Den Akten Ort und Stimme geben
Als Mitglied der Künstlergruppe "Rimini Protokoll" hat der Dramaturg Sebastian Brünger ein begehbares Hörspiel geschaffen, mit dem Originaltöne von Stasi-Mitarbeitern über GPS, Handy und Kopfhörer mitverfolgt werden können. Schauplatz der "Radioortung - 10 Aktenkilometer" ist Dresden.
Ulrike Timm: Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch Dresden mit Smartphone und Kopfhörer, und plötzlich sprechen da Stimmen aus der Vergangenheit. Stasispitzel oder Stasiopfer oder jemand, der Sie für die Stasi anwerben will. Hörspiel als begehbare Installation, das klingt sperrig, hat aber eine ganz eigene ästhetische wie politische Qualität. Davon sind die Macher von "Rimini Protokoll" überzeugt. Mit dem Dramaturgen Sebastian Brünger spreche ich gleich, vorher hören wir, was Sie womöglich hören können bei einem Spaziergang durch Dresden:
"Sehen Sie die Haltestelle? Behalten Sie sie gut im Auge! Schon in der nächsten Bahn sitzt die zu observierende Person. Ihr Auftrag: Entsprechend Ihren gegebenen Möglichkeiten werden Sie beauftragt, zu der nachgenannten Person den bereits geschlossenen Kontakt weiter auszubauen. Bei der Person handelt es sich um V (geschwärzt), 801 Dresden, Gewandhausstraße Nummer (geschwärzt). Gehen Sie bei der Kontaktierung beziehungsweise bei der Herstellung und Festigung der Verbindung so heran, dass die Person V keine Schlussfolgerungen ziehen kann, dass Sie das im Auftrage des Ministeriums für Staatssicherheit durchführen. Das Ziel muss sein, dass Sie ein Vertrauensverhältnis herstellen und dass sich daraus weitere Möglichkeiten ableiten lassen, was Sie dann zur Abschöpfung operativ interessanter Informationen nutzen können."
Timm: So oder so ähnlich wurde man von der Stasi eingewiesen in den Spitzeljob, den man bei der Stasi für einen der wichtigsten der Welt hielt. Sebastian Brünger ist Hörspieldramaturg und hat gemeinsam mit Kollegen den Akten eine Stimme gegeben. Ich grüße Sie!
Sebastian Brünger: Hallo, grüße Sie!
Timm: Was war das Bestreben bei dieser Aktion? Vertrauen Sie drauf, dass einem die Stasi noch mal ganz dicht auf die Pelle rückt, wenn man solche Stimmen im Ohr hat?
Brünger: Ja, uns ging es so ein bisschen so, die Kombination beziehungsweise die verschiedenen Instanzen der Geschichte dort miteinander in Verbindung zu bringen. Auf der einen Seite gibt es ja die subjektiven Erfahrungen der Personen, die dort beobachtet worden sind, auf der anderen Seite gibt es die Autorität der Akten, und nicht zuletzt gibt es noch die Unmittelbarkeit der Orte, und all diese drei Instanzen versprechen so was wie geschichtliche Echtheit im Maximalformat. Und diese Instanzen miteinander in Bezug zu bringen, das war ein großer Reiz für uns.
Timm: Wir sollten noch mal erklären, wie dieses begehbare Hörspiel funktioniert. Wenn ich das richtig verstanden habe, fängt das Handy diese oder andere Stimmen ein, wenn man durch bestimmte Straßen Dresdens geht – ist das richtig?
Brünger: Genau. Sie haben quasi ein Handy, das sozusagen automatisch übers GPS-System geortet, getrackt wird, und je nachdem, wo Sie sich dann befinden - eben, wenn Sie in der Dresdener Neustadt zum Beispiel sind, hören Sie, wie ein Mann bei der Stasi anruft und seinen Nachbarn anschwärzt, dass er ein Plakat an der Hauswand hatte. Wenn Sie am Dynamo-Stadion stehen, dann hören Sie, wie das MfS dort die Trainerbank von Trainer Geyer verwanzen wollte. Und das wird quasi automatisch abgespielt, sobald Sie diese Orte betreten.
Timm: Welche Wirkung erhoffen Sie sich von den Stimmen oder haben Sie womöglich an sich selber erlebt, denn Sie sind doch Ihr eigenes Hörspiel sicher mal abgegangen und hatten plötzlich im Jahr 2013 die Stasi im Ohr. Wie war das?
Brünger: Für mich persönlich ist es eben so, dass dort spannende Orte entstehen, wo ich selber in die Rolle der Staatssicherheit mehr oder weniger hineinschlüpfe, wo ich mich selber positionieren muss, wo ich merke, ich bin jetzt auch in einer Beobachterposition, ich höre jetzt auch Dinge mit, die eigentlich nicht für mich bestimmt waren und wie eben schnell ein schmaler Grat entsteht, der mir deutlich macht, wie ich auf der einen Seite eine kritische, distanzierte Haltung versuche zu bewahren und gleichzeitig an einer voyeuristischen Bespitzelung teilhabe.
Timm: Nach welchen Gesichtspunkten haben Sie denn die Töne ausgesucht und zusammengestellt?
Brünger: Uns war wichtig, dass zum einen bestimmte Orte im Dresdener Stadtgebiet präsent sind, wir haben aber eben auch Leute gesucht, die mit uns ihre Akte aufschlagen wollten und eben diese Orte aufsuchen wollten. Wir haben einen großen, umfangreichen Rechercheauftrag in der BStU, in der Stasiunterlagenbehörde sozusagen initiieren können und dort viele Originaltondokumente gesucht. Das heißt, wir haben fast über ein halbes Jahr recherchiert, Themen, Orte, Personen, und aus dieser Kombination am Ende ist dann eben dieses Hörspiel gewachsen.
Timm: Es sind ganz viele Stimmen, die dort erklingen in diesem begehbaren Hörspiel. Nennen Sie uns doch mal eine oder zwei, die Sie ganz besonders beeindruckt haben?
Brünger: Ein besonderer Ort für mich ist die Kreuzkirche in Dresden, die einfach auch jedem Dresdener bekannt ist. Dort haben wir mit dem ehemaligen Landesjugendpfarrer Herrn Bretschneider gesprochen, der dort vom Forum Frieden erzählt. Und wir haben nun auf einem zweiten Wege in der BStU im Archiv dort einen Mitschnitt dieses Forum Frieden von 82 aus der Kreuzkirche gefunden, und das war eine besondere Gelegenheit, genau diese zwei Instanzen gegeneinander abzugleichen, in Beziehung zu bringen. Herr Bretschneider erzählt, wie er das Ganze erlebt hat, und man hört jetzt gleichzeitig eben den Mitschnitt aus der Stasi in der Kreuzkirche. Hat er die Mikrofone mitbekommen? Nein. Wo standen sie? Weiß er auch nicht. Die Personen der Staatssicherheit hört man, wie sie dort "Test, Test" ins Mikrofon sagen und irgendwie auch mehr oder weniger schnoddrig gelangweilt sind von dem Ereignis. Und dort erfährt man eben was von der Schärfe dieser Aufnahmen, die dann nicht im Ereignis selber dort entstehen, sondern quasi erst dort sich potenzieren, wenn sie weitergetragen wurden. Es ist eben egal, was sozusagen erst mal in den Berichten drinsteht, es ist entscheidend, was in den Berichten gelesen wurde.
Timm: Sie haben ein ähnliches Projekt in Berlin gemacht, welche Reaktionen haben Sie denn daraufhin von Ihren Hörern, von Ihren Spaziergängern bekommen?
Brünger: Das kommt ganz drauf an, wer dort eben gelaufen ist. Menschen mit eben tatsächlich eigener Stasiakte waren sicherlich wesentlich emotionaler schockiert, jetzt aus der Geschichte heraus, weil sie auf einmal wieder die Stimmen hörten, die sie vielleicht sogar tatsächlich selber gehört hatten – in Verhören, in Berührung mit der Staatssicherheit –, aber jüngere Menschen, die eben sowohl durch ihr Alter oder beziehungsweise durch ihren Sozialisationshintergrund eben nicht in diesem Staat gelebt haben, die kommen sozusagen über Bande in dieses Projekt rein, weil sie natürlich eine gewisse Technikaffinität haben und sozusagen eher über diesen Technikwinkel merken, was Überwachungstechnik und Kontrollinstanzen eben sein können.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Hörspieldramaturgen Sebastian Brünger über die "Radioortung", Töne von, an und über die Stasi als Hörspieltöne an den betreffenden Stellen Dresdens, mit denen sie in Verbindung stehen. Und wir hören noch mal ein Beispiel, ein wirklich denkwürdiges Telefonat:
"Telefonzentrale der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Dresden:
Ich möchte über Folgendes informieren: An der Giebelseite des Grundstückes Sebnitzer Straße 6 steht eine Losung, deren Inhalt ich nicht kenne. Weil es an dem Haus auch in den letzten Monaten, die letzte in dieser Woche, schon zweimal politisch provokatorische Losungen gegeben hat, könnte ich mir denken, dass diese Losung irgendetwas Problematisches beinhaltet. Ich sag mal an: Sie heißt, in großen Buchstaben, RUN for FUN.
Run for Fun ((englisch ausgesprochen)).
RUN for FUN.
Scheint Englisch zu sein.
Also das "for" ist auf alle Fälle Englisch."
Timm: Das ist wohl wahr. Run for Fun, ein kleiner Slogan mit staatsgefährdendem Potenzial meinte die Stasi. Sebastian Brünger, wenn man dieses Beispiel hört, ist das in unseren Ohren Realsatire, für den Menschen, der den Spruch plakatiert hat, ist dieses Telefonat aber wohl real gefährlich geworden, oder?
Brünger: Genau. Diese Ambivalenz, diese ganze Bandbreite erfährt man … eben aus 20 Jahren Distanz heraus haben diese Akten beziehungsweise diese Tondokumente natürlich eine gewisse Skurrilität, aber ich glaube, dass es auch andere Geschichten dann dort im Hörspiel gibt, wie eben aus der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt oder beziehungsweise dort gibt es Verhörtöne, dort merkt man eben, dass das durchaus ganz reale Konsequenzen hatte und dass der Humor dort sehr abgründig wird.
Timm: Wie ist das eigentlich, trifft einen so eine Stimme ganz besonders mit dem Abstand, oder ist da nicht auch die Gefahr, dass das ein bisschen harmlos wirken kann, wenn man an einem Frühlingstag durch die Stadt geht, laue Luft, und dann hört man so eine Stasistimme und denkt sich manchmal vielleicht nur: Ach so?
Brünger: Ja, ich glaube aber, dass es gerade der Reiz ist, im schönen, barocken Dresden bei Sonnenschein dort durch die Straßen zu gehen und dann genau sozusagen etwas zu hören, was das Gesehene überschreibt. Und diese Spannung dort auszuhalten und dann zu erleben, das ist, glaube ich, genau das Reizvolle.
Timm: Opfer zu finden, die sprechen, war bestimmt nicht so schwierig. Wie groß war denn die Bereitschaft der Täter, bei diesem Hörspiel mitzuwirken?
Brünger: Gering. Es ist richtig, es gibt immer mehr Leute, die eben darüber sprechen, jetzt im Nachhinein, wie sie eben beobachtet worden sind. Wir haben wenige Menschen getroffen, die tatsächlich hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit waren, von denen war keiner bereit, eben in der Öffentlichkeit zu sprechen. Wir haben einige getroffen, die sozusagen in dieser Grauzone sind, die als IM gearbeitet haben, wo auch schnell klar wird, jeder IM ist nicht gleich Prototyp IM, das gibt es nicht – die hatten auch verschiedene Gründe, sozusagen, mitzuarbeiten. Und die Grauzone zwischen Tätern und Opfern, die wird schnell grau und nicht so ganz klar.
Aber tatsächlich ist es, glaube ich, noch mal ein Unterschied gewesen. In Berlin war es so, dass wir relativ schnell mit den Leuten ins Gespräch kommen konnten, hier in Dresden ist es schon so, dass es gewisse Vorbehalte gab gegenüber so einem Projekt. Und deswegen war es auch eine schöne Chance für uns, nach Berlin hier nach Dresden zu kommen, um eben dieses Hörspielformat in einer Stadt zu erproben, die vielleicht noch nicht so durch und aufgearbeitet ist, wo die Diskurse vielleicht noch etwas brüchiger unter der Oberfläche liegen.
Timm: "Radioortung – 10 Aktenkilometer Dresden" – ein begehbares Stasihörspiel, entstanden in der Zusammenarbeit von Rimini Protokoll, dem Staatsschauspiel Dresden und Deutschlandradio Kultur. Ich sprach darüber mit dem Dramaturgen Sebastian Brünger.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
"Sehen Sie die Haltestelle? Behalten Sie sie gut im Auge! Schon in der nächsten Bahn sitzt die zu observierende Person. Ihr Auftrag: Entsprechend Ihren gegebenen Möglichkeiten werden Sie beauftragt, zu der nachgenannten Person den bereits geschlossenen Kontakt weiter auszubauen. Bei der Person handelt es sich um V (geschwärzt), 801 Dresden, Gewandhausstraße Nummer (geschwärzt). Gehen Sie bei der Kontaktierung beziehungsweise bei der Herstellung und Festigung der Verbindung so heran, dass die Person V keine Schlussfolgerungen ziehen kann, dass Sie das im Auftrage des Ministeriums für Staatssicherheit durchführen. Das Ziel muss sein, dass Sie ein Vertrauensverhältnis herstellen und dass sich daraus weitere Möglichkeiten ableiten lassen, was Sie dann zur Abschöpfung operativ interessanter Informationen nutzen können."
Timm: So oder so ähnlich wurde man von der Stasi eingewiesen in den Spitzeljob, den man bei der Stasi für einen der wichtigsten der Welt hielt. Sebastian Brünger ist Hörspieldramaturg und hat gemeinsam mit Kollegen den Akten eine Stimme gegeben. Ich grüße Sie!
Sebastian Brünger: Hallo, grüße Sie!
Timm: Was war das Bestreben bei dieser Aktion? Vertrauen Sie drauf, dass einem die Stasi noch mal ganz dicht auf die Pelle rückt, wenn man solche Stimmen im Ohr hat?
Brünger: Ja, uns ging es so ein bisschen so, die Kombination beziehungsweise die verschiedenen Instanzen der Geschichte dort miteinander in Verbindung zu bringen. Auf der einen Seite gibt es ja die subjektiven Erfahrungen der Personen, die dort beobachtet worden sind, auf der anderen Seite gibt es die Autorität der Akten, und nicht zuletzt gibt es noch die Unmittelbarkeit der Orte, und all diese drei Instanzen versprechen so was wie geschichtliche Echtheit im Maximalformat. Und diese Instanzen miteinander in Bezug zu bringen, das war ein großer Reiz für uns.
Timm: Wir sollten noch mal erklären, wie dieses begehbare Hörspiel funktioniert. Wenn ich das richtig verstanden habe, fängt das Handy diese oder andere Stimmen ein, wenn man durch bestimmte Straßen Dresdens geht – ist das richtig?
Brünger: Genau. Sie haben quasi ein Handy, das sozusagen automatisch übers GPS-System geortet, getrackt wird, und je nachdem, wo Sie sich dann befinden - eben, wenn Sie in der Dresdener Neustadt zum Beispiel sind, hören Sie, wie ein Mann bei der Stasi anruft und seinen Nachbarn anschwärzt, dass er ein Plakat an der Hauswand hatte. Wenn Sie am Dynamo-Stadion stehen, dann hören Sie, wie das MfS dort die Trainerbank von Trainer Geyer verwanzen wollte. Und das wird quasi automatisch abgespielt, sobald Sie diese Orte betreten.
Timm: Welche Wirkung erhoffen Sie sich von den Stimmen oder haben Sie womöglich an sich selber erlebt, denn Sie sind doch Ihr eigenes Hörspiel sicher mal abgegangen und hatten plötzlich im Jahr 2013 die Stasi im Ohr. Wie war das?
Brünger: Für mich persönlich ist es eben so, dass dort spannende Orte entstehen, wo ich selber in die Rolle der Staatssicherheit mehr oder weniger hineinschlüpfe, wo ich mich selber positionieren muss, wo ich merke, ich bin jetzt auch in einer Beobachterposition, ich höre jetzt auch Dinge mit, die eigentlich nicht für mich bestimmt waren und wie eben schnell ein schmaler Grat entsteht, der mir deutlich macht, wie ich auf der einen Seite eine kritische, distanzierte Haltung versuche zu bewahren und gleichzeitig an einer voyeuristischen Bespitzelung teilhabe.
Timm: Nach welchen Gesichtspunkten haben Sie denn die Töne ausgesucht und zusammengestellt?
Brünger: Uns war wichtig, dass zum einen bestimmte Orte im Dresdener Stadtgebiet präsent sind, wir haben aber eben auch Leute gesucht, die mit uns ihre Akte aufschlagen wollten und eben diese Orte aufsuchen wollten. Wir haben einen großen, umfangreichen Rechercheauftrag in der BStU, in der Stasiunterlagenbehörde sozusagen initiieren können und dort viele Originaltondokumente gesucht. Das heißt, wir haben fast über ein halbes Jahr recherchiert, Themen, Orte, Personen, und aus dieser Kombination am Ende ist dann eben dieses Hörspiel gewachsen.
Timm: Es sind ganz viele Stimmen, die dort erklingen in diesem begehbaren Hörspiel. Nennen Sie uns doch mal eine oder zwei, die Sie ganz besonders beeindruckt haben?
Brünger: Ein besonderer Ort für mich ist die Kreuzkirche in Dresden, die einfach auch jedem Dresdener bekannt ist. Dort haben wir mit dem ehemaligen Landesjugendpfarrer Herrn Bretschneider gesprochen, der dort vom Forum Frieden erzählt. Und wir haben nun auf einem zweiten Wege in der BStU im Archiv dort einen Mitschnitt dieses Forum Frieden von 82 aus der Kreuzkirche gefunden, und das war eine besondere Gelegenheit, genau diese zwei Instanzen gegeneinander abzugleichen, in Beziehung zu bringen. Herr Bretschneider erzählt, wie er das Ganze erlebt hat, und man hört jetzt gleichzeitig eben den Mitschnitt aus der Stasi in der Kreuzkirche. Hat er die Mikrofone mitbekommen? Nein. Wo standen sie? Weiß er auch nicht. Die Personen der Staatssicherheit hört man, wie sie dort "Test, Test" ins Mikrofon sagen und irgendwie auch mehr oder weniger schnoddrig gelangweilt sind von dem Ereignis. Und dort erfährt man eben was von der Schärfe dieser Aufnahmen, die dann nicht im Ereignis selber dort entstehen, sondern quasi erst dort sich potenzieren, wenn sie weitergetragen wurden. Es ist eben egal, was sozusagen erst mal in den Berichten drinsteht, es ist entscheidend, was in den Berichten gelesen wurde.
Timm: Sie haben ein ähnliches Projekt in Berlin gemacht, welche Reaktionen haben Sie denn daraufhin von Ihren Hörern, von Ihren Spaziergängern bekommen?
Brünger: Das kommt ganz drauf an, wer dort eben gelaufen ist. Menschen mit eben tatsächlich eigener Stasiakte waren sicherlich wesentlich emotionaler schockiert, jetzt aus der Geschichte heraus, weil sie auf einmal wieder die Stimmen hörten, die sie vielleicht sogar tatsächlich selber gehört hatten – in Verhören, in Berührung mit der Staatssicherheit –, aber jüngere Menschen, die eben sowohl durch ihr Alter oder beziehungsweise durch ihren Sozialisationshintergrund eben nicht in diesem Staat gelebt haben, die kommen sozusagen über Bande in dieses Projekt rein, weil sie natürlich eine gewisse Technikaffinität haben und sozusagen eher über diesen Technikwinkel merken, was Überwachungstechnik und Kontrollinstanzen eben sein können.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Hörspieldramaturgen Sebastian Brünger über die "Radioortung", Töne von, an und über die Stasi als Hörspieltöne an den betreffenden Stellen Dresdens, mit denen sie in Verbindung stehen. Und wir hören noch mal ein Beispiel, ein wirklich denkwürdiges Telefonat:
"Telefonzentrale der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Dresden:
Ich möchte über Folgendes informieren: An der Giebelseite des Grundstückes Sebnitzer Straße 6 steht eine Losung, deren Inhalt ich nicht kenne. Weil es an dem Haus auch in den letzten Monaten, die letzte in dieser Woche, schon zweimal politisch provokatorische Losungen gegeben hat, könnte ich mir denken, dass diese Losung irgendetwas Problematisches beinhaltet. Ich sag mal an: Sie heißt, in großen Buchstaben, RUN for FUN.
Run for Fun ((englisch ausgesprochen)).
RUN for FUN.
Scheint Englisch zu sein.
Also das "for" ist auf alle Fälle Englisch."
Timm: Das ist wohl wahr. Run for Fun, ein kleiner Slogan mit staatsgefährdendem Potenzial meinte die Stasi. Sebastian Brünger, wenn man dieses Beispiel hört, ist das in unseren Ohren Realsatire, für den Menschen, der den Spruch plakatiert hat, ist dieses Telefonat aber wohl real gefährlich geworden, oder?
Brünger: Genau. Diese Ambivalenz, diese ganze Bandbreite erfährt man … eben aus 20 Jahren Distanz heraus haben diese Akten beziehungsweise diese Tondokumente natürlich eine gewisse Skurrilität, aber ich glaube, dass es auch andere Geschichten dann dort im Hörspiel gibt, wie eben aus der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt oder beziehungsweise dort gibt es Verhörtöne, dort merkt man eben, dass das durchaus ganz reale Konsequenzen hatte und dass der Humor dort sehr abgründig wird.
Timm: Wie ist das eigentlich, trifft einen so eine Stimme ganz besonders mit dem Abstand, oder ist da nicht auch die Gefahr, dass das ein bisschen harmlos wirken kann, wenn man an einem Frühlingstag durch die Stadt geht, laue Luft, und dann hört man so eine Stasistimme und denkt sich manchmal vielleicht nur: Ach so?
Brünger: Ja, ich glaube aber, dass es gerade der Reiz ist, im schönen, barocken Dresden bei Sonnenschein dort durch die Straßen zu gehen und dann genau sozusagen etwas zu hören, was das Gesehene überschreibt. Und diese Spannung dort auszuhalten und dann zu erleben, das ist, glaube ich, genau das Reizvolle.
Timm: Opfer zu finden, die sprechen, war bestimmt nicht so schwierig. Wie groß war denn die Bereitschaft der Täter, bei diesem Hörspiel mitzuwirken?
Brünger: Gering. Es ist richtig, es gibt immer mehr Leute, die eben darüber sprechen, jetzt im Nachhinein, wie sie eben beobachtet worden sind. Wir haben wenige Menschen getroffen, die tatsächlich hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit waren, von denen war keiner bereit, eben in der Öffentlichkeit zu sprechen. Wir haben einige getroffen, die sozusagen in dieser Grauzone sind, die als IM gearbeitet haben, wo auch schnell klar wird, jeder IM ist nicht gleich Prototyp IM, das gibt es nicht – die hatten auch verschiedene Gründe, sozusagen, mitzuarbeiten. Und die Grauzone zwischen Tätern und Opfern, die wird schnell grau und nicht so ganz klar.
Aber tatsächlich ist es, glaube ich, noch mal ein Unterschied gewesen. In Berlin war es so, dass wir relativ schnell mit den Leuten ins Gespräch kommen konnten, hier in Dresden ist es schon so, dass es gewisse Vorbehalte gab gegenüber so einem Projekt. Und deswegen war es auch eine schöne Chance für uns, nach Berlin hier nach Dresden zu kommen, um eben dieses Hörspielformat in einer Stadt zu erproben, die vielleicht noch nicht so durch und aufgearbeitet ist, wo die Diskurse vielleicht noch etwas brüchiger unter der Oberfläche liegen.
Timm: "Radioortung – 10 Aktenkilometer Dresden" – ein begehbares Stasihörspiel, entstanden in der Zusammenarbeit von Rimini Protokoll, dem Staatsschauspiel Dresden und Deutschlandradio Kultur. Ich sprach darüber mit dem Dramaturgen Sebastian Brünger.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.