Wir stehen vor Herausforderungen, die wir nur gemeinsam bewältigen können. Und in dieser Hinsicht, denke ich, ist es sinnvoll, Partizipation eben auch als eine Zumutung oder beinahe schon eine Art Belästigung zu verstehen und das auch offen auszusprechen.
Demokratie in der Krise
Muss unsere Demokratie heute anders gestaltet werden? Ja, meint der Philosoph Andreas Urs Sommer und plädiert für mehr direkte Demokratie. © imago / fStop Images / Hermann Müller
Mehr Mitbestimmung wagen
31:12 Minuten
Demokratien geraten weltweit unter Druck. Kann mehr direkte Beteiligung sie stärken? Die Institutionen sollten sich dafür öffnen, fordert der Philosoph Andreas Urs Sommer. Mehr Engagement wäre uns allen zumutbar, meint sein Kollege Felix Heidenreich.
Populistische Anfeindungen, Fake News, Verschwörungserzählungen: Die westlichen Demokratien erfahren derzeit reichlich Gegenwind. Gerade in Krisenzeiten, angesichts von Ukrainekrieg, Coronapandemie und Klimawandel, stehen sie zudem in der Kritik. Der Staat, so lautet der Vorwurf, leiste nicht genug, um seine Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen.
Beteiligung als Bürgerpflicht
Aber ist diese Sichtweise womöglich Teil des Problems? Verengt sie das Verhältnis von Staat und Menschen nicht auf eine Art Dienstleistungsbeziehung und blendet dabei aus, was jeder und jede Einzelne zum Gelingen des demokratischen Gemeinwesens beizutragen hat? Der Philosoph und Politikwissenschaftler Felix Heidenreich, Privatdozent an der Universität Stuttgart, meint, dass der Staat uns allen in diesem Sinne mehr abverlangen sollte.
Es entspreche durchaus demokratischen Grundsätzen, wenn der Staat "auf die Bürgerinnen und Bürger zugeht und sie zur Mitarbeit verpflichtet", so Heidenreich. Die Wehrpflicht, eine Wahlpflicht und die Rekrutierung als Schöffin oder Schöffe seien etablierte Beispiele dafür. Partizipation sei eben nicht nur ein Angebot der Politik, das die Regierten annehmen oder auch ablehnen könnten.
Demokratie ist kein Supermarkt
"Ich glaube, diese Begrifflichkeit des Angebot-Machens oder die Bürgerinnen und Bürger Abholens und so weiter, das ist eine gefährliche Art, Demokratie darzustellen, weil das so ein bisschen den Eindruck erweckt, Demokratie sei so ähnlich wie ein Supermarkt, in dem man sich die Dinge aussuchen könne – und wenn einen nichts interessiert, dann könne man es eben auch bleiben lassen."
Wir bräuchten weniger Repräsentation und viel mehr Partizipation, das bedeutet: viel mehr direkt-demokratische Entscheidungen darüber, wie dieser politische Raum, den wir alle bewohnen, zu gestalten ist.
Auch Andreas Urs Sommer, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Universität Freiburg möchte die Demokratie durch mehr Partizipation stärken. Er sieht dabei vor allem die Politik in der Pflicht, mehr Möglichkeiten der Beteiligung zu schaffen. Sommer plädiert dafür, dass Bürgerinnen und Bürgern in aktuellen politischen Sachfragen mitentscheiden können. Viele Menschen machten "Ohnmachtserfahrungen", weil sie daran nicht beteiligt seien. Das Grundproblem sieht Sommer dabei im Prinzip der repräsentativen Demokratie, das politische Geschäft an gewählte Stellvertreter zu delegieren.
Einübung in Mitbestimmung
Das Prinzip der Repräsentation widerspreche letztlich der Philosophie der Aufklärung, die dem einzelnen Menschen "Autonomie, Selbstgestaltung und Mündigkeit" zuschreibe, sagt Sommer. Die politische Praxis stehe dagegen immer noch in der Tradition der Ständegesellschaft, indem sie darauf setze, dass einzelne im Interesse homogener Gruppen sprechen könnten.
"Wir aber heute sind derart vervielfältigt, derart individualisiert, derart diversifiziert, dass so etwas wie Gruppenrepräsentation eigentlich die vollkommen falsche Gedankenfigur ist, um zu fassen, worum es da geht", sagt Sommer. Deshalb plädiert er für einen starken Ausbau direkter Demokratie. Antidemokratische Tendenzen, die derzeit in vielen westlichen Gesellschaften lauter werden, lassen ihn an diesem Kurs nicht grundlegend zweifeln.
"Ich glaube nicht, dass wir per se Demokraten sind, sondern wir werden es durch Einübung", sagt Sommer. "Wenn wir die Erfahrung machen, dass wir mitbestimmen können, dass wir auch in den Sachgeschäften mit gefragt sind, dann erziehen wir uns selber zu Demokratinnen und Demokraten." Auch das wäre eine produktive "Zumutung", wie Felix Heidenreich sie beschreibe, so Sommer.
(fka)
Felix Heidenreich: „Demokratie als Zumutung. Für eine andere Bürgerlichkeit"
Klett-Cotta, Stuttgart 2022
336 Seiten, 25 Euro
Andreas Urs Sommer: "Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert. Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört"
Herder, Freiburg 2022
272 Seiten, 20 Euro