Demokratie

Wenn jeder seine Weltsicht hat

Von Alexander Kissler · 23.01.2014
Unter Menschenrechten versteht jeder etwas anderes. Deshalb sei der Export unseres Verständnisses davon falsch. Deutlich werde das im Blick auf den Nahost-Konflikt, meint der Medienwissenschaftler Alexander Kissler.
Nun weiß auch das singende, tanzende, schauspielernde Multi-Talent Justin Timberlake, was die Stunde geschlagen hat und wie man ein besserer Mensch wird. Justin, tönt es aus den Weiten des Netzes, Justin, gehe nicht ins Heilige Land. Boykottiere Israel! Rund dreitausend Unterstützer fand die Online-Petition bisher. Warum aber soll die internationale Kunst einen Bogen machen um die einzige Demokratie des Nahen Ostens? Die Initiatoren klären auf: Israel bestreite das "Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser".
Somit kollidieren mindestens drei Begriffe, die wir gerne für weltweit, für universal gültig halten und darum Universalien nennen: die Demokratie, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Menschenrechte. Dass Israel eine Demokratie ist, wird niemand bestreiten. Dürfen aber Demokraten Demokratien boykottieren? Andererseits: Brauchen demokratische Staaten nicht zwingend die Vollgültigkeit aller Menschenrechte für ihre Bewohner? Wird den Palästinensern etwas vorenthalten? Und falls es so wäre: Ist Gewaltbereitschaft nicht wiederum ein guter Grund, die Sicherheit der Bürger höher einzuschätzen als das Selbstbestimmungsrecht der Völker?
Sehr wenig ist allen Menschen gemein
Nicht nur im Nahostkonflikt und nicht nur dem politischen Betrachter zeigt sich: Sehr wenig ist allen Menschen gemein. Wir werden geboren, wir leben, wir sterben, und das war es dann auch schon. Noch das Himmelreich ist Anlass endlosen Haders. Je mehr aber die Welt in ihre Milliarden Weltbewohner zerfällt, desto verbissener wird an der Illusion festgehalten, uns eine mehr als uns trenne. Der Blick auf den Erdball zeigt: Es trennt uns mehr, als uns eint.
Alexander Kissler, deutscher Literatur- und Medienwissenschaftler
Alexander Kissler, deutscher Literatur- und Medienwissenschaftler© picture alliance / Erwin Elsner
Schon als die Ethnologie in Gestalt des Völkerforschers George Peter Murdock im Jahre 1945 eine Liste von 73 Universalien aufstellte, triumphierte der Formalismus. Ja, natürlich gibt es allüberall Arbeitsteilung und Erziehung und Familie und Nahrungstabus und Spiele und Witze. Wer sich mit der kleinen Münze begnügt, kann hier tatsächlich einen gemeinsamen menschlichen Drang erkennen. Irgendwie wird immer Arbeit geteilt und erzogen und gespielt und gelacht. Am Wie aber hängt das ganze komplizierte Leben. Haben etwa die afrikanische Großfamilie und der flexible Patchwork-Haushalt mit staatlicher Kinderfremdbetreuung sich etwas zu sagen – außer der banalen Tatsache, dass da mehr als ein Mensch zusammenlebt?
Kein Boykott von Israel
Abseits der Sitten und Gebräuche, im Normativen, wird es uferlos – da ist der gute alte spätscholastische Universalienstreit nicht weit. William von Ockham taugt zum Souffleur der Gegenwart. Allgemeine Begriffe, beharrte der Franziskanermönch des 14. Jahrhunderts, hätten keinen Anker, kein Pendant in der Wirklichkeit. Sie blieben Konzepte des menschlichen Geistes. Wert- und sinnvolle Konzepte zwar, aber immer eben Kopfgeburten.
Über William von Ockham sind wir kaum hinausgelangt – und wollen es nicht wahrhaben. Jeder müsse Demokratie oder Familie oder Freiheit so begreifen, wie wir es tun, wir, die rundumversorgten, totalaufgeklärten, politisch so wachen Spätmodernen. Die nüchterne Lektion aber lautet: Jeder versteht etwas anderes unter diesen Begriffen. Weder die europäische Parteiendemokratie noch das westliche Familienbild, geschweige denn die bundesdeutschen Freiheiten sind universal konsensfähig. Deshalb ist der Export dieser unserer Demokratie ebenso wenig klug wie ein Boykott von Israel.
Was tut stattdessen not? Eine Abrüstung der Begriffe, eine Neugier auf das Abweichende und das höfliche Gespräch miteinander. Echt menschlich ist nur eins: menschlich zu sein.
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