Heinrich Geiselberger (Hg.): "Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit"
Edition Suhrkamp, Berlin 2017
319 Seiten, 18 Euro
Doch kein Ende der Geschichte
Woran liegt es, dass überwunden geglaubte Phänomene wie Nationalismus und Autoritarismus plötzlich wieder aufkommen? Zum Beispiel, dass viele sich von einer nur marktkonformen Demokratie im Stich gelassen fühlten, meint der Soziologe Oliver Nachtwey.
Nach dem Zerfall des Sowjetimperiums sprachen manche bereits vom "Ende der Geschichte": Fortan seien der liberale Kapitalismus und die liberale Demokratie auf einem weltweiten Siegeszug. Heute müsse man erkennen, dass man damals zu optimistisch gewesen sei und warnende Stimmen nicht hören wollte, meint der Soziologe Oliver Nachtwey:
"Zum Beispiel Ralf Dahrendorf, der große deutsche Soziologe, der schon in den 1990er-Jahren von einem möglicherweise autoritären 21. Jahrhundert gesprochen hat", sagte er im Deutschlandradio Kultur.
Der Januskopf der Individualisierung
Wissenschaftler wie Nachtwey beobachten überall Tendenzen einer gesellschaftlichen Regression, eine Rückwendung zu nationalischen, protektionistischen, autoritären Einstellungen. In ihrem Buch "Die große Regression" untersuchen sie die Gründe und Dynamiken, die dazu geführt haben.
Für Nachtwey spielt dabei die Ambivalenz von Individualisierungsprozessen eine große Rolle: Einerseits habe sie sie die Menschen aus alten, starren Klassen- und Lebensverhältnissen befreit. Heute könne jeder sein Leben so führen, wie er wolle. Gleichzeitig seien die Menschen durch die Individualisierung dem Markt sehr unmittelbar ausgesetzt: "Wenn man nicht genug Glück hat, nicht genug leistet, dann kann man sehr schnell absteigen, fühlt sich sehr schnell abgewertet. Und dann ist der Markt plötzlich kein Freiheitsmedium mehr, sondern etwas im Grunde Autoritäres, was die Leute bestraft, die nicht marktgerecht genug sind."
Gefahr für die Demokratie
Inwiefern durch diese Prozesse die Demokratie bedroht wird, ist Nachtwey zufolge derzeit offen. "Es besteht schon eine große Gefahr für die Demokratie, dass die Menschen sich von der Demokratie abwenden, weil sie sich von ihr im Grunde im Stich gelassen fühlen durch die Globalisierung, der die Demokratie nichts entgegensetzt, sondern wie die Kanzlerin Frau Merkel gesagt hat: man muss im Grunde marktkonform nur noch regieren."
Auf der anderen Seite engagierten sich sehr viele Menschen, auch in Deutschland, für eine bessere, zivilisiertere Welt, betont Nachtwey. "Wir sehen gerade die AfD. Andererseits übersehen wir häufig, wie viele Menschen - es sind Millionen - sich für Flüchtlinge engagiert haben. Eine sehr zivilisierte Handlung."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Man muss sich nur umschauen und sieht sie überall: Nationalistische Stimmungen, sie sind im Aufwind, es gibt offenen Rassismus, nicht nur die Pressefreiheit, auch die Demokratie als Ganzes wird immer öfter in Frage gestellt. Fragt man sich, brechen bald alle Dämme, die seit der Aufklärung ja mühsam errichtet wurden, damit unsere Zivilisation gestärkt wird? Und letztlich stellt sich die Frage, wie stark ist sie, unsere Demokratie? Heute erscheint in der Edition Suhrkamp das Buch "Die große Regression", darin auch ein Aufsatz meines Gesprächspartners, des Soziologen Oliver Nachtwey, der forscht zu Arbeit, Ungleichheit, Protest und Demokratie und schreibt auch für Zeitungen und Onlineportale. Jetzt ist er am Telefon. Schönen guten Morgen!
Oliver Nachtwey: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Herr Nachtwey, waren wir, also wir, die Gesellschaft, die Wissenschaft, die öffentliche Meinung, lange Zeit einfach zu blauäugig, dass die Geschichte immer nur in Richtung Aufklärung geht und immer besser, immer zivilisierter wird, auch alle Auseinandersetzungen?
Nachtwey: Das war man in der Tat. Vor allen Dingen in den 90er-Jahren hat man gedacht, jetzt sei das Ende der Geschichte gekommen und der liberale Kapitalismus und die liberale Demokratie würden sich immer weiter durchsetzen. Gleichwohl, es gab die warnenden Stimmen, zum Beispiel Ralf Dahrendorf, der große deutsche Soziologe, der hat schon in den 1990er-Jahren von einem möglicherweise autoritären 21. Jahrhundert gesprochen hat. Aber diese Stimmen wollte man nicht wirklich wahrnehmen.
Trump ist selbst bei seinen Wählern unbeliebt
von Billerbeck: Sie haben den Aufsatz genannt, der in diesem Buch erscheint. "Über regressive Tendenzen in westlichen Gesellschaften", und da fällt einem natürlich sofort Donald Trump ein. Ich zitiere da mal: "Der verkörpert in vielen Hinsichten die Negation dessen, wie sich die westliche Welt selbst beschreibt. Als Gesellschaften der Selbstkontrolle, in denen die Kräfte des sozialen Fortschritts zu Hause sind, Aufklärung, Gleichberechtigung und soziale Integration vorantreiben." Erklärt das den Erfolg von Donald Trump, dass er so gegen ist?
Nachtwey: Nein, das erklärt das nicht. Allerdings ist es natürlich schon eine Überraschung, dass ausgerechnet so jemand, der sich wirklich offensichtlich nicht unter Kontrolle hat und gegen alle anderen schießt, mit einer relativen Mehrheit zum Präsidenten gewählt werden kann. Und man muss sich dann fragen, was passiert denn da in diesen Gesellschaften, dass solche Leute ihn wählen? Und das ist das Interessante, sie wählen ihn ja nicht wegen Trump, sondern eher trotz Trump. Er hat eine sehr große Unbeliebtheit.
Aber die Menschen in den USA wollen wohl einmal auf den Tisch hauen. Ein Auf-den-Tisch-Hauen gegen die liberalen Eliten, gegen Hillary Clinton und gegen ein System, in dem sie sich immer weiter benachteiligt fühlen. Und weil sie keine demokratischen Möglichkeiten mehr sehen, dagegen anzugehen, sehen sie Möglichkeiten zwar in der Demokratie, aber man wählt eben einen nicht unbedingt Demokraten.
von Billerbeck: Nun heißt die Demokratie ja auch, sie birgt ganz viele Möglichkeiten für den Einzelnen, wir können individuell uns entfalten. Aber das hat ja auch im Umkehrschluss eine negative Seite. Diese negative Individualisierung, die Vereinzelung, die birgt ja auch das Risiko des sozialen Abstiegs.
Nachtwey: Ja, natürlich. Und das scheint mir eine große Bedeutung in diesem Prozess zu haben. Einerseits ist natürlich die Individualisierung eine Emanzipation aus den alten Klassenverhältnissen, aus den alten starren, dörflichen, ländlichen Verhältnissen. Und jetzt ist man individualisiert, man kann sein Leben im Grunde führen, wie man möchte. Gleichzeitig ist man aber dem Markt sehr unmittelbar auseinandergesetzt ausgesetzt. Wenn man nicht genug Glück hat, nicht genug leistet, dann kann man sehr schnell absteigen, fühlt sich sehr schnell abgewertet, und dann ist der Markt plötzlich kein Freiheitsmedium mehr, sondern etwas im Grunde Autoritäres, was die Leute bestraft, die nicht marktgerecht genug sind.
Zurück in die 1950er-Jahre
von Billerbeck: Und dann gibt es da die berühmten mittelalten Männer, die sich radikalisieren, die wir ja in vielen Momenten bei Demonstrationen, bei Äußerungen auch im Netz erleben. Und Sie schreiben da, Radikalisierung erlaubt es den Menschen, sich wieder souverän zu fühlen. Warum ist genau das, nämlich diese Radikalisierung für Männer mittleren Alters, mittleren Einkommens und mittlerer Bildung so attraktiv?
Nachtwey: Genau diese Gruppe war die Kerngruppe des Aufstiegs der alten Industriegesellschaft in den 50er- und 60er-Jahren. Viele Männer, auch die relativ unqualifizierten Männer konnten eine geringe Bildung erlangen oder in den Fabriken vor Ort genug Einkommen erwerben, um die Familie zu ernähren. Und diese Gruppen fühlen sich jetzt vor allen Dingen durch die Globalisierung im Grunde abgewertet. Ihre Fabriken werden geschlossen, ihre Bildungsqualifikation gilt nichts mehr.
Und während sie wahnsinnig unter Druck stehen, ziehen aus ihrer Sicht die Frauen an ihnen vorbei. Sie, die ehemals Etablierten, die Haushaltsvorstände, die die Familien geführt haben, die fühlen sich von allen Seiten unter Druck. Und dieses Unter-Druck-Sein, das führt bei diesen Menschen dazu, eben diesen mittelalten Männer, dass sie gewissermaßen um sich schlagen und die Konkurrenten abwerten. Die Chinesen, die sie bedrohen, die Frauen, die an ihnen vorbeiziehen. Und sie möchten im Grunde zurück zu dieser alten Gesellschaft, in der sie noch das Sagen hatten.
Marktkonformes Regieren - eine Gefahr für die Demokratie
von Billerbeck: Nun möchte ich natürlich hoffen, dass diese regressiven Tendenzen, also ich benehme mich wie ein Kind, ich bocke, ich lasse alles raus, was mir so einfällt, ich benehme mich auch so, unter dem Strich ja doch dazu führen könnte, dass unsere Zivilisation gefestigt wird. Oder droht die Gefahr, dass das ganze System nicht nur erschüttert wird, sondern sogar einstürzt?
Nachtwey: Das ist im Grunde eine offene Situation gerade. Es besteht schon eine große Gefahr für die Demokratie, dass sich die Menschen von der Demokratie abwenden, weil sie sich von ihr im Grunde im Stich gelassen fühlen durch die Globalisierung, der die Demokratie nichts entgegensetzt, sondern die Kanzlerin Frau Merkel gesagt hat, man muss im Grunde marktkonform nur noch regieren. Und deshalb ist das die eine Gefahr, aber in den USA hätte auch ein demokratischer Sozialist wie Bernie Sanders die Wahlen durchaus gewinnen können. Dass da Trump jetzt der Präsident geworden ist, das hat natürlich was damit zu tun, dass er die Hälfte der Amerikaner auf seine Seite bringen konnte.
Andererseits ist das eine offene Situation. Sehr viele Menschen, auch in Deutschland, wollen sich für etwas anderes, für eine bessere, zivilisiertere Welt engagieren. Wir sehen gerade die AfD, andererseits übersehen wir häufig, wie viele Menschen – es sind Millionen – sich für Flüchtlinge engagiert haben, eine sehr zivilisierte Handlung. Und deshalb ist es eine offene Situation, aber wir müssen durchaus besorgt sein.
von Billerbeck: Der Soziologe Oliver Nachtwey war das. Ich danke Ihnen!
Nachtwey: Ich danke auch!
von Billerbeck: Das Buch "Die große Regression", in dem auch sein Aufsatz enthalten ist, erscheint heute in der Edition Suhrkamp.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.