Demenz und Fürsorge

"Opa hat abgebaut, meine Kinder haben dazugelernt"

Illustration einer Mehrgenerationenfamilie.
Wie eine junge Familie die Pflege eines Familienangehörigen mit Demenz meistert, erzählt Josepha im Rückblick. © iStock / Getty Images Plus
Von Barbara Felsmann |
Als ihr Großvater zunehmend Hilfe braucht, zieht Josepha mit ihrem Partner und den zwei Kindern zu ihm. Die Familie lebt in einer 2,5-Zimmer-Wohnung, kämpft mit finanziellen Problemen. Trotzdem erlebt sie die gemeinsame Zeit als Bereicherung.
Als Opa Karl einmal nicht ans Telefon geht, obwohl verabredet, beschließt seine Enkelin Josepha, die 400 Kilometer entfernt von ihm wohnt, mitsamt ihrer Familie in seine Nähe zu ziehen. Karl baut seit ein paar Jahren immer mehr ab. Ein paar Mal ist er schon umgekippt, musste ins Krankenhaus, beim TÜV für sein Auto oder der Steuererklärung braucht er schon seit geraumer Zeit Hilfe.
Karl ist zu dem Zeitpunkt fast 90 und lebt allein in Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern – mittlerweile schon mehr als zehn Jahre. Seine Frau, Josephas Großmutter, ist bereits gestorben. Josepha lebt mit Mann und Kindern in Niederschöna in Sachsen.
Die damals 32-Jährige hat Kultur- und Medienmanagement studiert und arbeitet als Selbstständige in verschiedenen Projekten im Kulturbereich. Ihr Sohn Baldur ist drei Jahre alt, Tochter Rosa ein Dreivierteljahr. Ihr Mann Reinhardt ist in der Elternzeit. Josepha hat Lust auf Veränderung, vor allem beruflich. 

Neuanfang mit Opa Karl in Neubrandenburg

Nach dem Entschluss, in seine Nähe zu ziehen, geht alles ganz schnell. Josepha tritt Anfang 2017 eine Stelle als Leiterin der Jugendkunstschule in Neubrandenburg an. Ihre Familie zieht in eine Wohnung in der Nähe vom Großvater.
Illustration einer Person mit Gehstock und einer sie stützenden jungen Frau.
Es kommt zwar alles anders als geplant, dennoch möchte Josepha die Zeit mit ihrem Opa Karl nicht missen.© iStock / Getty Images Plus
Josepha liebt ihren Großvater. Schon damals wollte sie immer neben ihm sitzen, wenn er zu Besuch kam. Als 15-Jährige nahm er sie mit auf eine Reise nach Australien, die nachhaltige Eindrücke hinterließ. Von ihm fühlt sie sich von klein auf ernst genommen. Karl schenkt ihr viel Aufmerksamkeit, Zuwendung und gibt ihr Raum, sich zu entfalten. Und als sie einen Freund hatte, der deutlich älter war als sie, hat Karl das nicht groß gestört.
Er habe den Menschen gesehen und sich nicht für gesellschaftliche Konventionen interessiert, sagt sie: „Mein Opa, der guckt, wer ich bin, dem ist es wichtig, dass es mir gut geht, und das ist das, was zählt. Das habe ich wirklich sehr an ihm geschätzt.“
Josepha ist ein Familienmensch. Sie selbst ist in einer Familie aufgewachsen, in der Zusammenhalt und füreinander Einstehen eine große Rolle spielen. Ihre Eltern, die zu diesem Zeitpunkt noch voll berufstätig sind und in Dresden leben, pflegen bereits die Eltern von Josephas Vater, sind also voll ausgelastet. Deswegen kümmert sich Josepha mit ihrem Mann Reinhardt um Opa Karl.

Natürlich kommt alles anders als geplant

„Als wir dort hingekommen sind, war meine Vorstellung: Okay, zwei-, dreimal die Woche essen wir mit meinem Opa Abendbrot und gucken, dass er ordentlich was auf dem Tisch hat. Aber dann waren wir bei ihm und es hat sich herausgestellt, dass er doch viel mehr Hilfe braucht.“
Karl wünscht sich, dass sie bei ihm übernachten. Schon bald geben sie die zweite Wohnung in Neubrandenburg auf. Zu fünft wohnen sie nun in einer 2,5-Zimmerwohnung. Das Wohnzimmer ist für alle da, in einem Zimmer schläft der Großvater, in dem ganz kleinen Josepha und ihre Familie. Sie haben nur die nötigsten Sachen in Neubrandenburg, alles andere bleibt in Niederschöna. 
Illustration einer Person im Rollstuhl, eines Pflegers und einer Angehörigen.
Bei der Pflege von mit an Demenz Erkrankten gibt es auch viele schöne Momente im Chaos.© iStock / Getty Images Plus
Trotz der Enge wird ihr Leben von viel Freude bestimmt. Josepha und auch Reinhardt ist es wichtig, dass sie viel zusammen unternehmen, in der Natur sind, gemeinsame Erlebnisse und viel Spaß dabei haben. Sie fahren mit Großvater Karl und den Kindern in sein Ferienhaus nach Granzin, in seinen Garten oder an die Ostsee.

Opa, der Schlangenmensch

Josepha erinnert sich an viele schöne Momente, wo alle fröhlich und ausgelassen sind, wo es allen einfach gut geht. Sie erzählt von einem Ausflug mit Karls Motorboot. Als der mittlerweile Über-90-Jährige durch ein Geländer am Steg auf dieses Boot krabbelt, wird er von einem vorbeigehenden Ehepaar beobachtet. Völlig verdutzt kommentiert es: „Sie sind ja ein richtiger Schlangenmensch!“ Alle lachen. Opa Karl macht alles mit, freut sich und ist einfach dabei.
Überhaupt wird Großvater Karl in den Familienalltag miteinbezogen, er soll nicht abseitsstehen. Josepha ist da sehr pragmatisch und fantasievoll. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit findet sie immer Wege, wie sie die Interessen aller unter einen Hut bekommt. So auch beim Kartoffelnschälen:
„Anfangs hat er sich seine Schüssel, seine Kartoffeln zusammengesammelt, hat Kartoffeln geschält. Später hat man schon gemerkt: Okay, jetzt muss ich ihm alles hinstellen, jetzt muss ich ihm das Messer in die Hand drücken, jetzt muss ich ihm erklären: ‚So, Opa, jetzt musst du die Kartoffeln schälen.’ Dann hat er das auch sehr glücklich gemacht. Dann musste ich ihm auch wieder alles wegnehmen, bevor er anfing, die Kartoffeln roh aufzuessen – und irgendwann ging es einfach nicht mehr. Aber das kriegt man mit der Zeit einfach mit.“

Karl gehört ganz selbstverständlich zur Familie

Tagsüber kümmert sich Reinhardt hauptsächlich um Karl. Josepha verdient das Geld mit ihrer 30-Stunden-Stelle. Für Reinhardt ist das kein Problem. Er nimmt Karl ganz selbstverständlich als Teil seiner Fürsorge in der Elternzeit auf.
Baldur und Rosa gehen in die Kita. Wenn Josepha von der Arbeit kommt, übernimmt sie die Kinder und den Großvater. Und während Reinhardt in der Küche kocht und seinen Gedanken nachgehen kann, spielen die vier. Opa Karl gehört zur Familie, für Josepha gefühlt als das „dritte Kind“.
Es gab immer wieder herrliche Situationen“, erzählt Josepha im Rückblick, zum Beispiel „wie mein Opa meinem Sohn zeigt, wie man Sprotten isst, also wie man dort den Kopf abbeißt. Oder irgendwann sind sie auch mal zusammen losgezogen und einkaufen gegangen und waren superstolz, als beide wieder auftauchten und ganz viele unnütze Sachen eingekauft hatten.“  

Es gibt viele schöne Momente im Chaos

Josepha genießt diese Momente, wenn die Kinder mit ihrem Uropa einträchtig spielen. Wenn auch der Alltag manchmal chaotisch und der Haushalt nicht immer tipptopp ist – das Ziel, gemeinsam Zeit zu verbringen, hat bei Josepha oberste Priorität. Allmählich verändert sich dann das Verhältnis zwischen Uropa und Urenkel. Josepha erinnert sich:
„Am Anfang, als wir dort hingekommen sind, konnten meine Kinder noch nicht lesen, mein Opa konnte das alles noch, hat ihnen vorgelesen. Und ganz zum Schluss hat dann Baldur meinem Opa vorgelesen. Man hat dann gemerkt: Mein Opa hat eben immer weiter abgebaut, meine Kinder haben dazugelernt. Irgendwie gab es eine Verschiebung.“
Mit seiner zunehmenden Hilfsbedürftigkeit gehen die Kinder ganz selbstverständlich um. Da wird wenig infrage gestellt, alles angenommen.
„Gerade Baldur hat zunehmend Verantwortung für ihn übernommen“, erzählt Josepha. Wenn er zum Beispiel mitbekommen hat, dass sein Opa nicht mehr wusste, wo er hinmusste oder er nicht mehr mitkam, hat Baldur ihn einfach an die Hand genommen. „Da ist er wirklich sehr, sehr gewachsen“, resümiert Josepha. „Manchmal habe ich gedacht, mein fünfjähriger Sohn ist irgendwie kompetenter als Verwandte, die ihn nicht so oft sehen, und Erwachsene.“

Die Zeit mit Karl schweißt das Paar zusammen

Josepha, Reinhardt und die Kinder meistern zusammen mit dem Großvater das neue Leben. Obwohl sich die Demenz immer mehr bemerkbar macht. Drei Jahre leben sie nun schon zusammen. Das geht auch deswegen so gut, weil Reinhardt Josepha erheblich unterstützt, sie nicht allein lässt mit all den Problemen. Sie sind als Paar sehr verbunden. Mal steckt er zurück, mal Josepha. 
Illustration einer älteren Person an einem Tisch, der von einer jüngeren das Essen gereicht wird.
An Demenz Erkrankte verlernen immer mehr Alltägliches, wie selbständiges Essen.© iStock / Getty Images Plus
Dann aber kommt das Jahr 2020 und damit die Pandemie. Im März beginnt der erste Lockdown. Für Josepha und ihre Familie eine große Belastung. Fünf Menschen in dieser kleinen Wohnung. Schule, Kita und sogar der Spielplatz sind geschlossen – dazu der Großvater, der immer mehr durcheinanderkommt. Josepha und Reinhardt mieten sich eine Wohnung im Haus, in dem der Großvater wohnt, einfach um dort abwechselnd zu übernachten und um mal durchschlafen zu können.

Die Pandemie wird zur Belastung

Hilfe von außen ist in dieser Zeit, wo sich alle isolieren müssen, nicht zu erwarten. Dann kommt der zweite Lockdown und die gesamte Familie zieht in das Ferienhaus von Karl nach Granzin. Dort erleben sie noch einmal eine sehr schöne Zeit. Doch dem Großvater geht es immer schlechter.
Nicht nur schreitet die Demenz fort, Karl wird auch inkontinent. Josepha und Reinhardt sind mit der Pflege des Großvaters und der Betreuung der Kinder zunehmend überfordert. Es gibt kaum eine Möglichkeit, der häuslichen Situation zu entfliehen, um mal Luft zu holen.
„Du hast die ganze Zeit das Gefühl: Ich brauche jemanden, der mich unterstützt. Es ist aber schwierig, jemanden zu finden. Es gibt keinen Babysitter, der einen dementen Mann und zwei Kleinkinder betreut“, erklärt Josepha. Sie funktioniert.
Doch nach wie vor haben alle mit den ständigen Lockdowns zu kämpfen. Unterstützung von außen, von Josephas Eltern oder von Verwandten, erhalten die beiden kaum. Das Familienklima leidet zunehmend unter der großen Belastung. Es bleibt kaum noch Zeit für Josepha und Reinhardt.

Karls Gesundheitszustand verschlechtert sich

Es gibt keine ruhige Nacht, Opa Karl kann auch am Tag nicht mehr allein gelassen werden, die Bedürfnisse der Kinder und des Großvaters sind kaum noch unter einen Hut zu bringen. Außerdem ist Josepha wieder schwanger und kann schwere Pflegeaufgaben nicht mehr übernehmen. Noch mehr bleibt an Reinhardt hängen.
Illustration einer Person in einem Pflegebett. Neben ihr steht ein Pfleger.
Mit fortschreitender Demenz verschlechtert sich auch der allgemeine Gesundheitszustand.© iStock / Getty Images Plus
Das Paar schreit sich gegenseitig an. Es ist überfordert. Und mit Karl wird auch alles immer schwieriger. Ein Ereignis in der Coronazeit bringt dann das Fass zum Überlaufen.
Als Josephas Elter ihr am Telefon lapidar mitteilen, dass sie ihre Schwestern über Himmelfahrt besuchen wollen, ist das zu viel. Sie fängt an zu weinen. Sie hatte sich gerade sechs Wochen intensiv um ihren Großvater gekümmert und noch nebenbei Homeschooling versucht. Josepha fühlt sich im Stich gelassen. Sie hat das Gefühl, dass weder ihre Pflege gesehen wird noch, dass sie hochschwanger ist.

Josepha bricht zusammen

Vor Corona war sie oft mit der Familie bei den Eltern in Dresden. Da konnten Josepha und Reinhardt mal ausspannen, weil sich die Eltern um Karl gekümmert haben, oder die Eltern sind nach Neubrandenburg gekommen und Josephas Familie konnte mal nach Niederschöna fahren, Freunde besuchen. Aber das ist nun durch Corona weggefallen – und Josephas Familie kommt ans Ende ihrer Kräfte.
Illustration einer Person im Rollstuhl, die von einer weiteren geschoben wird.
Irgendwann muss man auch als Familie einsehen, dass es ohne professionelle Hilfe von Pflegekräften nicht mehr geht.© iStock / Getty Images Plus
Josepha und Reinhardt geben die Verantwortung an Josephas Eltern ab und ziehen nun komplett in ihre Wohnung – zwei Etagen über der ihres Großvaters. Die Eltern bemühen sich um eine feste Pflege und engagieren Pfleger aus Osteuropa. Josepha besucht ihren Großvater fast jeden Tag, hat aber trotzdem mit widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen:
Das ist, wie wenn du dein eigenes Kind verstößt. Das tut mir jetzt noch weh. Ich habe es mir auch anders vorgestellt. Ich habe mir schon vorgestellt, dass ich bis zum Schluss mit meinem Opa zusammen bin.“

Das System ist gescheitert, nicht Josepha

Doch Josepha empfindet das nicht als persönliches Scheitern, eher als Scheitern der Familie, der Gesellschaft. Ihr Vorhaben hätte klappen können, wenn das System drumherum funktioniert hätte. Missen möchte sie die Zeit jedenfalls nicht.
Im August 2021 kommt Tochter Ylva zur Welt. Ein Jahr später zieht die nun fünfköpfige Familie zurück nach Niederschöna. Opa Karl zieht in ihre Nähe, zu Josephas Eltern nach Dresden. Ihr Vater, gerade im Ruhestand, übernimmt die Pflege. Im April 2023 stirbt Großvater Karl.
Fünf Jahre hat Josepha zusammen mit ihrem Partner Reinhardt den Großvater gepflegt. Sie würde es wieder machen: „Ich bereue überhaupt nichts. Das war wirklich eine sehr schöne Zeit und sehr bereichernd. Und, ja, das war gut für uns.“

Würdevolle Form des Alterns

Das findet Reinhardt auch. Er würde auf jeden Fall wieder die Pflege von Karl übernehmen, schon allein deshalb, „weil Karl es verdient hat“. Sie selbst haben intensiv Zeit mit Karl verbringen können, ihre Sicht auf die wesentlichen Dinge des Lebens hat sich geändert. Auch als Paar sind sie gestärkt aus dieser Zeit der Pflege gegangen, haben erfahren, dass sie gemeinsam solch eine Anstrengung durchstehen und meistern können.
Illustration einer älteren Person mit Gehstock, die von einer jüngeren gestützt wird.
Das Ziel ist, eine würdevolle Form des Alterns zu ermöglichen.© iStock / Getty Images Plus
Josepha möchte mit ihrer Geschichte Mut machen und anderen, die einen geliebten Verwandten pflegen, zeigen, dass diese Aufgabe viele berührende Erlebnisse mit sich bringt - und wie schön es sein kann, wenn Enkel und Großvater so viel Zeit miteinander verbringen. Für Josepha war das eine würdevolle Form des Alterns. So sollte es eigentlich immer laufen, sagt sie. Das wünscht sie sich auch für sich.
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