Bedrohte Freiheit

Die Angst vor den Schönwetterdemokraten

Illustration von protestierenden Menschen, die Schilder tragen
Demokratie setzt die Mündigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger voraus. Keine Kleinigkeit, meint der Autor Florian Goldberg. © Imago / Malte Müller
Ein Kommentar von Florian Goldberg |
Basiert die Zustimmung zur Demokratie bei vielen auf dem Wohlstandsversprechen, das sie mit dieser Staatsform verbinden? Das befürchtet Autor Florian Goldberg. Er sieht unsere Demokratie angesichts der drohenden Energiekrise vor einer Bewährungsprobe.
Die Ukrainer führen seit Februar einen Freiheitskrieg. In Deutschland kennen wir das nicht so. Im Großen und Ganzen der Geschichte haben wir uns eher mit Hurra von erklärten Feinden der Freiheit verheizen lassen, als wirklich gegen sie aufzubegehren. Dies dann mit solcher Hingabe, dass man uns nach der letzten Katastrophe, die wir verbrochen hatten, die Demokratie schmackhaft machte wie einem bockigen Kind besseres Benehmen: mit dem Versprechen auf Pudding! Das half. Erst im Westen, im Osten mit leichter Verzögerung.

Freiheit heißt volle Kühlschränke

Inzwischen lieben wir die Freiheit sehr. Freiheit, haben wir gelernt, heißt volle Kühlschränke, warme Wohnungen und Ballermann für alle. Weniger flapsig: Die Demokratie sei diejenige Staatsform, die ihren Bürgern den größten Wohlstand verspreche. Aha!
Könnte sein, dass wir umlernen müssen. Was den Wohlstand betrifft, haben unsere autokratischen Widersacher nicht nur aufgeholt, sie haben uns auch hübsch an der Nase herumgeführt. Während wir mit „Wandel durch Handel“ ihre geschlossenen Gesellschaften allmählich für freiheitliche Werte zu öffnen meinten, interpretierten sie die Formel anders: Wenn man diese finanzkräftigen Dussel nur lange genug mit billiger Energie, billigen Waren und billigen Arbeitskräften versorgt, entsteht erst Gewöhnung, dann Abhängigkeit – und schließlich hat man sie an der Leine.
Nun kann man relativ ungeniert missliebige Journalisten zersägen, widerborstige Volksgruppen internieren oder Nachbarländer überfallen. Nachhaltig Ärger ist nicht zu befürchten. Die Angst vor dem Verlust der Bequemlichkeit ist viel zu groß.

Verachtung des Freiheitsgedankens

Dahinter lauert natürlich die uralte Verachtung des Freiheitsgedankens, die sich als Widersacherin aller Emanzipationsbestrebungen durch die Jahrtausende zieht und nach einer leicht verschämten Zwangspause auch hierzulande neuen Zulauf findet: Der Mensch sei mitnichten frei geboren, sondern schwach, abhängig und einer starken Hand bedürftig. Einer Hand, die ihn füttert, anleitet und ihm bei gelegentlichem Aufflackern freiheitlicher Flausen die erforderlichen Prügel verabreicht.
Eine stumpfe, gewalttätige und, nebenbei gesagt, streng patriarchalische Aufteilung des Daseins in Herrscher und Beherrschte. Dinge wie Würde, Selbstsein, Geist, Entwicklung kommen darin nicht vor. Alles Neue und Überraschende erstickt im Zement einer angeblich natürlichen Ordnung. 
Dem antiken Philosophen Demokrit wird der Satz zugeschrieben, dass er es vorziehe, in einer Demokratie arm, als unter einem Tyrannen reich zu sein. Kein Ausdruck eines weltfremden Idealismus, vielmehr ein erstaunlich frühes Zeugnis demokratischen Stolzes, welcher unter anderem auf der Einsicht beruht, dass in einer Autokratie selbst die Reichen den Launen ihrer Machthaber ausgeliefert bleiben. Niemand ist sicher, niemand frei, das ganze Land in Geiselhaft. Heutzutage lässt sich das in Staaten wie Saudi-Arabien, China und aktuell besonders Russland anschaulich studieren.

Bereitschaft zur Selbstbestimmung

Demokratie hingegen ist diejenige Staatsform, welche die Mündigkeit ihrer Bürger:innen voraussetzt, also die Bereitschaft und die Fähigkeit zu innerer wie äußerer Selbstbestimmung. Keine Kleinigkeit, natürlich nicht. Denn weder kommt solche Mündigkeit von allein, noch wird sie je Besitz. Sie erfordert den ständigen, oft mühevollen Einsatz der Einzelnen, die sich für das Ganze verantwortlich wissen. In widrigen Zeiten gilt das besonders.
Was uns zu unserem Ausgangspunkt zurückbringt: Für uns als demokratische Öffentlichkeit wird das nächste Dreivierteljahr zu einer Art Bewährungsprobe. Der Winter könnte ungemütlich werden. Eine längere Wirtschaftskrise scheint möglich. Der Lebensstandard könnte sinken. Schon wittern die üblichen Verdächtigen aus den diversen extremistischen Lagern Morgenluft und rufen zu Unruhen auf. 
Dann wird sich zeigen, ob es uns nur um volle Kühlschranke und warme Stuben ging – oder ob wir den Wert der Freiheit tatsächlich kennen und lieben gelernt haben.

Florian Goldberg, geboren 1962, hat in Tübingen und Köln Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht. Im Künstlerduo „tauchgold“ entstehen zusammen mit Heike Tauch Hör- und Bühnenstücke.

Ein älterer Mann mit Brille und kurzen Haaren.
© Anke Beims
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