Roger Willemsen: Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014
400 Seiten, 19,99 Euro
"Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee?"
Ein Jahr lang hat sich der Autor Roger Willemsen sämtliche Reden über allerlei Themen im Bundestag angehört und dabei entdeckt, dass die parlamentarische Redekultur tot ist. Neben den üblichen Anfeindungen konnte Willemsen sogar eine Romanze beobachten.
Joachim Scholl: "Dass da noch niemand drauf gekommen ist", soll der selige Dieter Hildebrandt ausgerufen haben, als er vom Projekt des Schriftstellers Roger Willemsen hörte – ein Jahr im Parlament zu verbringen, die Ohren zu stellen und mitzuschreiben, was täglich, wöchentlich dort öffentlich geschieht. Heute erscheint das Ergebnis, das Buch "Das Hohe Haus" von Roger Willemsen, es ist bereits nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse. Guten Tag, Herr Willemsen!
Roger Willemsen: Tag, Herr Scholl!
Scholl: Von Januar bis Dezember 2013 in 22 Sitzungswochen des Deutschen Bundestags waren Sie fast täglich im Parlament und haben täglich bös gelitten, wie man liest. Sind Sie jetzt in Therapie?
Willemsen: Mein Gesäß musste therapiert werden, weil es so hart ist da oben. Aber psychologisch hat es mir eher geholfen. Moralisch hat es mir in mancherlei Hinsicht auch geholfen.
Scholl: Wie sind Sie denn, um mit dem verehrten Dieter Hildebrandt zu sagen, auf die Idee gekommen, ein Jahr auf diese Weise zu verbringen?
Willemsen: Wissen Sie, ganz profan – ich saß zu Weihnachten mit meinem Verleger zusammen und der sagte: Was willst du als nächstes machen? Und ich sagte, ich will das Land sehen. Und da sagt er: Wo willst du das finden? Willst du noch eine Deutschlandreise machen? Und ich sagte, nein, man müsste sich eigentlich mal ein Jahr auf die Tribüne des Bundestages setzen. Und so geschah es. Er fand die Idee gut, und zwei Wochen später saß ich zum ersten Mal da.
"Wenn der charismatisch ist, dann muss das ein Verführer sein"
Scholl: Sie haben dutzende von Debatten und Reden minutiös protokolliert und fast immer diesen Grundakkord, so Ihr Wort, gehört: wechselseitige Missbilligung und rhetorische Ehrabschneidung. Und Ihr Fazit, eigentlich fast täglich, könnte man so zusammenfassen: Die parlamentarische Rede ist tot. Woran liegt das?
Willemsen: Es liegt vielleicht hauptsächlich daran, dass auf der einen Seite Debatten dem Fraktionszwang so stark geschuldet sind, dass man dauernd Huldigungsadressen an die ergehen lässt, von denen man sich einen Karriereschub verspricht, das heißt im Zweifelsfalle die Minister. Das Parlament kontrolliert also nicht mehr die Regierung, sondern es begleitet die Regierung freundlich. Das ist mit der großen Koalition noch schlimmer geworden. Und zweitens wird dem großen Redner, auch dem charismatischen Redner gerne etwas Rattenfängerisches zugesprochen, und dann denkt man plötzlich: Wenn der gut redet, wenn der charismatisch ist, dann muss das ein Verführer sein. Und insofern triumphieren im Bundestag zu einem guten Prozentsatz die eher glanzlosen Gestalten.
Scholl: Die härteste Formulierung in Ihrem Buch, die fällt so zirka nach einem halben Jahr Zeugenschaft, da fragen Sie: "Ist dies nicht auch das Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee?" Da zuckt man natürlich auch als Leser sofort zusammen. Sie selbst geben keine Antwort. Aber ist Ihr Buch aufs Ganze gesehen nicht ein einziges Ja auf diese Frage?
Willemsen: Nicht ganz. Ich bin froh, dass Sie diese Formulierung isolieren, denn tatsächlich ist es so: Wenn man, wie ich, romantisch an der Idee eines Parlaments hängt, in dem gesellschaftliche Gruppierungen sich wiederfinden, ihre Interessen miteinander in Konflikt bringen und schließlich Handlungsanweisungen entstehen, dann ist das etwas, wofür zu Recht gekämpft wurde. Dafür sind die Leute auf Apfelsinenkisten gestiegen, dafür haben sie sich ins Gefängnis bewegt. Daran muss man hängen, an dieser romantischen Idee. Auf der anderen Seite sind die Stereotypen, die Floskeln, das Sich-Niedermachen, die Unaufmerksamkeit, die sich das hohe Haus selbst entgegenbringt, das alles ist so beklemmend, dass man immer zwischen dem einen Impuls, die Idee schön zu finden, und dann die Einlösung dieser Idee grauenhaft zu finden, hin- und herschwankt. Es heißt aber trotzdem, dass zwischendurch Debatten stattfinden oder Ereignisse stattfinden, die dem Haus auch seine Größe geben.
Scholl: Ja, gab es Momente, in denen dieses Hohe Haus wirklich ein hohes war?
Willemsen: Sehen Sie, wenn Sebastian Edathy als Leiter des NSU-Untersuchungsausschusses ans Mikrofon geht und sagt, "Wir haben nicht nur rassistische Attentate erlebt, wir haben rassistische Nachforschungen erlebt und wir sind im Untersuchungsausschuss nach Strich und Faden belogen worden", und dann sitzt oben auf der Tribüne eine Gruppe von Angehörigen der türkischen Opfer, und es sitzt da der Bundespräsident, und das ganze Parlament bekennt sich schuldig, dann ist das ein Moment, in dem ich finde, dass eine gewisse Größe hergestellt wird, gerade im Bedauern. Es gibt aber auch die ganz kleinen Fälle, wo man das Gefühl hat, drei Abgeordnete aus drei Parteien reden über Grenzprostitution und Menschenhandel, und plötzlich sind alle sachverständig, und die eine war sogar in einem Bordell in Tschechien, und plötzlich hat man das Gefühl, man sieht etwas von uns, von unserer Welt – das ist beglückend.
"In dem Augenblick ist die parlamentarische Streitkultur kaputt"
Scholl: Ein Jahr hat der Schriftsteller Roger Willemsen im Parlament verbracht. Über sein Buch, das heute erscheint, sind wir mit dem Autor hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Man liest Ihr Buch, Herr Willemsen, doch unter Qualen und Schmerzen, würde ich sagen, weil es auch alle Ressentiments gegen die parlamentarische Demokratie zu bestätigen scheint, Ressentiments des Stammtischs von, ja, die da oben, wir da unten, aber auch so die gefährlicheren Ressentiments, mit denen Rechtsradikale Stimmung machen gegen die Demokratie. Das muss Sie auch beschäftigt haben beim Schreiben. Wie war das für Sie?
Willemsen: Das hat es auch, weil ich bis zuletzt eigentlich an diesem Parlament gehangen habe und es immer noch tue. Ich gehöre zwar jetzt stärker der außerparlamentarischen Opposition an und denke, in einer Situation, in der 70 Minuten ein Standpunkt von zwei Parteien ausgefaltet wird, und dann hat die Opposition 10 Minuten Zeit, die ihren Standpunkte, und zwar meistens geringer differenziert, auszufalten – in dem Augenblick ist die parlamentarische Streitkultur kaputt. Dazu kommt, dass sie heute gesteuert wird von den Entscheidungsagenturen außerhalb des Parlaments, also Europäisches Parlament, Bundesverfassungsgericht, Talkshows, Wirtschaftsverbände, all die strahlen in dieses Parlament ein und nehmen ihm etwas. Und insofern ist das Bedauern immer auch das eines enttäuschten Idealisten.
Scholl: Wir reden ja oft vom politikverdrossenen Bürger. Sie haben aber auch den politikverdrossenen Politiker erspäht.
Willemsen: Ja, ich habe ihn in großer Massierung gefunden. Sie würden sich wundern, wie oft die Bank der Minister zwar vollständig besetzt ist, wenn eine wichtige Sitzung anfängt, dass sie aber nach kürzester Zeit feststellen: Niemand, der dort sitzt, hat einem einzigen Satz Folge geleistet, der dort gesprochen wird. Niemand hört zu. Und kommt er namentlich vor, dann wird er sofort eine Geste machen, die klar macht: Ich finde es witzig, ich bin nicht bei dir, ich finde es nicht wert, dass man zuhört. Und wenn Sie sich vorstellen, dass die Tribüne gesagt bekommt, ihr dürft kein Kaugummi kauen, ihr dürft nicht trinken, ihr dürft nicht essen, ihr dürft nicht telefonieren, ihr dürft nicht schmusen, ihr dürft nicht schlafen, und unten sieht man all das – bis auf das Küssen vielleicht oder das Schmusen –, und man sieht irgendwie, wie man sich mit Missachtung straft, surft, wie man nicht zuhört, wie man sich wegwendet, wenn man gemeint wird, dann ist das schon eine Demonstration von Verachtung, die eigentlich den parlamentarischen Gedanken selbst trifft.
"Ich habe auch eine Romanze beobachten können von da oben"
Scholl: "Ist es nicht auch heroisch, so zu leben?", fragen Sie aber an einer Stelle auch, angesichts eines tapferen Abgeordneten, der eine wackere Rede gehalten hat und dann, von drei Leuten beklatscht, wie sie schreiben, zu seinem Platz geht. Also den einen oder anderen Helden gibt es doch.
Willemsen: Ganz recht. Also, Herr Scholl, es gibt ganze, ganze Fraktionen im Parlament, die mir großen Respekt gemacht haben, weil sie sachkundig arbeiten, weil sie eine ungemein anschauliche Form der Rede vorstellen, weil sie sich zwei Jahre in einem Ausschuss auf ein Thema vorbereiten, eine Debatte, der dann ein paar Leute folgen, dann klatschen ein paar und das war’s, das ist gewissermaßen ihre Lebensleistung, und dann geht es die nächsten drei Jahre in die nächsten Ausschüsse – also so leben zu wollen mit einer Arbeitsbelastung von 16 Stunden am Tag sehr häufig. Denn das ist das Vorurteil über den Parlamentarier, was sicher nicht stimmt: Er ist und sie ist auch sehr fleißig, also das führt an die Grenze der Belastbarkeit häufig.
Scholl: Ihr Buch lebt auch von der Beschreibung der Nebensachen, also der Atmosphäre im Reichstag, auf der Tribüne, so die Kleinigkeiten. Eine Figur, die lässt mich seit der Lektüre nicht mehr los, das ist der alte Saaldiener.
Willemsen: Ach wie nett.
Scholl: Ja, man sieht diese Helfer ja auch so zwischendurch im Fernsehen, so honorig im Frack, wie sie Wasser reichen, allerlei Dienste verrichten. Und ein älterer Herr unter diesen Saaldienern, der muss Sie besonders fasziniert haben, literarisch sozusagen. Man denkt auch sofort: Wäre ein toller Romanstoff!
Willemsen: Sie haben so recht! Das ist wie eine russische Figur oder wie eine Figur aus einem russischen Roman. Er ist immer da, er hört immer zu, manchmal halb erloschen unter der Tafel sitzend, wo die nächsten Programmpunkte angekündigt werden. Er reicht die Papiere an, er nimmt die Manuskripte entgegen. Man hat das Gefühl, die Geschichte verkörpert sich in ihm. Er hat sie alle schon reden hören, er hat alle Streitereien erlebt. Und wissen Sie, ich habe ja auch erlebt Protestaktionen, ich habe einen Schlaganfall, der direkt nach Absolvieren einer Rede stattgefunden hat, im Parlament erlebt, ich habe auch eine Romanze beobachten können von da oben und sage nicht, wer es war - das alles hat dieser alte Saaldiener gesehen, der kostümiert aussieht in seinem Frack und der doch eine moderne Demokratie begleitet. Das ist schon eine literarische Figur.
"Ich würde ihnen eine weniger floskelhafte Rede empfehlen"
Scholl: Das mit der Romanze, da werden Sie glaube ich nicht so leicht davonkommen, wenn es hochkommt. Sie können jetzt auf unsere Diskretion vertrauen. Herr Willemsen, instinktiv wünscht man ja einem Buch, dass es, ja, vielleicht so jemand wie Norbert Lammert liest, der als Präsident des Deutschen Bundestags dann sagt: Mensch, den Willemsen, den lade ich jetzt mal ein in den Bundestag, den lasse ich mal eine Rede halten! Was würden Sie denn dem Hohen Haus gerne mitteilen?
Willemsen: Ich würde dem Hohen Haus eine höhere Dringlichkeit beim Vertreten der Interessen von Bürgern empfehlen, anders als bei Interessen von Parteien oder Fraktionsstandpunkten. Ich würde ihnen eine weniger floskelhafte Rede und einen heftigeren Streit empfehlen. Ich würde wirklich auch mir wünschen, dass all das, was dort totes Zeremoniell geworden ist, also schönreden, schlechtreden, gegeneinander sich aufbieten, Ehrabschneidung, à la baisse spekulieren, dass man das reduzieren kann oder abschaffen kann zugunsten sachkundigerer, direkterer und auch an der höheren Differenzierung interessierterer Reden. Dann kann man dem parlamentarischen Ideal schon einiges wieder zurückgeben.
Scholl: Und der Saaldiener, der würde Sie vielleicht als Belletristen mal hervorlocken, Herr Willemsen. Die Recherche dazu haben Sie gemacht.
Willemsen: Der soll bleiben, der soll für alle Zeiten bleiben, der soll nicht altern, der soll dort sein, denn wenn schon das Haus so durchlässig ist, dass man immer denkt, Glas hält auch nichts fest, anders als andere Parlamente, dann soll da doch ein Bewusstsein sitzen, zu dem man gehen kann und sagen kann: Er hat das alles gesehen.
Scholl: "Das Hohe Haus: Ein Jahr im Parlament", so heißt das Buch von Roger Willemsen, heute erscheint es im S. Fischer Verlag, steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis in Leipzig. Roger Willemsen, alles Gute dafür und besten Dank für dieses Gespräch!
Willemsen: Vielen Dank, Herr Scholl!
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