Demokratie ohne Worte
Es ist Pfingstmontag, der 26. Mai des Jahres 1828. Auf dem prachtvollen Unschlittplatz in der Nürnberger Altstadt haben zwei Bürger dieser Stadt ein kleines Erlebnis mit großen Folgen. Ganz ohne besonderen Grund werden sie plötzlich von einem etwa sechzehn Jahre alten, heruntergekommen aussehenden Jugendlichen angesprochen. Kaum verständlich stammelt er im lokalen Dialekt nicht mehr als ein paar Worte, - Worte allerdings, die mittlerweile weltbekannt sind und die einen globalen Mythos begründet haben: "Ein solcher Reiter möchte" ich werden, wie mein Vater einer gewesen ist!"
Ja, richtig, Kaspar Hauser ist es, der an diesem späten Frühlingstag seinen rätselhaften ersten Auftritt hat und der sich mit einer einzigen und dazu noch weitgehend unverständlichen Phrase seinen Einzug in die Kulturgeschichte verschafft. Dichter und Denker aller Stilrichtungen und Epochen haben sich seitdem seiner Figur angenommen.
Peter Handke etwa stellt in seinem "Sprechstück" von 1967 einen "Kaspar" auf die Bretter, der einen aussichtslosen Kampf gegen ihn umgebende "Einsager" zu bestehen hat. Auch er hat zunächst nur einen Satz zur Verfügung. Anders als sein historisches Vorbild möchte er jedoch nicht Reiter werden, ihm steht der Sinn nach etwas anderem. "Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist.", bricht es aus ihm heraus.
Die modernen Nachfahren Kaspar Hausers haben dieses Ziel längst erreicht. Die medialen "Einsager" unserer Tage - die smarten Werbeagenturen, die Journalisten der Zeitungen mit den großen Buchstaben und den kleinen Inhalten, aber natürlich auch das von Harald Schmidt in gnadenloser Arroganz so genannte "Unterschichtfernsehen" – sie alle haben es geschafft, dass Kaspars Enkel inzwischen allesamt solche geworden sind, wie andere es einmal waren und immer noch sind.
Deutschland ist wieder einmal geteilt. Während die einen im berühmten "elaborierten Code" ihr Vergnügen daran finden, sich in intellektuellen Debatten misszuverstehen oder sich in Bücher zu versenken, die ihnen von ähnlich gepolten Kritikern als intellektuelle Conterbande anempfohlen wurden, sind die anderen schon zufrieden, wenn sie sich mit einem Wortschatz im dreistelligen Bereich durchs Leben nuscheln und sich in Sätzen verständigen, für die die drei klassischen Ingredienzien der Syntax schon den Gipfel der Komplexität darstellen: Subjekt, Prädikat, Objekt.
Deutschland teilt sich in Sprachbesitzer und in eine Art verbales Prekariat.
Nun könnte man es ja dabei bewenden lassen, das Ganze als eine lässliche Sünde zu betrachten, als eine Art Schönheitsfehler in einem ansonsten funktionierenden System. Nicht jeder muss schließlich mit einer Silberzunge begabt sein. Nicht jeder muss klassische Literatur schätzen oder einen adonischen Vers von einem Alexandriner unterscheiden können. Beileibe nicht.
Bedenklich wird sprachliche Inkompetenz allerdings da, wo sie beginnt, die Grundlagen eines demokratischen Gemeinwesens zu unterhöhlen. Mehrheit ist nach dessen Regeln Mehrheit, - egal, wie sie zustande gekommen ist. Durch kompetente Abwägung politischer Alternativen oder durch unverstandene Befolgung populistischer Parolen. Vor diesem Hintergrund muss die Frage auftauchen, ob eine Gesellschaft es sich auf Dauer leisten kann, sprachlich mit der Trennung in zwei Klassen zu existieren.
Verneint man diese Frage, erhebt sich sofort die Forderung an die Bildungspolitik, alles daran zu setzen, die allgemeine Sprachkompetenz zu erhöhen. Von unseren Schulabschlüssen ist zu verlangen, dass sie die Absolventen aller Schulstufen befähigen, sich einigermaßen differenziert ausdrücken zu können. Sie müssen zudem in der Lage sein, Texten zu folgen, die über das Niveau von Presseerzeugnissen und Fernsehprogrammen hinausgehen, die die Weltgeschichte auf Scheidungsgeschichten irgendwelcher Prominenter reduzieren oder für die die Drogenprobleme einzelner Rockstars und Models wichtiger sind als das soziale und ökologische "Umkippen" ganzer Staaten.
Hier fit zu sein, dabei geht es keinesfalls um bloß orchideenhafte Schönheit oder um eine wertfreie Spielerei in intellektueller Halbhöhenlage. Dass die Mitglieder einer Gesellschaft – wenigstens in Grundzügen und aktiv wie passiv – mit Worten umgehen können, das ist nicht die geringste Funktionsvoraussetzung für eine offene Gesellschaft. Peter Handkes Kaspar verliert letzten Endes gegen seine Einsager. Wenn die verbalen Kaspars unserer Tage ebenfalls gegen ihre gesellschaftlichen Souffleure verlieren, werden wir alle verloren haben. Eine Demokratie ohne Worte: Das ist schlechterdings keine Demokratie mehr.
Uwe Bork, Journalist, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist außerdem Autor mehrerer Bücher.
Peter Handke etwa stellt in seinem "Sprechstück" von 1967 einen "Kaspar" auf die Bretter, der einen aussichtslosen Kampf gegen ihn umgebende "Einsager" zu bestehen hat. Auch er hat zunächst nur einen Satz zur Verfügung. Anders als sein historisches Vorbild möchte er jedoch nicht Reiter werden, ihm steht der Sinn nach etwas anderem. "Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist.", bricht es aus ihm heraus.
Die modernen Nachfahren Kaspar Hausers haben dieses Ziel längst erreicht. Die medialen "Einsager" unserer Tage - die smarten Werbeagenturen, die Journalisten der Zeitungen mit den großen Buchstaben und den kleinen Inhalten, aber natürlich auch das von Harald Schmidt in gnadenloser Arroganz so genannte "Unterschichtfernsehen" – sie alle haben es geschafft, dass Kaspars Enkel inzwischen allesamt solche geworden sind, wie andere es einmal waren und immer noch sind.
Deutschland ist wieder einmal geteilt. Während die einen im berühmten "elaborierten Code" ihr Vergnügen daran finden, sich in intellektuellen Debatten misszuverstehen oder sich in Bücher zu versenken, die ihnen von ähnlich gepolten Kritikern als intellektuelle Conterbande anempfohlen wurden, sind die anderen schon zufrieden, wenn sie sich mit einem Wortschatz im dreistelligen Bereich durchs Leben nuscheln und sich in Sätzen verständigen, für die die drei klassischen Ingredienzien der Syntax schon den Gipfel der Komplexität darstellen: Subjekt, Prädikat, Objekt.
Deutschland teilt sich in Sprachbesitzer und in eine Art verbales Prekariat.
Nun könnte man es ja dabei bewenden lassen, das Ganze als eine lässliche Sünde zu betrachten, als eine Art Schönheitsfehler in einem ansonsten funktionierenden System. Nicht jeder muss schließlich mit einer Silberzunge begabt sein. Nicht jeder muss klassische Literatur schätzen oder einen adonischen Vers von einem Alexandriner unterscheiden können. Beileibe nicht.
Bedenklich wird sprachliche Inkompetenz allerdings da, wo sie beginnt, die Grundlagen eines demokratischen Gemeinwesens zu unterhöhlen. Mehrheit ist nach dessen Regeln Mehrheit, - egal, wie sie zustande gekommen ist. Durch kompetente Abwägung politischer Alternativen oder durch unverstandene Befolgung populistischer Parolen. Vor diesem Hintergrund muss die Frage auftauchen, ob eine Gesellschaft es sich auf Dauer leisten kann, sprachlich mit der Trennung in zwei Klassen zu existieren.
Verneint man diese Frage, erhebt sich sofort die Forderung an die Bildungspolitik, alles daran zu setzen, die allgemeine Sprachkompetenz zu erhöhen. Von unseren Schulabschlüssen ist zu verlangen, dass sie die Absolventen aller Schulstufen befähigen, sich einigermaßen differenziert ausdrücken zu können. Sie müssen zudem in der Lage sein, Texten zu folgen, die über das Niveau von Presseerzeugnissen und Fernsehprogrammen hinausgehen, die die Weltgeschichte auf Scheidungsgeschichten irgendwelcher Prominenter reduzieren oder für die die Drogenprobleme einzelner Rockstars und Models wichtiger sind als das soziale und ökologische "Umkippen" ganzer Staaten.
Hier fit zu sein, dabei geht es keinesfalls um bloß orchideenhafte Schönheit oder um eine wertfreie Spielerei in intellektueller Halbhöhenlage. Dass die Mitglieder einer Gesellschaft – wenigstens in Grundzügen und aktiv wie passiv – mit Worten umgehen können, das ist nicht die geringste Funktionsvoraussetzung für eine offene Gesellschaft. Peter Handkes Kaspar verliert letzten Endes gegen seine Einsager. Wenn die verbalen Kaspars unserer Tage ebenfalls gegen ihre gesellschaftlichen Souffleure verlieren, werden wir alle verloren haben. Eine Demokratie ohne Worte: Das ist schlechterdings keine Demokratie mehr.
Uwe Bork, Journalist, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist außerdem Autor mehrerer Bücher.

Uwe Bork© privat