Den Ärzten auf die Finger geschaut

Das blinde Vertrauen von Patienten in die Fähigkeiten der "Halbgötter in Weiß" gehört der Vergangenheit an. Und das zu Recht, meint Werner Bartels in seinem Buch "Das neue Lexikon der Medizinirrtümer", denn viele Ärzte stützen sich auf veraltete Therapieformen oder schenken den Versprechungen der Pharmaindustrie leichtfertig Glauben.
Irren ist menschlich. Und so irren sich eben auch Mediziner und Wissenschaftler. Aus Unwissen oder Überforderung, aus wirtschaftlichem Interessen oder schlichtweg aus Versehen. Das sollte Patienten beim Arztbesuch klar sein, nicht jeder Ratschlag, egal wie gut gemeint er auch ist, ist der richtige.

Deshalb ist kritisches Hinterfragen die beste Medizin gegen alte, falsche oder gefährliche Behandlungsmethoden, lautet Werner Bartels Botschaft. Halbwissen aus Omas Gesundheitsbüchern, hartnäckiges Festhalten an längst überholten Therapien von Ärzteseite, falsches Interpretieren von Studienergebnissen, damit will der Arzt und Wissenschaftsjournalist aufräumen.

Seinem ersten "Lexikon der Medizinirrtümer" hat er deshalb jetzt ein zweites hinterher geschickt: Das neue Lexikon der Medizinirrtümer".
Kein Lexikon im klassischen Sinne, trotz des Titels, sondern eine Sammlung vieler kurzer Artikel zu verschiedenen medizinischen Themen, die den aktuellen Stand der Forschung zusammenfassen.

Die Bandbreite der Themen erstreckt sich von allgemeinen Ratschlägen bis zu speziellen Forschungsexperimenten. Es geht um Warzen und Durchfallerkrankungen, aber auch um Stammzellen, Gentherapien, Aids oder Bluthochdruck. Manche Artikel lesen sich wie aus einem Gesundheitsratgeber, andere wiederum wie aus einem wissenschaftlichen Bericht. Dabei ist jedes Thema klar verständlich und ohne viele Fachbegriffe formuliert, so dass es für medizinische Laien sehr gut zu lesen ist.

So findet sich zum Beispiel unter dem Begriff Kaffee, die Behauptung: "Wer viel Kaffee trinkt, bekommt eher einen Herzinfarkt". Im Artikel beschreibt Bartels, dass dies wissenschaftlich nicht bewiesen ist, zitiert Studien beziehungsweise Untersuchungen, die dies belegen und empfiehlt zur Vertiefung des Themas einen aktuellen Forschungsartikel über die Wirkung von Koffein und Herzerkrankungen. Nach diesem Prinzip: Falsche Behauptung – Gegenthese – Begründung und weiter führender Literaturverweis ist jeder Artikel aufgebaut. Die Unterschiede liegen lediglich im Umfang, der zwischen einer halben und drei bis maximal vier Seiten liegt.

Lehrreich sind besonders die Kapitel, die sich mit dem medizinischen Betrieb beschäftigen: Leitlinien, Verordnungspraxis und Medikamententests – Artikel, die dem Leser sehr einleuchtend und praxisnah vermitteln, was warum in der Medizin falsch läuft und wo für den Patient die Gefahren liegen.

"Ärztliche Leitlinien werden nach besten verfügbaren medizinischen Erkenntnissen erstellt", lautet eine Behauptung, die Bartels stark in Zweifel stellt. Mindestens 35 Prozent der wissenschaftlichen Berater in den Fachgremien zur Erstellung von Leitlinien werden von der Pharmaindustrie bezahlt. Dass diese Abhängigkeit einen starken Einfluss auf die Auswahl der Medikamente hat, die in medizinischen Leitlinien empfohlen werden, ist nicht zu übersehen.

Solche Artikel verschaffen dem Leser einen differenzierten Blick ins Gesundheitswesen und erklären Hintergründe. Bartels erläutert dazu, wie der Leser durch gezielte Fragen an seinen Arzt Therapieempfehlungen überprüfen kann, um Behandlungen zu erhalten, die neusten und wissenschaftlich überprüften Standards entsprechen.

Daneben stehen aber auch viele unterhaltsame Artikel zum Beispiel über Schlangenbisse, Blumen im Krankenhäuser und Schuhgrößen. Kleine Tipps und Anekdoten, die zum Teil zwar bekannt, aber amüsant zu lesen sind. So lässt sich beim Kapitel über Schlangenbisse durchaus schmunzeln. Denn: Nicht wie in zahlreichen Western und Abenteuerfilmen gezeigt, darf die Wunde nach einem Schlangenbiss ausgesaugt werden oder gar mit einem Messer ausgeschnitten. Das hat nämlich zu Folge, dass sich das Gift schneller im Körper verteilt und das Schlangenopfer schneller stirbt. Schon seltsam, wie viele Schauspieler, diese Prozedur überleben und viele Filmgucker, dies für wahr halten.

"Das neue Lexikon der Medizinirrtümer" gehört zu der Sorte von Sachbüchern, in denen sich gut schmökern lässt. Die Bandbreite der Themen bietet viele interessante Aspekte, zeigt aber vor allem, wie schnell sich Empfehlungen und Therapien in der Medizin ändern können. Was gestern dem Patient noch geraten wurde, wird ihm heute verboten.

Und damit bleibt die Frage, wie lange so ein Buch aktuell ist und ob es nicht sinnvoller wäre, das Lexikon der Medizinirrtümer online zu schreiben, um es bei Bedarf auf den aktuellen Stand zu bringen.
Es könnte ja morgen schon wieder anders sein.

Rezensiert von Susanne Nessler

Werner Bartels: Das neue Lexikon der Medizinirrtümer
Eichborn-Verlag
270 Seiten, 19,90 Euro