Demokratie besteht nicht nur aus Wahlen und Parteien
Wie steht es eigentlich um unsere Demokratie? Wie lebendig ist sie? Robin Celikates, Professor für politische Philosophie in Amsterdam, sagt, er finde es wichtig, dass "wir Demokratie eben nicht nur auf die formalen Institutionen und die Wahl der Repräsentanten begrenzen". Es gebe beispielsweise auch soziale Bewegungen und Formen zivilen Ungehorsams.
Katrin Heise: Die Krise, auch wenn wir sie in Deutschland vielleicht nicht so spüren, hat uns doch fest im Griff, zumindest lässt sie so manche politische Entscheidung alternativlos erscheinen – da kommt gar kein politischer Streit mehr auf. Wenn bei arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen die Firmen mit Weggang drohen, auch dann ist von Demokratie wenig zu spüren.
Und wie sieht es im momentanen Wahlkampf aus? Sollte der die unterschiedlichen Positionen, zwischen denen sich die Wähler frei entscheiden können, nicht sehr klar herausheben?
Wie lebendig ist unsere Demokratie eigentlich? Über diese Frage spreche ich mit Robin Celikates, er ist Professor für politische Philosophie in Amsterdam. Schönen guten Tag!
Robin Celikates: Guten Tag!
Heise: Woran erkennen Sie, Herr Celikates, eine lebendige Demokratie, was muss zum Mehrparteiensystem, zu den freien Wahlen mit mehr oder weniger Wahlkampfgetöse eigentlich noch dazukommen?
Celikates: Ja, also erstens finde ich es wichtig, dass wir Demokratie eben nicht nur auf die formalen Institutionen und die Wahl der Repräsentanten begrenzen, sondern dass wir sehen, dass Demokratie aus viel mehr besteht, dass Demokratie auch aus Praktiken besteht, die außerhalb der etablierten Prozeduren und Institutionen stattfinden. Dafür gibt es viele Beispiele: soziale Bewegungen, Formen zivilen Ungehorsams.
Gerade in der letzten Zeit können wir da an viele Phänomene denken, im In- und im Ausland. Und das finde ich besonders wichtig, weil auch in der theoretischen Diskussion ebenso wie in der politischen Debatte Demokratie doch viel zu oft gleichgesetzt wird mit Parteien, Wahlen, Ausschüssen et cetera.
Heise: Das heißt, eine Demokratie ist eigentlich inzwischen so institutionalisiert, dass Streit und Krawall eigentlich als störend empfunden wird?
"Schnell wird despektierlich von 'Wutbürgern' gesprochen"
Celikates: Das scheint in der politischen Kultur jedenfalls häufig so gesehen zu werden, dass wenn sich die Bürgerinnen und Bürger außerhalb der für sie vorgesehenen Kanäle artikulieren, also außerhalb von Wahlen oder Zeitungsberichten oder Briefen an ihre Repräsentanten, dass dann eben schnell auch relativ despektierlich von Wutbürgern gesprochen wird oder dass davon gesprochen wird, dass sie nur ihre eigenen Interessen vertreten, sich nicht anpassen möchten an demokratisch legitimierte Entscheidungen.
Aber in einer Demokratie ist es nun mal so, dass sich die Bürgerinnen und Bürger nicht nur in Wahlen oder in dem, was die Abgeordneten für richtig halten, artikulieren dürfen, sondern auch außerhalb, also auch zwischen den Wahlen, auf der Straße zum Beispiel.
Heise: Jetzt habe ich eben das Wort alternativlos auch schon gesagt, das fällt ja in letzter Zeit immer häufiger, vor allem im Zusammenhang mit der Krise. Heißt das, diese Krise lähmt eigentlich unsere demokratischen Prozesse oder die Demokratie vielleicht sogar insgesamt, oder gibt’s da vielleicht doch auch belebende Momente?
Celikates: Also zunächst einmal muss man, glaube ich, unterscheiden zwischen dem, was man sozusagen objektiv an Krisenhaftigkeit sicher diagnostizieren kann – ich will das gar nicht schönreden, natürlich gibt es eine ökonomische Krise –, aber gleichzeitig muss man auch sehr vorsichtig sein, wenn politische Akteure die ganze Zeit davon reden, dass die Krise ihnen keine Handlungsmöglichkeiten lässt.
Also oft wird diese Rhetorik auch überstrapaziert, und die Alternativlosigkeit wird eigentlich gerade produziert durch den politischen Prozess, weil es natürlich für viele Akteure auch viel einfacher ist, wenn sie sozusagen unter dem Schein der Alternativlosigkeit dann eben in Hinterzimmern zum Beispiel oder mit sogenannten Experten Entscheidungen treffen können, die gar nicht an die Öffentlichkeit kommuniziert werden, weil sie anscheinend zu komplex sind oder eben keine Alternativen erlauben.
"Zu schnell bei'm Begriff der Postdemokratie"
Heise: Komplex sind sie ja tatsächlich oft sehr. Sie haben gerade von Hinterzimmern gesprochen, da vermutet man häufig die Lobbyisten. Der britische Politologe und Soziologe Colin Crouch sieht ja die Lobbyinteressen als eine der größten Gefahren, was unsere Demokratie angeht.
Celikates: Ja, das scheint nicht ganz abwegig zu sein, also auch in Deutschland können wir da sicherlich viele Beispiele von der Autolobby – das war erst jüngst halt wieder ein Thema – bis zur Apothekerlobby nennen, bei denen es ganz erstaunlich ist, wie viel da anscheinend hinter den Kulissen Einfluss genommen wird auf den politischen Prozess. Und auch das wird natürlich nicht immer so gerne thematisiert von der politischen Klasse, von daher sehe ich diese Gefahr, die Crouch hier diagnostiziert, schon. Vielleicht ist er doch etwas zu schnell bei dem Begriff der Postdemokratie.
Also er denkt ja, dass wir sozusagen schon in einem Zeitalter jenseits der Demokratie sind – da würde ich vielleicht etwas vorsichtiger sein –, aber die Phänomene, die er beschreibt, also Verlagerung auf Regierungskompetenzen, weg von den Parlamenten, immer mehr Einfluss von Experten, Lobbyisten hinter den Kulissen. Diese Phänomene sind auf jeden Fall da, die sollte man auch nicht leugnen.
Heise: Das andere, was häufig als gefährlich angesehen wird, ist die sogenannte Konsensdemokratie, dass also, ja, die Demokratie eigentlich eine Konsensdemokratie geworden ist, daran verraten wurde. Für mich gehört Konsens allerdings ganz explizit zur Demokratie dazu.
Celikates: Ja, ist keine Frage, dass Konsens natürlich Teil der Demokratie ist, aber man kann Demokratie eben auch nicht auf Konsens reduzieren. Also was mich sowohl an der theoretischen Debatte als auch in der politischen Debatte häufig sozusagen irritiert, dass so getan wird, als würde Demokratie sich eindeutig identifizieren lassen, zum Beispiel als rationaler Ausgleich von Interessen oder als Konsensfindung, während es viele andere Elemente von Demokratie gibt, die viel stärker zum Beispiel konfliktorientiert sind oder gar nichts mit Interessen so stark zu tun haben, also zum Beispiel soziale Bewegungen, ziviler Ungehorsam.
Das sind natürlich auch in gewisser Hinsicht auf einen neuen Konsens zielende Formen des politischen Handelns, aber sind viel stärker konfliktuell als jetzt zum Beispiel Verhandlungsprozesse. Und ich würde einfach nur dafür plädieren, den Begriff der Demokratie so weit zu fassen, dass eben diese Handlungsformen, die erst mal außerinstitutionell und nicht sozusagen formell reguliert sind, dass die eben auch darunter fallen und nicht als etwas Antidemokratisches sozusagen ausgegrenzt werden.
Heise: Wir klopfen im "Radiofeuilleton" die Demokratie der westlichen Staaten auf ihre Lebendigkeit hin ab, zusammen mit dem Philosophen Robin Celikates. Sie haben eben die für Sie dazu gehörigen Elemente genannt – ich habe den Eindruck, dass die Philosophen, also in der ganzen Debatte, die stattfindet, die Philosophen wie Étienne Balibar oder Miguel Abensour weitergehen, wenn sie mehr Radikalität fordern, also weil ich davon gelesen habe, dass Demokratie Kampf gegen den Staat ist, Kampf auf der Straße.
"Veränderungen [...] auf Druck von außen"
Celikates: Ja, also da wird dieses Element, das ich jetzt auch schon mehrmals angesprochen habe, des außerinstitutionellen politischen Handelns, des konflikthaften Handelns wird da viel stärker in den Mittelpunkt gestellt. Aber gerade bei Balibar finde ich, ist eigentlich sehr schön herausgearbeitet, dass Demokratie immer in dieser Spannung besteht zwischen diesen außerinstitutionellen Momenten des politischen Handelns – also zum Beispiel auf der Straße, Demonstrationen, ziviler Ungehorsam et cetera –, die immer Teil der Demokratie waren, und auf der anderen Seite natürlich den Institutionen, den Formen von Repräsentation.
Also auch Balibar ist nicht so naiv zu glauben, dass wir uns jetzt einfach alle in einem Zimmer zusammensetzen können oder in einem Park, um über die anstehenden Fragen zu diskutieren. Was ihn interessiert, ist, wie sich dieses Verhältnis von außerinstitutionellem und institutionalisiertem politischen Handeln, wie das eigentlich die Demokratie vorantreibt.
Deswegen spricht er auch – das finde ich sehr treffend – von einer Demokratisierung der Demokratie, die ein offener und nicht abschließbarer Prozess ist. Also Demokratie haben wir ja eben nie einfach, sondern sie muss sich immer weiter demokratisieren, auch gegen Widerstände und Herausforderungen, die wir auch schon angesprochen haben.
Heise: Ja sie, sie muss sich demokratisieren, damit sind ja wir Bürger gemeint und nicht die Institutionen unbedingt oder die Parteien. Aber wenn man häufig so auf der Straße dann guckt, sind es eben nicht nur wutentbrannte Menschen, sondern häufig daneben stehend die Bürger, die nichts mehr hassen als laute Auseinandersetzung, und die wollen, dass die da oben sich einigen zum Besten des Ganzen. Und da ist es dann wieder, dieses, ja, diese Mehrheitsentscheidung, denn die auf der Straße sind ja nicht unbedingt die Mehrheit.
Celikates: Genau. Also, ich würde da vielleicht zwei Punkte betonen: Der erste ist, dass Demokratisierung der Demokratie tatsächlich hauptsächlich oder historisch gesehen in den meisten Fällen auf den Druck von außerhalb der etablierten Institutionen geschehen ist. Also die Institutionen selbst reproduzieren sich, und auch die Ausschlüsse und Marginalisierungen, die Teil von ihnen sind.
Veränderungen im jetzt progressiven guten Sinn der Demokratisierung finden eigentlich immer nur auf Druck von außen statt, also auf Druck der Straße, von Demonstrationen et cetera. Das ist der erste, finde ich, historisch auch sehr wichtige Punkt. Dann wird es natürlich innerhalb der Institutionen aufgegriffen, und es gibt natürlich auch eine Selbstkorrektur, Selbstreform et cetera, aber das geschieht eigentlich selten von alleine.
Zweitens glaube ich, dass man eben diese Idee der Partizipations- oder Politikverdrossenheit oder der Apathie – die Bürgerinnen und Bürger wollen eigentlich gar nicht mitmachen –, dass man mit der auch vorsichtig umgehen muss. Vielleicht sind sie viel enthusiastischer, wenn wir ihnen andere Partizipationsmöglichkeiten eröffnen, und die Erfahrungen von so, ja, Experimenten muss man eigentlich sagen, wie Occupy oder anderen Formen politischen Handelns, sind eigentlich, dass die Leute, wenn sie den Eindruck haben, sie können sich wirklich einbringen, dann doch viel stärker auch dazu bereit sind.
Heise: Ja, aber häufig flacht das dann auch relativ schnell wieder ab. Wenn wir jetzt schauen, was aus den Piraten beispielsweise geworden ist, die ja ein sehr lebendiges Moment waren. Und in dem Moment, wo sie dann bei den Wahlen in Verantwortung gekommen sind, scheinen sie ja doch da eher überfordert zu sein – die sagen das jedenfalls zum Teil auch.
Celikates: Also ich will gar nicht bestreiten, dass es hier unglaublich große Herausforderungen gibt, auch Occupy wird ja von vielen sozusagen so beschrieben, als sei es natürlich auch der Vergangenheit ...
Heise: Nicht mehr vorhanden.
Celikates: ... würde es der Vergangenheit angehören. Das ist vielleicht nicht ganz richtig. Ich glaube schon auch, dass sich da etwas dauerhaft verändert hat, und die Herausforderung, das auch sozusagen zu stabilisieren oder auf Dauer zu stellen, diese politischen Experimente, die ist sehr groß. Ich glaube aber nicht, dass sie deshalb unbedingt scheitern. Man muss sich, glaube ich, vor Augen führen, dass der Weg der Institutionalisierung, also zum Beispiel sich als Partei neu gründen, an Wahlen mitmachen, ins Parlament gehen, so wie die Grünen das getan haben, das ist eben eine Möglichkeit.
Eine Möglichkeit, die ich überhaupt nicht verurteilen möchte, die aber – das kann man bei den Grünen auch sehr gut sehen – gewisse Risiken mit sich bringt, gewisse Risiken der Normalisierung. Man wird dann eben doch eine Partei wie alle anderen, übernimmt deren Position et cetera. Deswegen glaube ich, ist, was ich vorhin genannt hatte, dieses Spannungsverhältnis zwischen institutionalisierten und außerinstitutionellen Elementen des Politischen so zentral.
Ich glaube nicht, dass man diese Spannung auflösen kann, also sprich, soziale Bewegungen müssen sich nicht unbedingt als Parteien institutionalisieren, sie können auch außerhalb des politischen Systems weiter eine politische Wirkung entfalten. Das ist vielleicht sogar noch wichtiger, dass dieser außerinstitutionelle Pol aufrechterhalten bleibt, dass er auch sozusagen die institutionalisierten Formen der Politik weiterhin unter Druck setzt, vorantreibt et cetera. Ich glaube, Demokratie besteht eben immer aus diesen beiden Elementen, und gerade das Spannungsverhältnis zwischen ihnen ist entscheidend für die Lebendigkeit einer Demokratie.
Heise: Spannung macht die Demokratie also lebendig, die müssen wir dann aushalten. Robin Celikates, Philosoph, zum Stand unserer Demokratie. Dankeschön, Herr Celikates!
Celikates: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Und wie sieht es im momentanen Wahlkampf aus? Sollte der die unterschiedlichen Positionen, zwischen denen sich die Wähler frei entscheiden können, nicht sehr klar herausheben?
Wie lebendig ist unsere Demokratie eigentlich? Über diese Frage spreche ich mit Robin Celikates, er ist Professor für politische Philosophie in Amsterdam. Schönen guten Tag!
Robin Celikates: Guten Tag!
Heise: Woran erkennen Sie, Herr Celikates, eine lebendige Demokratie, was muss zum Mehrparteiensystem, zu den freien Wahlen mit mehr oder weniger Wahlkampfgetöse eigentlich noch dazukommen?
Celikates: Ja, also erstens finde ich es wichtig, dass wir Demokratie eben nicht nur auf die formalen Institutionen und die Wahl der Repräsentanten begrenzen, sondern dass wir sehen, dass Demokratie aus viel mehr besteht, dass Demokratie auch aus Praktiken besteht, die außerhalb der etablierten Prozeduren und Institutionen stattfinden. Dafür gibt es viele Beispiele: soziale Bewegungen, Formen zivilen Ungehorsams.
Gerade in der letzten Zeit können wir da an viele Phänomene denken, im In- und im Ausland. Und das finde ich besonders wichtig, weil auch in der theoretischen Diskussion ebenso wie in der politischen Debatte Demokratie doch viel zu oft gleichgesetzt wird mit Parteien, Wahlen, Ausschüssen et cetera.
Heise: Das heißt, eine Demokratie ist eigentlich inzwischen so institutionalisiert, dass Streit und Krawall eigentlich als störend empfunden wird?
"Schnell wird despektierlich von 'Wutbürgern' gesprochen"
Celikates: Das scheint in der politischen Kultur jedenfalls häufig so gesehen zu werden, dass wenn sich die Bürgerinnen und Bürger außerhalb der für sie vorgesehenen Kanäle artikulieren, also außerhalb von Wahlen oder Zeitungsberichten oder Briefen an ihre Repräsentanten, dass dann eben schnell auch relativ despektierlich von Wutbürgern gesprochen wird oder dass davon gesprochen wird, dass sie nur ihre eigenen Interessen vertreten, sich nicht anpassen möchten an demokratisch legitimierte Entscheidungen.
Aber in einer Demokratie ist es nun mal so, dass sich die Bürgerinnen und Bürger nicht nur in Wahlen oder in dem, was die Abgeordneten für richtig halten, artikulieren dürfen, sondern auch außerhalb, also auch zwischen den Wahlen, auf der Straße zum Beispiel.
Heise: Jetzt habe ich eben das Wort alternativlos auch schon gesagt, das fällt ja in letzter Zeit immer häufiger, vor allem im Zusammenhang mit der Krise. Heißt das, diese Krise lähmt eigentlich unsere demokratischen Prozesse oder die Demokratie vielleicht sogar insgesamt, oder gibt’s da vielleicht doch auch belebende Momente?
Celikates: Also zunächst einmal muss man, glaube ich, unterscheiden zwischen dem, was man sozusagen objektiv an Krisenhaftigkeit sicher diagnostizieren kann – ich will das gar nicht schönreden, natürlich gibt es eine ökonomische Krise –, aber gleichzeitig muss man auch sehr vorsichtig sein, wenn politische Akteure die ganze Zeit davon reden, dass die Krise ihnen keine Handlungsmöglichkeiten lässt.
Also oft wird diese Rhetorik auch überstrapaziert, und die Alternativlosigkeit wird eigentlich gerade produziert durch den politischen Prozess, weil es natürlich für viele Akteure auch viel einfacher ist, wenn sie sozusagen unter dem Schein der Alternativlosigkeit dann eben in Hinterzimmern zum Beispiel oder mit sogenannten Experten Entscheidungen treffen können, die gar nicht an die Öffentlichkeit kommuniziert werden, weil sie anscheinend zu komplex sind oder eben keine Alternativen erlauben.
"Zu schnell bei'm Begriff der Postdemokratie"
Heise: Komplex sind sie ja tatsächlich oft sehr. Sie haben gerade von Hinterzimmern gesprochen, da vermutet man häufig die Lobbyisten. Der britische Politologe und Soziologe Colin Crouch sieht ja die Lobbyinteressen als eine der größten Gefahren, was unsere Demokratie angeht.
Celikates: Ja, das scheint nicht ganz abwegig zu sein, also auch in Deutschland können wir da sicherlich viele Beispiele von der Autolobby – das war erst jüngst halt wieder ein Thema – bis zur Apothekerlobby nennen, bei denen es ganz erstaunlich ist, wie viel da anscheinend hinter den Kulissen Einfluss genommen wird auf den politischen Prozess. Und auch das wird natürlich nicht immer so gerne thematisiert von der politischen Klasse, von daher sehe ich diese Gefahr, die Crouch hier diagnostiziert, schon. Vielleicht ist er doch etwas zu schnell bei dem Begriff der Postdemokratie.
Also er denkt ja, dass wir sozusagen schon in einem Zeitalter jenseits der Demokratie sind – da würde ich vielleicht etwas vorsichtiger sein –, aber die Phänomene, die er beschreibt, also Verlagerung auf Regierungskompetenzen, weg von den Parlamenten, immer mehr Einfluss von Experten, Lobbyisten hinter den Kulissen. Diese Phänomene sind auf jeden Fall da, die sollte man auch nicht leugnen.
Heise: Das andere, was häufig als gefährlich angesehen wird, ist die sogenannte Konsensdemokratie, dass also, ja, die Demokratie eigentlich eine Konsensdemokratie geworden ist, daran verraten wurde. Für mich gehört Konsens allerdings ganz explizit zur Demokratie dazu.
Celikates: Ja, ist keine Frage, dass Konsens natürlich Teil der Demokratie ist, aber man kann Demokratie eben auch nicht auf Konsens reduzieren. Also was mich sowohl an der theoretischen Debatte als auch in der politischen Debatte häufig sozusagen irritiert, dass so getan wird, als würde Demokratie sich eindeutig identifizieren lassen, zum Beispiel als rationaler Ausgleich von Interessen oder als Konsensfindung, während es viele andere Elemente von Demokratie gibt, die viel stärker zum Beispiel konfliktorientiert sind oder gar nichts mit Interessen so stark zu tun haben, also zum Beispiel soziale Bewegungen, ziviler Ungehorsam.
Das sind natürlich auch in gewisser Hinsicht auf einen neuen Konsens zielende Formen des politischen Handelns, aber sind viel stärker konfliktuell als jetzt zum Beispiel Verhandlungsprozesse. Und ich würde einfach nur dafür plädieren, den Begriff der Demokratie so weit zu fassen, dass eben diese Handlungsformen, die erst mal außerinstitutionell und nicht sozusagen formell reguliert sind, dass die eben auch darunter fallen und nicht als etwas Antidemokratisches sozusagen ausgegrenzt werden.
Heise: Wir klopfen im "Radiofeuilleton" die Demokratie der westlichen Staaten auf ihre Lebendigkeit hin ab, zusammen mit dem Philosophen Robin Celikates. Sie haben eben die für Sie dazu gehörigen Elemente genannt – ich habe den Eindruck, dass die Philosophen, also in der ganzen Debatte, die stattfindet, die Philosophen wie Étienne Balibar oder Miguel Abensour weitergehen, wenn sie mehr Radikalität fordern, also weil ich davon gelesen habe, dass Demokratie Kampf gegen den Staat ist, Kampf auf der Straße.
"Veränderungen [...] auf Druck von außen"
Celikates: Ja, also da wird dieses Element, das ich jetzt auch schon mehrmals angesprochen habe, des außerinstitutionellen politischen Handelns, des konflikthaften Handelns wird da viel stärker in den Mittelpunkt gestellt. Aber gerade bei Balibar finde ich, ist eigentlich sehr schön herausgearbeitet, dass Demokratie immer in dieser Spannung besteht zwischen diesen außerinstitutionellen Momenten des politischen Handelns – also zum Beispiel auf der Straße, Demonstrationen, ziviler Ungehorsam et cetera –, die immer Teil der Demokratie waren, und auf der anderen Seite natürlich den Institutionen, den Formen von Repräsentation.
Also auch Balibar ist nicht so naiv zu glauben, dass wir uns jetzt einfach alle in einem Zimmer zusammensetzen können oder in einem Park, um über die anstehenden Fragen zu diskutieren. Was ihn interessiert, ist, wie sich dieses Verhältnis von außerinstitutionellem und institutionalisiertem politischen Handeln, wie das eigentlich die Demokratie vorantreibt.
Deswegen spricht er auch – das finde ich sehr treffend – von einer Demokratisierung der Demokratie, die ein offener und nicht abschließbarer Prozess ist. Also Demokratie haben wir ja eben nie einfach, sondern sie muss sich immer weiter demokratisieren, auch gegen Widerstände und Herausforderungen, die wir auch schon angesprochen haben.
Heise: Ja sie, sie muss sich demokratisieren, damit sind ja wir Bürger gemeint und nicht die Institutionen unbedingt oder die Parteien. Aber wenn man häufig so auf der Straße dann guckt, sind es eben nicht nur wutentbrannte Menschen, sondern häufig daneben stehend die Bürger, die nichts mehr hassen als laute Auseinandersetzung, und die wollen, dass die da oben sich einigen zum Besten des Ganzen. Und da ist es dann wieder, dieses, ja, diese Mehrheitsentscheidung, denn die auf der Straße sind ja nicht unbedingt die Mehrheit.
Celikates: Genau. Also, ich würde da vielleicht zwei Punkte betonen: Der erste ist, dass Demokratisierung der Demokratie tatsächlich hauptsächlich oder historisch gesehen in den meisten Fällen auf den Druck von außerhalb der etablierten Institutionen geschehen ist. Also die Institutionen selbst reproduzieren sich, und auch die Ausschlüsse und Marginalisierungen, die Teil von ihnen sind.
Veränderungen im jetzt progressiven guten Sinn der Demokratisierung finden eigentlich immer nur auf Druck von außen statt, also auf Druck der Straße, von Demonstrationen et cetera. Das ist der erste, finde ich, historisch auch sehr wichtige Punkt. Dann wird es natürlich innerhalb der Institutionen aufgegriffen, und es gibt natürlich auch eine Selbstkorrektur, Selbstreform et cetera, aber das geschieht eigentlich selten von alleine.
Zweitens glaube ich, dass man eben diese Idee der Partizipations- oder Politikverdrossenheit oder der Apathie – die Bürgerinnen und Bürger wollen eigentlich gar nicht mitmachen –, dass man mit der auch vorsichtig umgehen muss. Vielleicht sind sie viel enthusiastischer, wenn wir ihnen andere Partizipationsmöglichkeiten eröffnen, und die Erfahrungen von so, ja, Experimenten muss man eigentlich sagen, wie Occupy oder anderen Formen politischen Handelns, sind eigentlich, dass die Leute, wenn sie den Eindruck haben, sie können sich wirklich einbringen, dann doch viel stärker auch dazu bereit sind.
Heise: Ja, aber häufig flacht das dann auch relativ schnell wieder ab. Wenn wir jetzt schauen, was aus den Piraten beispielsweise geworden ist, die ja ein sehr lebendiges Moment waren. Und in dem Moment, wo sie dann bei den Wahlen in Verantwortung gekommen sind, scheinen sie ja doch da eher überfordert zu sein – die sagen das jedenfalls zum Teil auch.
Celikates: Also ich will gar nicht bestreiten, dass es hier unglaublich große Herausforderungen gibt, auch Occupy wird ja von vielen sozusagen so beschrieben, als sei es natürlich auch der Vergangenheit ...
Heise: Nicht mehr vorhanden.
Celikates: ... würde es der Vergangenheit angehören. Das ist vielleicht nicht ganz richtig. Ich glaube schon auch, dass sich da etwas dauerhaft verändert hat, und die Herausforderung, das auch sozusagen zu stabilisieren oder auf Dauer zu stellen, diese politischen Experimente, die ist sehr groß. Ich glaube aber nicht, dass sie deshalb unbedingt scheitern. Man muss sich, glaube ich, vor Augen führen, dass der Weg der Institutionalisierung, also zum Beispiel sich als Partei neu gründen, an Wahlen mitmachen, ins Parlament gehen, so wie die Grünen das getan haben, das ist eben eine Möglichkeit.
Eine Möglichkeit, die ich überhaupt nicht verurteilen möchte, die aber – das kann man bei den Grünen auch sehr gut sehen – gewisse Risiken mit sich bringt, gewisse Risiken der Normalisierung. Man wird dann eben doch eine Partei wie alle anderen, übernimmt deren Position et cetera. Deswegen glaube ich, ist, was ich vorhin genannt hatte, dieses Spannungsverhältnis zwischen institutionalisierten und außerinstitutionellen Elementen des Politischen so zentral.
Ich glaube nicht, dass man diese Spannung auflösen kann, also sprich, soziale Bewegungen müssen sich nicht unbedingt als Parteien institutionalisieren, sie können auch außerhalb des politischen Systems weiter eine politische Wirkung entfalten. Das ist vielleicht sogar noch wichtiger, dass dieser außerinstitutionelle Pol aufrechterhalten bleibt, dass er auch sozusagen die institutionalisierten Formen der Politik weiterhin unter Druck setzt, vorantreibt et cetera. Ich glaube, Demokratie besteht eben immer aus diesen beiden Elementen, und gerade das Spannungsverhältnis zwischen ihnen ist entscheidend für die Lebendigkeit einer Demokratie.
Heise: Spannung macht die Demokratie also lebendig, die müssen wir dann aushalten. Robin Celikates, Philosoph, zum Stand unserer Demokratie. Dankeschön, Herr Celikates!
Celikates: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.