Demokratie

Europas Selbstverständnis in der Krise?

Europafahne in Paris
In der EU gibt es auch Schattenseiten - die Schuldenkrise ist ein Beispiel. © dpa / picture alliance / Francois Lafite
Von Jörg Himmelreich |
Europäische Demokratie ist anstrengend, sie sucht den Kompromiss und will Interessen ausgleichen. Doch auch wenn Europa manchmal frustrieren mag, gibt es keinen Grund, dass es an sich selbst zweifelt, meint der Publizist Jörg Himmelreich.
Das Selbstverständnis Europas beruht auf der Aufklärung. Durch sie kam es zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand und Frieden, allerdings nach einem langen Weg durch grausame Kriege. Doch was die Europäer für Vernunft und politische Kultur halten, wird ihnen auf anderen Kontinenten als Schwäche ausgelegt.
Und mit dieser Verachtung können sie noch weniger umgehen als mit dem Vorwurf des Südens, ihr Gutmenschentum sei verkappter Kolonialismus.
Nun "rollen wieder Panzer über Europas Grenzen". So fasste Siegmar Gabriel die Enttäuschung über die Annexion der Krim durch Russland in Worte. Ausgerechnet Russland, die abgestürzte Großmacht führt dem Westen in alter Manier seine Ohnmacht vor Augen. Und Putins Kreml ist da nicht der einzige.
Europas Vorschläge zum Klimaschutz scheitern regelmäßig am vereinten Widerstand Chinas, Indiens und Brasiliens. Die aufstrebenden Schwellenmächte verfolgen selbstbewusst eine eigene Agenda und wenden dabei die harten Gesetze politischer Machtpolitik an. Damit lassen sie Europa geopolitisch links liegen. Offensiv streichen sie kulturhistorische Ideale heraus, denen eins gemeinsam zu sein scheint, nämlich europäische Aufklärung als Fremdbestimmung abzulehnen.
Ja, es beginnt eine neue Ära. Das ist gewöhnungsbedürftig. Verunsichern muss es die Europäer aber nicht. Überfliegen wir die weltweiten Alternativen der Kulturen politischer Legitimation.
In China verbrämt eine kleine Nomenklatura nur noch mühselig ihren autokratischen Herrschaftsanspruch. Ideologisch hilflos greift sie auf Elemente der konfuzianischen Kultur des Gehorsams zurück, macht zugleich Anleihen beim westlichen Kapitalismus und rettet sich, indem sie eine diffuse kulturelle, nationalistische und vermeintlich historische Überlegenheit wiederbelebt.
Indien lebt nationalistisch aufgeladenen Hinduismus
Dieses Konzept wird aber immer brüchiger werden, solange die chinesischen Kommunisten jedwede Opposition, jede separatistische Bewegung im Vielvölkerstaat niederschlagen.
Indien lebt einen nationalistisch aufgeladenen Hinduismus. Dennoch wird dessen prominentester Vertreter, der neue indischen Ministerpräsident Modi nicht die Bahnen einer westlich geprägten Demokratie verlassen, sei sie auch noch so unvollkommen.
Den muslimischen Herrschern des Nahen Ostens gelingt es nicht zu erfüllen, was Ayatollah Khomeini nach dem Putsch im Iran 1979 versprach, dass der schiitische "Gottesstaat" mit einer authentischen persischen, ja islamischen politischen Kultur, dem westlichen Denken Paroli bieten werde.
Das Gegenteil ist eingetreten: Mit Hilfe der Religion festigten fast überall in der muslimischen Welt mächtige Cliquen ihre diktatorische Macht, befreit wurde niemand, vielmehr lebt die breite Bevölkerung unverändert unter mittelalterlichen Verhältnissen.
Wirklich herausgefordert wird das europäische Politikverständnis indessen von Franziskus, dem Papst in Rom. Aus seiner lateinamerikanischen Heimat bringt der argentinische Bischof die Botschaft mit, dass Politik sich nicht um sich selbst drehen darf, sondern dass sie dezentral von der Basis aus formuliert werden muss und dass mithin die Sorgen der Armen die internationale Agenda bestimmen sollten.
Diese prominente Forderung aus dem Vatikan wird Europa nicht ignorieren können. Denn seine christliche Tradition ebenso wie sein soziales Gewissen sind die Grundlagen des vergleichsweisen Erfolgs europäischer Demokratie heute. Nur wird es künftig nicht mehr vornehmlich um Wohlstand und Sicherheit im Weltvergleich wohlhabender Industrieländer gehen. Dort hat sich die Aufklärung, haben sich Menschenrechte, Demokratie und soziale Marktwirtschaft bewährt.
Jetzt muss sich das europäische Rezept auch im Süden der Welt beweisen. Das ist kein Grund für wehleidige Selbstzweifel, sondern für die kluge Einsicht auch weltweit den eigenen Reichtum auf Dauer nicht auf Kosten anderer mehren zu dürfen, jedenfalls nicht ungestraft.

Jörg Himmelreich schreibt als Autor für die "Neue Zürcher Zeitung" und forscht zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen Russlands und Asiens. Er war Mitglied des Planungsstabs des Auswärtigen Amts in Berlin sowie Gastdozent und politischer Berater in Washington, Moskau und London.

© Peter Ptassek
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