Den deutschen Liberalismus neu erfinden
Zu Beginn des Jahres 2006 bemächtigt sich der Deutschen ein ungewohntes Gefühl. Zufriedenheit legt sich übers Land, als sei das allgemeine weihnachtliche Wohlwollen sozusagen in die Verlängerung gegangen. Man ist sich gut, dem Land, vor allem aber der Regierung.
Jeder weiß zwar, dass Angela Merkel und die Große Koalition überhaupt nicht wissen, was sie wollen. Aber das weiß auch sonst niemand, will es auch nicht wissen und hat vor allem keine Lust mehr, darüber zu reden. Wird schon irgendwie werden. Der Widerwille, sich weiterhin mit Lohnnebenkosten, Reformen der Sozialsysteme oder demographischen Faktoren herumzuplagen, ja auch nur diese Modevokabeln des Jahres 2005 in den Mund zu nehmen, ist allgegenwärtig.
Schlechte Zeiten für die Opposition. Über die so genannte Linke brauchen wir nicht zu reden. Es glaubt doch nicht im Ernst irgendjemand, dass die Lafontaine und Gysi vier lange Jahre politische Arbeit im Parlament aushalten. Und wenn sie weg sind, zerfällt ihre Anhängerschaft in diverse Querulantengruppen.
Nein, mit Opposition meinen wir die Parteien des liberalen städtischen Bürgertums, die FDP und die Grünen. Plötzlich interessiert sich niemand für sie. Oder wollen Sie wissen, was Jürgen Trittin zu irgendetwas meint? Wahrscheinlich fragen Sie sich gerade: Jürgen WER? Auch Guido Westerwelles Unterhaltungswert sinkt proportional zu seiner Ministrabilität. Die Macht ist das stärkste Aphrodisiakum, sagte Henry Kissinger. Und umgekehrt gilt: Ohnmacht ist unsexy. Besonders dauerhafte Ohnmacht.
Und die droht Liberalen und Grünen. Die neue deutsche Zufriedenheit ist ein Menetekel. Dass die Große Koalition die schlechteste aller denkbaren Lösungen sei, war noch gestern das Mantra der politischen Klasse und des Kommentariats. Heute sagen dieselben Leute, die Große Koalition berge doch jede Menge Chancen. Dafür lautet ihr neues Mantra, die Große Koalition könne nicht von Dauer sein.
Was werden sie nach der nächsten Wahl sagen, wenn Union und Sozialdemokraten wieder je 35 Prozent bekommen, Grüne und FDP je zehn? Dann wird es heißen, die bewährte Zweier-Koalition mit 70 Prozent sei doch besser als das Risiko der Dreierkoalition Ampel oder Schwampel mit je 55. So lange die Volksparteien zusammen mehr als 50 Prozent bekommen, kann die Große Koalition weitermachen. Und niemand sollte sich ernsthaft wünschen, dass sie zusammen unter 50 Prozent kämen, denn wer sollte sonst die ressentimentgeladene proletarische und kleinbürgerliche Mehrheit in den politischen Prozess einbinden?
Dann schlägt die Stunde der Menschenfänger. Wenn es so weit kommt, wird wieder einmal die politische Schwäche des liberalen Bürgertums daran schuld sein. Konkret: die Unfähigkeit von Grünen und Liberalen, eine gemeinsame Perspektive zu formulieren und eine Neue Mitte zu formieren, die ihrerseits durch wechselnde Koalitionen mit Union oder SPD dafür sorgt, daß die Republik jenen Links-Rechts-Zickzackkurs einschlägt, der es der Demokratie ermöglicht, voranzukommen, obwohl ihr immer der Wind ins Gesicht bläst.
Grüne und FDP umwerben dieselbe Klientel: eine urbane, weltoffene, mobile, metrosexuelle und bildungsorientierte Elite. Demenstsprechend haben Grüne und FDP in entscheidenden Dingen die gleiche Position: sie vertrauen auf die Initiative der Bürger lieber als auf den Staat; sie misstrauen großen Organisationen und Traditionsvereinen wie den Gewerkschaften oder den Kirchen. Sie halten Moral für eine Sache des Individuums. Sie setzen auf die Vernunft und misstrauen der Mobilisierung atavistischer Gefühle, seien sie religiöser, rassischer oder nationaler Natur. Dabei sind sie selbst Idealisten, Vertreter universalistischer Ideologien, und lehnen den kulturellen Relativismus eines Samuel Huntington ebenso ab wie den Versuch, Europa als christliches Projekt zu definieren. Zuwanderung gilt ihnen als Gewinn, Globalisierung auch.
Demgegenüber fällt nicht ins Gewicht, dass die einen eher eine Rollbahn, die anderen eher einen Krötentunnel befürworten, die einen sich eher für Arbeitsmigranten, die anderen für politische Asylanten interessieren, die einen eher auf die WTO, die anderen eher auf ATTAC setzen. Das sind sozusagen innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten. Oder sollten es sein. Zusammen könnten FDP und Grüne locker das Projekt 18 realisieren. Und auf Dauer die schöne Gemütlichkeit der großkoalitionären Konsensgesellschaft stören. Freilich muss man ungemütlich sein wollen. Und das heißt, sich zuallererst von gemütlichen Selbst- und Feindbildern trennen und begreifen, dass im Massenzeitalter die Individualisten, so paradox es klingt, zusammenhalten müssen.
Alan Posener, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der "Welt", zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der "Welt am Sonntag". Posener publizierte neben Schullektüren u. a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy.
Schlechte Zeiten für die Opposition. Über die so genannte Linke brauchen wir nicht zu reden. Es glaubt doch nicht im Ernst irgendjemand, dass die Lafontaine und Gysi vier lange Jahre politische Arbeit im Parlament aushalten. Und wenn sie weg sind, zerfällt ihre Anhängerschaft in diverse Querulantengruppen.
Nein, mit Opposition meinen wir die Parteien des liberalen städtischen Bürgertums, die FDP und die Grünen. Plötzlich interessiert sich niemand für sie. Oder wollen Sie wissen, was Jürgen Trittin zu irgendetwas meint? Wahrscheinlich fragen Sie sich gerade: Jürgen WER? Auch Guido Westerwelles Unterhaltungswert sinkt proportional zu seiner Ministrabilität. Die Macht ist das stärkste Aphrodisiakum, sagte Henry Kissinger. Und umgekehrt gilt: Ohnmacht ist unsexy. Besonders dauerhafte Ohnmacht.
Und die droht Liberalen und Grünen. Die neue deutsche Zufriedenheit ist ein Menetekel. Dass die Große Koalition die schlechteste aller denkbaren Lösungen sei, war noch gestern das Mantra der politischen Klasse und des Kommentariats. Heute sagen dieselben Leute, die Große Koalition berge doch jede Menge Chancen. Dafür lautet ihr neues Mantra, die Große Koalition könne nicht von Dauer sein.
Was werden sie nach der nächsten Wahl sagen, wenn Union und Sozialdemokraten wieder je 35 Prozent bekommen, Grüne und FDP je zehn? Dann wird es heißen, die bewährte Zweier-Koalition mit 70 Prozent sei doch besser als das Risiko der Dreierkoalition Ampel oder Schwampel mit je 55. So lange die Volksparteien zusammen mehr als 50 Prozent bekommen, kann die Große Koalition weitermachen. Und niemand sollte sich ernsthaft wünschen, dass sie zusammen unter 50 Prozent kämen, denn wer sollte sonst die ressentimentgeladene proletarische und kleinbürgerliche Mehrheit in den politischen Prozess einbinden?
Dann schlägt die Stunde der Menschenfänger. Wenn es so weit kommt, wird wieder einmal die politische Schwäche des liberalen Bürgertums daran schuld sein. Konkret: die Unfähigkeit von Grünen und Liberalen, eine gemeinsame Perspektive zu formulieren und eine Neue Mitte zu formieren, die ihrerseits durch wechselnde Koalitionen mit Union oder SPD dafür sorgt, daß die Republik jenen Links-Rechts-Zickzackkurs einschlägt, der es der Demokratie ermöglicht, voranzukommen, obwohl ihr immer der Wind ins Gesicht bläst.
Grüne und FDP umwerben dieselbe Klientel: eine urbane, weltoffene, mobile, metrosexuelle und bildungsorientierte Elite. Demenstsprechend haben Grüne und FDP in entscheidenden Dingen die gleiche Position: sie vertrauen auf die Initiative der Bürger lieber als auf den Staat; sie misstrauen großen Organisationen und Traditionsvereinen wie den Gewerkschaften oder den Kirchen. Sie halten Moral für eine Sache des Individuums. Sie setzen auf die Vernunft und misstrauen der Mobilisierung atavistischer Gefühle, seien sie religiöser, rassischer oder nationaler Natur. Dabei sind sie selbst Idealisten, Vertreter universalistischer Ideologien, und lehnen den kulturellen Relativismus eines Samuel Huntington ebenso ab wie den Versuch, Europa als christliches Projekt zu definieren. Zuwanderung gilt ihnen als Gewinn, Globalisierung auch.
Demgegenüber fällt nicht ins Gewicht, dass die einen eher eine Rollbahn, die anderen eher einen Krötentunnel befürworten, die einen sich eher für Arbeitsmigranten, die anderen für politische Asylanten interessieren, die einen eher auf die WTO, die anderen eher auf ATTAC setzen. Das sind sozusagen innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten. Oder sollten es sein. Zusammen könnten FDP und Grüne locker das Projekt 18 realisieren. Und auf Dauer die schöne Gemütlichkeit der großkoalitionären Konsensgesellschaft stören. Freilich muss man ungemütlich sein wollen. Und das heißt, sich zuallererst von gemütlichen Selbst- und Feindbildern trennen und begreifen, dass im Massenzeitalter die Individualisten, so paradox es klingt, zusammenhalten müssen.
Alan Posener, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der "Welt", zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der "Welt am Sonntag". Posener publizierte neben Schullektüren u. a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy.