"Es fehlt so etwas wie eine Vision"
Trotz der verbreiteten Unzufriedenheit in den Koalitionsparteien, erwartet Demokratieforscher Wolfgang Merkel, dass die Große Koalition zustande kommt. Grotesk sei allerdings, dass Martin Schulz als SPD-Parteichef zurücktritt, aber noch Außenminister werden will.
"Es fehlt so etwas wie eine zusammenhängende Erzählung, es fehlt so etwas wie eine Vision", kritisierte der Demokratieforscher Wolfgang Merkel das Zustandekommen der neuen Großen Koalition. Es fehle auch das, was die SPD-Führung eigentlich immer reklamiere, eine sozialdemokratische Handschrift, sagte der Politologe vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung im Deutschlandfunk Kultur. Allerdings habe die SPD mit den Ministerposten einige Machtpositionen erhalten, mit denen sie die reale Politik in den nächsten Jahren beeinflussen könne. "Dieses Verhältnis der Machtverteilung in der Koalition fällt der SPD weniger auf die Füße als der CDU." Allerdings müsse die SPD noch die Mitgliederabstimmung überstehen. "Ich meine, dass auch dort die Rationalität durchgreift und die Mitglieder – gewiss nicht euphorisch – dann doch noch zustimmen", sagte Merkel.
Tradition des Machtbesitzes
Trotz einiger Unzufriedenheit in der CDU sei der CDU-Parteitag für Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht gefährlich. "Da hat die CDU doch eine Tradition und die Tradition heißt, möglichst viel Macht behalten und die Kanzlerin selber symbolisiert dies." Sie werde die Partei nicht mehr so im Griff haben wie noch vor wenigen Jahren, aber sie werde nicht über einen Parteitag gestürzt werden. Dennoch zeige das Verhandlungsergebnis die Schwäche der Kanzlerin und der CDU, die bei der Bundestagswahl einige Einbußen erlebt habe. "Es ist aber auch ein Eingeständnis, dass die mächtigsten Positionen jenseits des Kanzleramtes einfach an den Gegner gegangen sind." Gerade das Finanzministerium sei der Dreh- und Angelpunkt der Politik. Es gebe deshalb gute Gründe in der CDU, deshalb nicht zufrieden zu sein.
Scharfe Kritik an Martin Schulz
Der Demokratieforscher kritisierte, dass vor allem der lange Weg zur Großen Koalition bei den Bürgern nicht das Gefühl wachrufe, sich in der Politik engagieren zu wollen. Merkel nannte es bei aller Sympathie für die SPD einen "grotesken Vorgang", dass Parteichef Martin Schulz nun den Vorsitz niederlegen wolle, aber nicht in die zweite Reihe trete. "Dass ein Parteiführer wie Herr Schulz ganz offensichtlich gescheitert ist in einer vernünftigen, demokratisch überzeugenden Koalitionsbildung und Parteiführung und dann den Bettel hinwirft und sagt, ich kann das nicht mehr, ich kann den Aufbruch nicht mehr bringen, aber ich bin noch gut genug, um Außenminister zu sein – das hat negative Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger." Da komme sofort wieder der Klischee-Verdacht auf, die politischen Eliten bedienten sich selbst und seien weniger am Wohl des Landes interessiert. "Aber dann Außenminister zu werden, das riecht nach Versorgungsposten", sagte Merkel.