Timo Rieg ist Buchautor und Journalist. Seine zuletzt erschienenen Bücher sind „Demokratie für Deutschland“ und der Tucholsky-Remake „Deutschland, Deutschland über alles“. Zum Thema „Bürgerbeteiligung per Los“ bietet Timo Rieg zudem eine Website mit Podcast an.
Demokratisches Aushandeln
Demokratische Debatten brauchen mehr Klarheit: Wer will was von wem wozu warum? Stattdessen werden Menschen oft vor vollendete Tatsachen gestellt, kritisiert Timo Rieg. © imago / Ikon Images / Mark Airs
Wer will was von wem und warum?
Ob Lobbygruppe oder Gewerkschaft: Ständig werden Forderungen an "die Politik" adressiert. So bleibt unklar, wer von ihnen betroffen ist, sagt der Autor Timo Rieg: Schon eine einzige Frage könnte mehr Klarheit in unsere Debatten bringen.
Vorletzte Woche verhängte Schleswig-Holstein eine Haushaltssperre. Denn nach neuster Steuerschätzung fehlen dieses Jahr 400 Millionen Euro, nächstes Jahr sogar 600 Millionen. Doch prompt protestierten Gewerkschaften, Sozialverbände und Opposition gegen den Sparkurs. Was sie allerdings nicht sagten: Woher das fehlende Geld kommen soll, konkret: Wem sie es aus der Tasche ziehen wollen.
An wen richten sich Forderungen an "den Staat" tatsächlich?
Die Nachrichten sind voller Forderungen: Gruppen beanspruchen Leistungen, fordern Gebote und Verbote. Weil solche Forderungen fast immer an "die Politik" oder "den Staat" gerichtet sind, wird etwas Entscheidendes dabei nicht sichtbar: Von wem genau möchte da eigentlich jemand etwas? Und ist dieser Jemand mehr als die Spitze eines Lobbyverbands?
Dabei kann man doch nur miteinander verhandeln, wenn die Akteure bekannt sind. Und demokratisch sollte es auch nur dann für die Allgemeinheit etwas zu verhandeln geben, wenn sich die Betroffenen untereinander nicht einig werden. In der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 heißt es: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet."
Im Grundgesetz lautet die Formulierung: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."
Es könnte etwas mehr Klarheit in unsere Debatten bringen, wenn wir stets klären würden: Wer will was von wem wozu warum?
Wer fliegt, fordert viel von seinen Mitmenschen
Wie ist das beispielsweise beim Flugverkehr und dessen möglicher Begrenzung? Wir nehmen es als selbstverständlich, dass wir fliegen dürfen, aber eigentlich will der Flugreisende eine ganze Menge von vielen Leuten. Er braucht Platz für mindestens zwei Flughäfen, von denen einer bei Fernflügen im Ausland liegt. Er möchte die endliche Ressource Erdöl als Kerosin verbrennen und damit unter anderem Stickoxide und CO2 in die Luft blasen. Er möchte eine Menge Fluglärm machen. Und er möchte eine kaum bestimmbare Menge Menschen dem – wenn auch sehr geringen – Risiko aussetzen, vom Absturz seines Flugzeugs betroffen zu sein.
Hier bräuchte es einen fairen Deal mit allen Betroffenen, aber den gibt es natürlich nicht. Und so wird im Lichte der "Wer will was von wem wozu warum"-Frage deutlich, dass nicht eine Verbotsabsicht rechtfertigungspflichtig ist, sondern das Fliegen. Wir haben uns nur schon immer das Recht herausgenommen, mit den von unserer Lebensweise negativ Betroffenen insbesondere in anderen Ländern einfach nicht zu verhandeln, sondern sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Was bietet die Cannabisverbotsfraktion den Konsumwilligen?
Wie ist das mit dem derzeitigen Cannabisverbot? Im einfachsten Fall möchten Marihuanaraucher mit eigener Hanfpflanze auf dem Balkon von niemandem etwas. Aber irgendwelche anderen Menschen fordern von ihnen den Verzicht auf ihren Rauschmittelkonsum. Was bietet die Cannabisverbotsfraktion den Konsumwilligen, damit sie den Deal eingehen können, ja billigerweise eingehen müssen? Bisher nichts, weil die ganze Debatte auf dem Kopf steht: Es braucht keine Argumente für eine Entkriminalisierung, sondern es braucht Argumente für die Prohibition.
Ampeln sind wegen Autos und Lkw da. Wären nur Fußgänger und Radfahrer auf der Straße, brauchten wir sie nicht. Aber was bieten Autofahrer den von ihren Ampeln eingeschränkten nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmern als Deal an? Nichts.
Wer wegen der alternden Gesellschaft Barrierefreiheit allüberall fordert, wer mehr Polizei auf der Straße oder ein Heimatmuseum in seinem Dorf haben möchte, muss schon sagen, von wem genau er das Geld dafür nehmen möchte und was der Zahlungspflichtige dafür erhält.
"Wer will was von wem wozu warum"? Damit lässt sich zwar erstmal vieles problematisieren, was bisher als selbstverständlich gilt. Es wird allerdings auch klar: Wo sich alle Betroffenen einig sind, gibt es keinerlei Anspruch für Unbeteiligte, sich mit Regelungen einzumischen.