Meinung

Krise? - Demokratie ist stärker, als viele meinen

04:39 Minuten
Demo Lichtermeer der Hoffnung gegen Rechtsextremismus. Viele Tausende haben sich am Brandenburger Tor versammelt, um gegen Rechts zu demonstrieren. Wir sind mächtig und auch kräftig. Bunt statt Braun. Ich will eine bunte Zukunft. FCK AFD.
Die Stärke der Demokratie besteht gerade in gegensätzlichen politischen Diskursen, die verschiedene Weltanschauungen spiegeln, meint der Philosoph Hans-Martin Schönherr-Mann. © IMAGO / Achille Abboud / IMAGO / Achille Abboud
Ein Einwurf von Hans-Martin Schönherr-Mann |
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Um die Demokratie scheint es derzeit nicht zum Besten bestellt zu sein. Populistische Kräfte werden nahezu überall stärker. In dieser Zerreißprobe für die Demokratie müssen Demokraten die Nerven bewahren und dürfen nicht ihre Grundsätze verraten.
Peter Sloterdijk schreibt in seinem neuen Buch über Europa "Der Kontinent ohne Eigenschaften": „Was man heute Populismus nennt, meint oft nichts anderes als den Traum der Provinz, der Metropole eine Lektion zu erteilen, die sie nicht so schnell vergisst.“
Eine solche Lehre erteilt Sloterdijk urbanen Europäern auch, die für ihn eine „Population von Welt- und Selbstmüden“ darstellen, die sich „der Verniemandung überlassen“ und keine „phallische Strahlkraft“ mehr haben wie noch im 19. Jahrhundert die imperialen Hauptstädte London, Paris, Berlin.

Leiden westliche Demokratien an Ermüdung?

Leiden das Europa der Europäischen Union und damit die westlichen Demokratien an solchen Ermüdungserscheinungen? Im Sinne von Sloterdijk lässt sich der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien als Antwort auf diese Ermüdungserscheinungen verstehen. Solche Parteien wünschen sich eine schwächere EU, dafür wieder stärkere Nationalstaaten.
An die Macht gelangt wie in Ungarn, und bis vor einem Jahr in Polen beherrschen sie den staatlichen Rundfunk und versuchen Einfluss auf die Gerichte zu gewinnen. Eine Kleinigkeit ist das nicht, sondern damit bedrohen sie demokratische Institutionen.
So sind die Länder der EU sozial und politisch gespalten. Einerseits in Parteien und Gruppen der Bevölkerung, die sich weniger Demokratie wünschen, zumindest weniger liberale Demokratie. Und andererseits in Parteien und Gruppen, die die europäische Integration genauso bejahen wie die diversen Emanzipationsbestrebungen von Minderheiten.
Es gibt wohl kein politisches Problem, das in der EU nicht auf viele verschiedene Weisen beantwortet würde.

Pluralismus ist Populisten lästig geworden

Das macht Populisten nervös – und eher rechte Denker wie den Philosophen Sloterdijk. Aber bei weitem nicht nur sie. Gelegentlich hat man den Eindruck, als wäre der Pluralismus der verschiedenen Weltanschauungen den meisten lästig geworden, fordern manche, gerade linke Gegner der Rechtspopulisten wie Jürgen Habermas, gar ein einheitliches Weltbild. Doch wie demokratisch wäre das?
Liegt nicht der Charme Europas wie der Demokratie just in der Vielfalt und damit auch in vielen lebendigen politischen Diskursen voller Gegensätze?
Die repräsentative Demokratie, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Europa entwickelt wurde, zielte primär auf schnelle Entscheidungen, um das Regieren zu erleichtern. Eine solche Führung lenkt das Volk dadurch, dass sie Bedrohungen ausmalt, die angeblich keine langsamen Entscheidungsprozesse mehr erlauben.
Vielleicht ließen sich die Menschen vor einem halben Jahrhundert im Kalten Krieg leichter lenken. Aber auch schon damals gab es massive Proteste beispielsweise gegen den Kapitalismus, gegen Aufrüstung oder für mehr Umweltschutz. Und unter heutigen Kommunikationsbedingungen, wo sich jede gesellschaftliche Position über die sozialen Medien selbst eine Öffentlichkeit schafft, ist diese Art von Regieren nicht mehr realistisch.

Demokratie verlangt komplizierte Kompromisse

Demokratie kann und darf nicht bloß eine breitere Legitimation politischer Führung sein, sondern muss möglichst vielen Menschen Chancen bieten, politisch gehört zu werden und einen gewissen Einfluss zu entfalten. Mag dieser auch noch so marginal sein und manchen unerfreulich vorkommen.
Demokratie verlangt komplizierte Kompromisse, langwierige Verhandlungen, die häufige Wiederholung von Wahlen, die Teilhabe der Betroffenen durch Volksabstimmungen.
Kein Weg führt in der Demokratie an bedächtigen Prozessen vorbei, um zu verhindern, dass Menschen charismatischen Führern nachlaufen, anstatt selber nachzudenken. Die Verteidiger der liberalen Demokratie müssen auch angesichts der rechtspopulistischen Bedrohung an ihren Grundsätzen festhalten. Sonst droht die Demokratie auch durch sie Schaden zu nehmen.

Hans-Martin Schönherr-Mann ist Professor für Politische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Essayist und Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm: „Hannah Arendt. Vom gefährlichen Denken“, Römerweg Wiesbaden 2023, sowie „Max Weber – Denken in einer entzauberten Welt, Römerweg Wiesbaden 2024.

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