Demokratie

Losen statt wählen?

Eine Frau steckt am 13.03.2016 in einem Wahllokal in Ludwigsburg (Baden-Württemberg) ihren Stimmzettel für die Landtagswahl in Baden-Württemberg in eine Wahlurne
Der belgische Historiker David van Reybrouck fordert, mehr über andere Formen der Bürgerbeteiligung nachzudenken © dpa/ picture-alliance / Thomas Kienzle
David Van Reybrouck im Gespräch mit Korbinian Frenzel |
Der belgische Historiker David Van Reybrouck hält es für einen Fehler, Demokratie und Wahlen gleichzusetzen. Er fordert in seinem neuen Buch "Gegen Wahlen" stattdessen öfter das Los entscheiden zu lassen.
"Ich fand das schon immer seltsam, dass wir seit 3000 Jahren eine Demokratie haben, und erst seit 200 Jahren wählen wir und wir setzen plötzlich Wahlen mit Demokratie gleich", sagte der belgische Historiker im Deutschlandradio Kultur. "Bei Wahlen kann sonst etwas herauskommen, bei Wahlen können auch Diktaturen gewählt werden und ich finde, wir sollten jetzt einfach einmal stoppen." Die große Herausforderung sei es natürlich herausfinden, was das Volk wünsche. Er schlage deshalb vor, dass Politiker stärker gezwungen seien, auch auf die Bürger zu hören. Früher habe man dafür auf andere Methoden gesetzt und beispielsweise über das Losverfahren geregelt. "Im alten Athen ist die Demokratie wirklich durch Lose entschieden worden." Auch heute gebe es schon eine Art Lotterie, das seien die Meinungsumfragen.
David van Reybrouck steht mit dem Preis in der Hand gegen eine Wand gelehnt.
Der belgische Historiker David van Reybrouck bei der Verleihung der "Gouden Ganzeveer 2014" in Amsterdam.© Remko De Waal, picture alliance / dpa

Zwei europäische Parlamente

Es gehe ihm dabei vor allem um die Legislative, sagte der Historiker. "Ich sage nicht, das Parlament soll vollständig nur noch durch das Losverfahren zusammen gesetzt werden", sagte Van Reybrouck."Warum haben wir nicht zwei Parlamente, zum Beispiel zwei europäische Parlamente?" Das eine Haus könne aus gewählten Volksvertretern besten und das andere aus Mitgliedern, die durch das Losverfahren bestimmt worden seien."Das Problem der Politiker ist, dass sie immer an die nächste Wahl denken."
(gem)

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Berlin wählt am Sonntag, die Amerikaner ihren Präsidenten oder ihre Präsidentin im November, im nächsten Jahr wählen wir alle hierzulande einen neuen Bundestag. Darüber diskutieren wir rauf und runter, aber eine Sache stellen wir dabei nie infrage, nämlich dass wir wählen, also dass wir Entscheidungen herbeiführen, indem wir abstimmen und am Ende dann eine Mehrheit gewinnt. Die Methode ist der Fehler, sagt der Mann, der jetzt bei mir zu Gast ist, der belgische Historiker David Van Reybrouck. "Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist", sein Buch mit diesem Titel ist jetzt auf Deutsch erschienen, David Van Reybrouck, ich grüße Sie!
David Van Reybrouck: Good morning!
Frenzel: Das ist keine Satire, Sie meinen das ernst, oder?
Van Reybrouck: Ja, sicher meine ich das ernst. Also, ich fand es schon immer seltsam, dass wir seit 3000 Jahren eine Demokratie haben und erst seit 200 Jahren wählen wir und wir setzen plötzlich Wahlen mit Demokratie gleich. Bei Wahlen kann sonst was herauskommen, bei Wahlen können auch Diktatoren gewählt werden. Und ich finde, wir sollten jetzt einfach mal stoppen, wir sollten einfach mal innehalten und uns fragen, warum wir Wahlen gleichsetzen mit Demokratie.
Frenzel: Aber Demokratie bedeutet ja dem Wortsinne nach die Herrschaft des Volkes.
Van Reybrouck: Ja.
Frenzel: Und wie finden wir heraus, was das Volk will, wenn nicht darüber, dass wir sagen, es gibt eine Mehrheit?
Van Reybrouck: Ja. Das ist die große Herausforderung. Was will denn wirklich das Volk? Am Wahltag, da weiß man ja nur, wer gewählt wird. Aber warum er gewählt wurde, das wissen wir nicht. Ist es weil man einen Teil seines Programmes gut fand, weil man sein gesamtes Programm gut fand? Ist es, weil er mal was Witziges gesagt hat während des Wahlkampfes, oder liegt es eventuell nur an seinem Haarschnitt? Deswegen schlage ich etwas anderes vor. Ich schlage vor, dass Politiker während der Wahlperioden auch gezwungen sind, auf die Bürger zu hören, auf das Volk zu hören.

Heute ist doch schon alles eine Lotterie

Frenzel: Wie stellen Sie sich das konkret vor, was muss da passieren?
Van Reybrouck: Nun, ich denke einfach, es geht hier um die Methode. Bei den Wahlen, die wir jetzt stattfinden lassen, früher gab es ganz andere Methoden um herauszufinden, was das Volk möchte. Man hat zum Beispiel sehr viel durch das Losverfahren geregelt. Im alten Athen ist die Demokratie wirklich durch Lose entschieden worden und sehr viele von den 7000 Funktionären, die es im alten Athen gab, wurden dann per Losverfahren gewählt.
Das mag heutzutage seltsam erscheinen, dass man auf solche alten Mittel zurückgreift, aber ehrlich gesagt: Schauen wir uns doch mal um, heute ist doch schon alles eine Lotterie. Bloß heute heißt diese Lotterie Meinungsumfragen. Und was sind Meinungsumfragen? Das sind einfach nur, wenn Leute nicht wissen, was sie denken, dann wird das irgendwie gemessen, anstatt herauszufinden, was die Leute wirklich denken. Und deswegen habe ich einen ganz konkreten Vorschlag.
Frenzel: Wie muss ich mir das konkret vorstellen? Nehmen wir mal das Beispiel Österreich, Van der Bellen oder Hofer. Da könnten wir uns eine Menge Kleber sparen, wenn das Los entscheidet, meinen Sie das?
Van Reybrouck: Nein. Das meine ich natürlich nicht, mir geht es um die Legislative. Ich sage ja auch nicht, das Parlament soll vollständig nur noch durch das Losverfahren zusammengesetzt werden. Und ich bin da auch nicht der Einzige, es gibt einen bedeutenden deutschen Wissenschaftler, Hubertus Buchstein, der ähnliche Sachen sagt. Also, ich bin zum Beispiel der Meinung, warum haben wir nicht zwei Parlamente, zum Beispiel zwei europäische Parlamente?
Das eine Parlament besteht aus dem, was wir bereits kennen, aus den gewählten Volksvertretern, und das gesamte zweite Parlament, ein zweites Haus sollte wirklich nur aus Mitgliedern bestehen, die durchs Losverfahren bestimmt worden sind. Weil, was ist denn das Problem der Politiker? Das Problem der Politiker ist, dass sie immer an die nächste Wahl denken. Und das übt einen wahnsinnigen Druck auf sie aus. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Es gab einen belgischen Umweltminister, der gesagt hat, ich weiß ganz genau, was ich gegen Global Warming machen müsste, aber wenn ich es tue, werde ich nicht wiedergewählt. Und genau das ist das Problem.

Zurückschauen ins alte Griechenland

Frenzel: Aber ist das, was Sie vorschlagen, nicht letztendlich das, was wir zum Teil schon haben, zum Beispiel auf der Ebene der Europäischen Union, wo wir ganz viele Kommissionen haben, Komitologie, Expertenräte, und gerade das ja bei vielen Bürgern zu dem Ergebnis führt, dass sie das Gefühl haben, das ist noch weiter von uns weg, da haben wir überhaupt keinen Einfluss mehr drauf?
Van Reybrouck: Ja, sehen Sie, aber genau darin liegt ja das Problem. Und wir brauchen eine Art Medizin dagegen. Weil, wenn wir zurückschauen, was ist denn Demokratie eigentlich, wenn wir zurückschauen ins alte Griechenland und jemanden wie Aristoteles nehmen, der gesagt hat, was ist Freiheit: Freiheit ist es, regiert zu werden und sich selber zu regieren. Und uns fehlt sozusagen dieser Wandel.
Der Mensch muss eben sein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Aristoteles hat auch gesagt, dass es die Aristokratie ist, die uns regiert, und dass es die Lotterie ist, die sozusagen Demokratie ermöglicht. Und das haben ganz viele Philosophen gesagt und das ist ein bisschen in Vergessenheit geraten seit der Französischen Revolution, die dann plötzlich Wahlen durchgeführt hat, um Regierungen zu ermöglichen.
Frenzel: Es wurde vergessen, aber vielleicht ja auch bewusst vergessen, weil es um eine zentrale Frage geht: Die Legitimität von Entscheidungen.
Van Reybrouck: Ja.
Frenzel: Wie kann ich begründen, dass das, was ich tue, passiert? Wenn ich gewählt bin, kann ich in dem tiefsten Moment bei den größten Widerständen immer sagen, ich habe das Mandat des Volkes.
Van Reybrouck: Ja.
Frenzel: Das kann ich beim Los natürlich nicht.
Van Reybrouck: Und doch gibt es ja schon bereits diese Form, wo das Losverfahren in vielen Ländern eingesetzt wird. Zum Beispiel in Norwegen, in Belgien, in den Vereinigten Staaten, wenn es zum Beispiel um die Gerichtsbarkeit geht, wenn zwölf Geschworene bestimmt werden durch das Losverfahren, ob jemand schuldig ist oder nicht. Ich weiß, in Deutschland gibt es das nicht, aber in der Judikative in vielen Ländern hat es bereits Einzug gehalten. Und das muss auch sehr, sehr ernst nehmen.
Das Problematische ist ja, ich habe damals in der Schule in Flandern gelernt: Die Französische Revolution hat die Aristokratie abgeschafft und die Demokratie ermöglicht. Aber wenn man sich das näher anschaut, was hat sie denn abgeschafft? Sie hat die Erbaristokratie abgeschafft und eine neue Aristokratie ermöglicht. Und genau das hat ja auch Thomas Jefferson gesagt, der Gründungsvater der Vereinigten Staaten von Amerika. Und letztendlich haben Wahlen nicht die Demokratie ermöglicht, sondern sie haben die Demokratie gestoppt.
Sie haben eine neue Form der Aristokratie ermöglicht und im 19. Und 20. Jahrhundert hat man immer mehr Leuten das Recht gegeben zu wählen, aber im 21. Jahrhundert reicht das einfach nicht mehr aus. Leute haben keine Lust mehr, alle vier Jahre ihr Kreuzchen zu setzen und dann sagt man ihnen, ihr seid Demokraten, was ihr macht, hat mit Demokratie zu tun. Nein, es geht heute um das Recht zu sprechen, die Meinung zu sagen. Und wir leben in einem Informationszeitalter und da halte ich dieses Recht, seine Meinung zu sagen, einfach für fair. Und das Faire kann man nur durch das Losverfahren erreichen.

Das Beispiel Irland

Frenzel: Haben Sie nicht die Angst vor dem, was wir im Deutschen Lospech nennen?
Van Reybrouck: Aber Lospech haben Sie doch auch jetzt mit Ihrem System. Sie können doch nicht wirklich behaupten, dass jeder gewählte Volksvertreter ein Genie ist, der immer die großartige Verantwortung übernimmt. Und man kann doch Dinge auch verbessern. Und ich gebe Ihnen auch wieder ein ganz konkretes Beispiel aus Irland: Dort haben 99 Vertreter die Verfassung geändert. Von diesen 99 waren nur 34 gewählte Volksvertreter, die anderen 65 waren irische Bürger, die durchs Losverfahren bestimmt worden sind. Und sie mussten darüber abstimmen, ob die Ehe für alle, also ob die Ehe auch unter Homosexuellen in dem katholischen Irland eingeführt werden könnte und ob man dafür eben die Verfassung ändern kann.
Und das war jenseits der Parteipolitik, jenseits von irgendwelchen Referenten. Und diese gewählten Vertreter – einige davon eben gewählt in Wahlen, andere eben durch Losverfahren bestimmt – haben die Verfassung geändert und das hat zu einem Referendum geführt, was es wirklich möglich gemacht hat, dass man die Gesetze in Irland geändert hat. Das heißt, es ist eine ganz neue Dynamik entstanden.
Frenzel: Der belgische Historiker David Van Reybrouck. "Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist". Herr Van Reybrouck, vielen Dank für Ihren Besuch bei uns!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

David Van Reybrouck: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist
Wallstein Verlag, 17,90 Euro

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