Gute Pflege ist systemrelevant
Es werden immer mehr Menschen in der Altenpflege gebraucht, gleichzeitig werden aber Stellen abgebaut. Auch ist die Bezahlung viel zu schlecht für diesen so wichtigen Beruf, beklagt die ehemalige Krankenschwester und Grünen-Politikerin Christa Nickels. Sie fordert eine Lobby für einen "Pflegerettungsschirm".
Seit Jahrzehnten wird bei uns der "Pflegenotstand" beklagt. Eine Pflegereform jagt die andere. Aber Grundlegendes zu ändern, wird von der Politik gemieden wie vom Teufel das Weihwasser.
Dabei sind die Fakten sattsam bekannt: Die Menschen werden erfreulicherweise immer älter und damit der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften immer größer – Fachleute gehen schon jetzt davon aus, dass im Jahr 2025 rund 152.000 Beschäftigte in Pflegeberufen fehlen werden.
Die moderne Medizin im Akutkrankenhaus hat die Belastung des Pflegepersonals enorm gesteigert: Die "Liegezeiten" der Patienten haben sich radikal verkürzt, der Pflegebedarf enorm erhöht.
Personalschlüssel: Europaweit liegt Deutschland auf dem letzten Platz
Gleichzeitig wurden massiv Stellen abgebaut. Der Präsident des Deutschen Pflegerates, Andreas Westerfellhaus, beklagt einen Verlust von 50.000 Stellen. Im europäischen Vergleich liegt das reiche Deutschland – zusammen mit Spanien - beim Personalschlüssel auf dem letzten Platz! Wo in Norwegen statistisch eine Pflegekraft auf vier Patienten kommt, da ist in Deutschland eine Pflegekraft für elf Patienten zuständig.
Der technische und medizinische Fortschritt erfordert erheblich mehr an Wissen und Können. Während in 24 von 27 Ländern Europas eine 12-jährige Schulausbildung vorausgesetzt wird, reicht in Deutschland ein mittlerer Bildungsabschluss mit zehn Schuljahren.
Im Land "der Dichter und Denker" scheint man davon auszugehen, dass es beim Pflegen nicht so sehr ums Denken und Wissen geht, sondern ein großes Herz und eine tatkräftige Hand allein vollkommen ausreichen.
Eine akademische Grundqualifizierung der Pflege ist dieser Logik folgend überflüssig, ein Abbau der Hierarchie zwischen Medizin und Pflege fehl am Platze. Dass Erfahrungen anderer Länder das Gegenteil belegen, interessiert hierzulande die Entscheider nicht.
Ein Drittel aller Pflegekräfte burnoutgefährdet
Kein Wunder, dass der körperlich anstrengende und psychisch wie intellektuell so herausfordernde Pflegeberuf in Deutschland in die Bredouille geraten ist: Pflegekräfte sind häufiger krank und verlassen den Beruf früh. Fast ein Drittel ist burnoutgefährdet.
Hoch motivierte Fachkräfte ergreifen die Flucht vor der deutschen Pflegemisere und wählen die Arbeitsmigration in ein Land mit besseren Bedingungen, beispielsweise in die Schweiz. Das liegt noch zusätzlich dran, dass die Entlohnung in der Frauendomäne Pflege viel zu gering ist.
Zocker der Finanzbranche werden als "systemrelevant" mit Abermilliarden von Steuergeldern gerettet. Wo bleibt die Lobby für einen "Pflegerettungsschirm": für angemessene Personalschlüssel, Arbeitsbedingungen und Gehälter, eine akademische Grundqualifizierung der Pflegekräfte, für Teamarbeit statt Hierarchien zwischen Ärzten und Pflegekräften?
Unser Staat ist auf dem Fundament der Menschenrechte und der Menschenwürde aufgebaut. Dafür ist die Pflege systemrelevant. Am Umgang unserer Gesellschaft mit Pflegebedürftigen und Pflegenden zeigt sich, wes Geistes Kind wir sind.
Christa Nickels, Jahrgang 1952, von Beruf Krankenschwester, gehörte 1979 zu den Gründern der "Grünen" in Nordrhein-Westfalen, war deren Bundestagsabgeordnete (bis 2005), Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium (1998-2001) und Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Daneben saß sie als Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (2000-2013) und ist seit 2013 Mitherausgeberin von "Publik Forum".