Ist das Zeitalter der Vernunft vorbei?
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Rechte Parolen, neue Mauern, Hickhack um den Brexit – haben die westlichen Demokratien den Verstand verloren? Ist das Erbe der Aufklärung dahin? Eva von Redecker, Arnd Pollmann und Catherine Newmark suchen nach Wegen aus der Krise.
Noch vor kurzem hatten die meisten keinen Zweifel daran, dass die westlichen Demokratien im Großen und Ganzen vernünftige Entscheidungen hervorbringen. Dafür schien die öffentliche Diskussion informiert, gleich und frei genug. Heute hat sich das Bild dramatisch verändert: Ob Brexit, Trumps Mauerbau-Pläne oder das Erstarken nationalistischer Tendenzen – die gegenwärtigen Entwicklungen nagen am Selbstverständnis der aufgeklärten Gesellschaft. Ist das Zeitalter der Vernunft also vorbei?
Im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur diskutieren Eva von Redecker, Arnd Pollmann und Catherine Newmark über das angeschlagene Verhältnis von Vernunft und Demokratie. Alle drei sehen die repräsentative Demokratie in der Krise. Mindestens so groß wie die viel beschworene Politikverdrossenheit des Wahlvolks sei mittlerweile doch die "Volksverdrossenheit der Politik", so der Moralphilosoph und Menschenrechts-Experte Pollmann: Regierende ohne Visionen und Gestaltungwillen hier - wachsende "Wirk-Ohnmacht der Regierten" dort.
Überzogene Hoffnungen in die politische Vernunft
Das Selbstverständnis der demokratischen Gesellschaft sei an zentrale Werte und Grundrechte der Aufklärung geknüpft, betont die Sozialphilosophin Eva von Redecker: "Unsere Demokratie ist als Erklärung der Menschenrechte in die Welt gekommen." Lange Zeit habe die politische Philosophie an der Überzeugung festgehalten, dass sich im freien Austausch gut begründeter Interessen vernünftige Entscheidungen durchsetzen, ergänzt Pollmann. Aber diese Hoffnung sei heute - nicht zuletzt durch den Wandel der Medienöffentlichkeit - einer "ungeheuren Enttäuschung" gewichen.
"Wir stellen fest: Je mehr mitreden, je mehr auch über die sozialen Medien von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen, umso mehr Unverständnis haben wir eigentlich, umso mehr Aggression, Wut und Hass", erklärt Arnd Pollmann.
Die Vorstellung, dass Demokratien gut geölte Diskursmaschinen sind, in denen "der zwanglose Zwang der besseren Argumentation" stets den Sieg davonträgt, sei freilich immer schon "ein regulatives Ideal" gewesen und keine Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, gibt die Schweizer Philosophin und Publizistin Catherine Newmark zu bedenken. "Anthropologisch betrachtet, ist der Mensch, auch wenn die Philosophen das gern behaupten, kein besonders rationales Tier."
In Firmen und Familien gilt oft noch das Basta-Prinzip
Eva von Redecker sieht das geeignete Gegenmittel in dieser festgefahrenen Situation aber nicht in weniger, sondern in mehr Demokratie. Dabei komme es vor allem auf "konkrete demokratische Alltagserfahrungen" an. Für solche Erfahrungen biete unsere heutige Gesellschaft viel zu wenig Raum.
"Familien sind noch nicht demokratisch", sagt Eva von Redecker. "Viele Schulen sind es nicht, und dann kommt noch der ganze, sich im Moment immer verschärfende Konkurrenzdruck der wirtschaftlichen Verwertbarkeit mit rein: Indem man instrumentell gezwungen ist, am Marktgeschehen teilzunehmen, lernt man natürlich, instrumentell zu kommunizieren. Insofern bin ich immer wieder beglückt, wenn es mal Momente gibt, in denen man noch demokratisch miteinander interagieren kann. Und das sind auch Hoffnungsmomente."
Demokratie lässt sich nicht komplett delegieren
Demokratie müsste von vornherein viel stärker eingeübt werden, betont auch Catherine Newmark:
"Als Schweizerin kenne ich natürlich diese lange Eingewöhnung ins Direkt-Demokratische, die auf jeder Dorfversammlung beginnt, wo man jeden Schulhof und jede Bauzone in der Dorfgemeinschaft entscheiden muss. Das ist auch ein Eingewöhnen darin, dass die 51 Prozent die 49 nicht überrollen, sondern deren Interessen auch noch im Blick haben."
Gegenüber dieser Kultur der Kompromisse herrsche in Europa derzeit eine paradoxe Haltung vor, so Newmark. Man habe sich an ein Modell gewöhnt, das frei nach Hannah Arendt getreu dem Motto funktioniere: "Wir sind Kapitalisten und verfolgen unsere privaten wirtschaftlichen Interessen und delegieren das Politische an eine kleine politische Klasse."
Doch mittlerweile liefen populistische Bewegungen überall in Europa Sturm gegen diesen Deal: "Dieses Modell kommt an seine Grenzen, wenn man dann an einzelnen Stellen sagt: Aber das Volk will die Grenzen schließen! Aber das Volk will aus der EU! - Das geht nicht auf."
Jeder will mitbestimmen, aber alle wollen ihre Ruhe
Wir müssten heute erkennen, da ist sich die Runde einig, dass die europäischen Demokratien von einem Zeitalter der Vernunft noch ziemlich weit entfernt seien. Den Brexit wertet Arnd Pollmann als Symptom für eine "direkt-demokratische Pubertät". Und Eva von Redecker ergänzt: "In dem Referendum ging es erst mal nur darum, dass ganz viele Leute endlich mal das Gefühl haben wollten, überhaupt einen Unterschied zu machen."
Tatsächlich erleben wir derzeit viele "Artikulationen von Unvernunft", bemerkt von Redecker. Aber eine möglichst breite demokratische Beteiligung, so das einhellige Fazit unseres Gesprächs bei "Sein und Streit", sei die beste Methode, um das Vertrauen in die aufgeklärte Gesellschaft wiederherzustellen.
Dazu Eva von Redecker: "Wenn es eine Sache auf der Welt gibt, die Unvernunft in Vernunft verwandeln kann, dann ist es Demokratie."