen, noch nach China gereist und Fahrrad gefahren. Jetzt erkennt ihr eigenes Spiegelbild nicht mehr und liegt meistens schlummernd im Bett - oder auf einer der beiden Matratzen daneben.
"Manchmal hat man das Gefühl, sie spürt diesen Bodenkontakt, und das gibt ihr irgendwie Sicherheit, Nähe, Wärme..."
Annis Hand mit den elegant rosa lackierten Nägeln liegt ausgestreckt unter einer bunten Decke. Fast das gesamte Zimmer, etwa 15 Quadratmeter groß, ist ein einziges Matratzenlager - früher war Anni hier allein ans Bett gebunden, fixiert und ständig sturzgefährdet:
"Dementsprechend haben wir dann mit der Tochter gesprochen und haben dann überlegt, wir bauen ihr ein Pflegenest und gestalten ihr das Zimmer so, wie sie auch früher gelebt hat."
Mit Bildern, Fotos und einer geblümten Tischdecke: alles aus einer - für Anni - anderen Zeit. Das Bonner Pflegeheim Theresienau ist auf Demenz-Kranke spezialisiert, eine Patientengruppe, die besonders sturzgefährdet ist und deshalb oft fixiert wird, erklärt Heimleiter Michael Thelen. Dabei geht es längst nicht nur um Bettgitter:
Bauchgurte und gefesselte Gliedmaßen
"In dem Moment, in dem ich einem Menschen seine Möglichkeit nehme, sich willentlich wegzubewegen, handelt es sich schon um eine Fixierung. Das kann im Einzelfall auch das bewusste Wegnehmen, oder des Rollstuhls oder des Rollators sein, oder ein zu niedriger Sessel, aus dem er selbst nicht mehr hochkommt."
Bauchgurte und gefesselte Gliedmaßen waren lange Standard in deutschen Pflegeheimen, teilweise bis heute. In Bonn hingegen suchten Heime, Betreuungsbehörden und Juristen gemeinsam nach Alternativen. Jede einzelne Genehmigung sei belastend gewesen, sagt Amtsrichterin Gabriela Wester. Denn die Fixierungen spüren die Patienten nicht nur körperlich:
"Das Eingesperrtsein, das wirkt sich auf die Psyche auch in der Weise aus, dass Depressionen entstehen. Das ist die Kriegsgeneration, die natürlich auf Freiheitsbeschränkungen unter Umständen damit reagiert, dass alte Erinnerungen hochkommen und alte Traumata wieder wach werden."
Noch immer stelle die Industrie kein Pflegebett ohne Gitter her, sagt Heimleiter Michael Thelen. Ein Zustand, der ihm so im Magen lag, sodass er und sein Team in den letzten fünf Jahren komplett umgerüstet haben. Kein einziger Bewohner wird in Theresienau mehr fixiert.
"Da bin ich glücklich drüber,"
sagt Gertrud Meyers. Die 89-jährige Heimbewohnerin ist nicht selbst betroffen, aber als ehemalige Krankenschwesterin weiß Gertrud Meyers, was Fixierungen bedeuten:
"Ich hab andere Zeiten erlebt, als Krankenschwester. Ich hab gesagt, das ist jetzt, dass der Mensch sich frei bewegen kann, und das ist viel, viel wert!"
"Freiheitsentziehende Maßnahmen müssen geächtet werden"
Weil Theresienau bundesweit Vorreiter ist, kommt Nordrhein-Westfalens Justizminister Thomas Kutschaty an diesem sonnigen Vormittag zu Besuch nach Bonn. Auf die Entwicklung in seinem Bundesland ist er stolz:
"Die Zahl der richterlichen Fixierungen und Genehmigungen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen ist in den letzten vier Jahren um 40 Prozent zurückgegangen. Das hat kein anderes Bundesland so geschafft."
Das Justizministerium bietet Richtern in NRW inzwischen Fortbildungen zum Thema an. Hinzugelernt haben auch die Pfleger. Statt die Fixierungen zu überwachen, müssen sie jetzt die Heimbewohner besser beobachten, die Arbeit sei also nicht mehr, sondern nur anders geworden, sagt Heimleiter Michael Thelen:
"Im Heim muss eine Kultur entstehen, in der das Thema freiheitsentziehende Maßnahmen sozusagen geächtet wird. Und es muss eine Kultur entstehen, in der das von der obersten Leitung aus so auch vorgegeben und -gelebt wird, denn es ist ja so, dass die Mitarbeiter auch die Unterstützung der Leitung brauchen, wenn sie andere Wege gehen."
Michael Thelen erzählt zum Abschied noch von einer alten Dame, die mit ihrem Rollator immer stürzte, wenn sie durch die Brandschutztür wollte. Ihr Sohn habe dann eine Fixierung gefordert, doch der Heimleiter bat stattdessen zum Gespräch:
"Sie durfte das dann, der Sohn hat dem zugestimmt, dass wir nicht fixieren. Und sie hat noch ein gutes halbes Jahr gelebt, ist dann irgendwann gestorben. Und der Sohn kam zu mir und sagte: Wir haben es genau richtig gemacht. Meine Mutter durfte die letzte Zeit ihres Lebens so leben, wie sie es immer getan hat. Sie ist immer gelaufen, immer spazieren gegangen, und das durfte sie hier. Und das war für mich der Punkt, wo ich gedacht habe, wir machen's richtig!"
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