Keine Sorge um das alternde Deutschland
Alt werden sei heute für den Einzelnen völlig anders als noch vor 30 Jahren, sagt der Bevölkerungsforscher Norbert Schneider. Ein heute 75-Jähriger habe ungefähr die Leistungsfähigkeit eines 65-Jährigen vor drei Jahrzehnten.
"Wenn man sich die 60- bis 66-Jährigen anschaut, da sind heute 58 Prozent der Männer und 48 Prozent der Frauen erwerbstätig. Vor zehn Jahren noch war das eine kleine Minderheit." Der Bevölkerungsforscher Nobert Schneider hat deswegen mit Blick auf die alternde Gesellschaft in Deutschland wenig Sorgen. Bei der Altersarmut zeige sich, dass davon vor allem Menschen betroffen seien, die auch vor dem Rentenalter bereits einkommensschwach waren, sagte er im Deutschlandfunk Kultur. Schneider sieht keinen Grund für die Annahme, dass eine alternde Gesellschaft weniger innovativ ist. (gem)
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Die Deutschen sterben aus, mehr als einmal hat dieser Satz als Schlagzeile in der Zeitung gestanden. Inzwischen scheint der ganz dramatische Demografiewandel abgesagt worden zu sein, aber genauer wird man das ab heute auf dem achten Berliner Demografieforum diskutieren. Wie die aktuellen Zahlen tatsächlich aussehen, das weiß Norbert Schneider, der das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung* leitet. Guten Morgen, Herr Schneider!
Norbert Schneider: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Die Deutschen werden nicht unbedingt weniger, aber sie werden vor allem älter. Ist das jetzt eine gute oder schlechte Nachricht?
Schneider: Zunächst mal ist es eine Nachricht. Und die zu bewerten – und zu welchem Schluss man dabei kommt – hängt von der Position ab. Es ist weder eine gute, noch eine schlechte Nachricht, wenn man sagt, Bevölkerungen wachsen oder schrumpfen. Und ähnlich verhält es sich mit dem zunehmenden Alter.
Fakt ist: Wenn man die Bevölkerung in zwei Hälften teilt, also die eine Hälfte, die älter ist als dieses Alter und die andere, die jünger ist, dann wissen wir, dass dieses Median-Alter bei 45 Jahren liegt. Also, die Bevölkerung in Deutschland, die Hälfte davon ist älter als 45. Vor 30 Jahren lag dieses Alter noch bei 35. Also, das ist schon ein relativ dynamischer Anstieg. Aber es gibt keine empirischen Befunde dafür, dass Alterung zum Beispiel zu einem Verlust von Innovationskraft oder von Zukunftsfähigkeit oder wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft führt.
Welty: Das heißt, wir sehen nicht unbedingt alt aus, wenn wir älter werden?
Schneider: Wir sehen anders aus, aber nicht alt im negativen Sinne. Und alt werden, bedeutet ja auch heute, auf der individuellen Ebene, etwas völlig anderes als noch vor 30 oder 40 Jahren. Ein heute 75-Jähriger hat ungefähr die Leistungsfähigkeit eines 65-Jährigen vor 30 oder 40 Jahren.
Länger im Job
Welty: Eines der Schreckensszenarien in Bezug auf eine ältere Gesellschaft beruht auf der Annahme, dass eine ältere Gesellschaft vor allem eine ärmere Gesellschaft ist. Stimmt das?
Schneider: Das hängt natürlich von ganz vielen Faktoren ab. Oftmals, muss man sagen, dass das Wort der Altersarmut, die droht, insofern irreführend ist, als viele Menschen, die im Alter arm sind, auch schon vorher arm waren. Also, Altersarmut tritt in vielen Fällen nicht auf, nachdem man in Pension geht, sondern man war auch vorher schon einkommensschwach.
Das ist also ein Lebenslauf- und ein sozialstruktureller Effekt, das muss man berücksichtigen. Und das Zweite, was man sehen muss, Menschen verhalten sich heute im Hinblick auf ihre Erwerbstätigkeit völlig anders. Sie sind sehr viel länger erwerbstätig im Lebensverlauf als noch vor zehn Jahren. Zum Beispiel, wenn man sich die 60- bis 66-Jährigen anschaut, da sind heute 58 Prozent der Männer und 48 Prozent der Frauen erwerbstätig. Vor zehn Jahren noch war das eine kleine Minderheit.
Welty: Hängt das aber nicht damit auch zusammen, dass die Rente oft jetzt nicht mehr reicht?
Schneider: Manche davon arbeiten natürlich, weil sie das Geld brauchen. Viele arbeiten, weil sie arbeiten möchten. Ein wichtiger Faktor des demografischen Wandels ist, dass immer mehr Menschen immer besser gebildet sind – damit immer interessantere Jobs haben und ein Stück weit mit ihrer Erwerbstätigkeit auch Freude und Lebenssinn verbinden und nicht nur des Geldes wegen länger arbeiten möchten.
Umbruch mit den Babyboomern
Welty: Trotzdem ist es ja so, dass in absehbarer Zeit die Babyboomer in Rente gehen, dass immer mehr Menschen also finanziert werden müssen. Inwieweit muss das auch heute schon ein Umdenken bedeuten, inwieweit wächst mit jedem Jahr der Reformdruck auf das Rentensystem?
Schneider: Tatsache ist, die Babyboomer, das sind die Jahrgänge in der Regel zwischen 1955 und 1969, die waren im Mittel etwa doppelt so groß – also weit über eine Million pro Jahrgang – als die Generation, die ab 1970 geboren wurde, die war im Mittel nur noch etwa 700.000 Personen groß. Also, die Veränderungsdynamik ist gewaltig, das muss man ganz klar sagen.
Was in den nächsten 15 oder 20 Jahren diesbezüglich auf uns zukommt, ist sehr erheblich. Insofern erwächst dadurch eine große Herausforderung – und eine Herausforderung nicht nur für die Alterssicherung, sondern natürlich auch für die Gesundheitsvorsorge und für die Pflegeversicherung. Und klar ist, dass wir jetzt natürlich Leute haben in den jüngeren Jahrgängen, die sehr viel mehr, vor allem, was die Frauen betrifft, sehr viel mehr erwerbstätig sind.
Und insofern dürfen wir nicht nur auf Größenordnung gucken der Menschen 65 und älter und der Menschen im erwerbsfähigen Alter, sondern entscheidend ist, was sie tun. Also nicht die große Zahl, sondern ihr Handeln ist entscheidend. Und da gibt es eine ganze Reihe von positiv zu bewertenden Indikatoren. Die Älteren sind länger erwerbstätig und auch die im erwerbsfähigen Alter befindlichen Menschen sind mehr erwerbstätig als noch vor 30 Jahren.
Welty: Demografie in Deutschland, darüber wird gesprochen ab heute auf dem Berliner Demografieforum. Und darüber wurde gesprochen in "Studio 9", und zwar mit Norbert Schneider, der das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung* leitet. Herr Schneider, Dankeschön!
* In einer früheren Version dieses Artikels wurde das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung falsch benannt.