Den Geheimnissen auf der Spur
Mit "Eine Übertragung" ist Wolfgang Hilbig ein einzigartiges literarisches Dokument aus dem verschwundenen Land DDR gelungen. Sein nach Erfolgen als Lyriker 1989 erschienener Roman ist eine Textcollage, die sich nur schrittweise entschlüsseln lässt.
Als 1989 Wolfgang Hilbigs erster Roman "Eine Übertragung" erscheint, ist der Name des 1941 in Meuselwitz (es liegt 40 km südlich von Leipzig) geborenen Autors in der literarischen Szene bereits ein Begriff. Mit dem 1979 veröffentlichten Gedichtband "Abwesenheit" hat er sich so überzeugend zu Wort gemeldet, dass die schreibenden Kollegen seine Sprachmagie in den höchsten Tönen loben.
Ebenfalls bewundert wird der Prosaautor Wolfgang Hilbig, der 1982 mit "Unterm Neomond" einen Erzählungsband mit Texten vorlegt, die zwischen 1968 und 1980 entstanden sind. Ein Jahr später erscheint mit "Stimme Stimme" auch ein Auswahlband mit Texten von Hilbig in der DDR. Bis dahin ist der Autor im Osten Deutschlands ignoriert worden.
Hilbigs Texte sind sprachlich so außerordentlich filigran gearbeitet, dass man beim Lesen fast vergisst, wovon sie eigentlich handeln. In seinen Texten wendet er sich nicht der anwesenden Wirklichkeit zu, sondern vielmehr ergründet er Abwesendes. Die Beschreibung dieser Suchbewegung ist ein zentrales Thema seines Romans "Eine Übertragung", der als ein Schlüsseltext zu verstehen ist.
Relativ leicht lassen sich die Sachverhalte aufrufen, um die das Geschehen kreist. Der Icherzähler C. wird in der DDR verhaftet, weil man ihn verdächtigt, in der Stadt M. eine Arbeiterfahne verbrannt zu haben. In der Untersuchungshaft macht er die Bekanntschaft mit einem Mann, der sich Bruder Z. nennt. Als Z. die gemeinsame Zelle verlässt, schmuggelt er dem Icherzähler einen Kassiber zu, der eine kryptisch formulierte Nachricht enthält, aus der hervorgeht, dass ein Mord passieren wird. "Meine Verlobte Kora L. soll ermordet w."
Nach C's Haftentlassung, er ist Heizer und zugleich Dichter, zieht er auf Z's Empfehlung in dessen leere Wohnung und wird so immer mehr zu einem Teil nicht seiner, sondern einer eigentlich ihm fremden Geschichte. Er wird von etwas mitgenommen und so eher zufällig vereinnahmt.
Was geschieht ihm eigentlich, fragt er sich? Zwar ist er aus der Haft entlassen, doch die Haft hört nicht auf. Er ist unschuldig und haftet doch für etwas, was er ganz offensichtlich nicht zu verantworten hat. Hilbigs C. bleibt ein Gefangener. Diesem Schuldbeladenen wird durch eine Nachricht eine Last aufgebürdet, die er nicht abzuwerfen vermag. Die weitergereichte Information schweißt den Verfasser und den Empfänger zusammen, sie bindet Personen aneinander, die sich längst aus den Augen verloren haben.
Ungewollt gerät C. in eine Geschichte hinein, wobei er die Erfahrung macht, dass es ihm nicht gelingt, diese und Geschichte überhaupt los zu werden. Seine Befreiungsversuche misslingen – der Haftaufenthalt, seine Beziehung zum Vater, den er nie kennengelernt hat, haben Einfluss auf sein Leben. Abwesende ebenso wie Abwesendes greifen in C's Leben ein.
Hilbig entwickelt in dem Roman keine Geschichte, die sich folgerichtig in eine bestimmte Richtung bewegt. Vielmehr gleicht sein Erzählen einer Kreisbewegung, wobei die Kreise immer enger um ein Zentrum gezogen werden. Doch wenn der thematische Bereich erzählend umschlossen zu sein scheint, wird durch ein neues Thema die in beschwörenden Worten gezogene Markierung aufgelöst. Hilbig erschließt sich seine Themen schreibend, ohne sie zu einem Abschluss zu bringen. Es hört nichts auf, vielmehr brechen die nicht heilende Wunden immer wieder auf.
Der Roman gleicht eher einer Textcollage, weshalb es so schwer ist, konkret zu bestimmen, wovon Hilbig erzählt. Die Versatzstücke, die Hilbig aus der Wirklichkeit aufgreift, bilden Haltepunkte. Zwischen ihnen spannt er erzählend thematische Fäden. Hilbigs Erzähler ist unterwegs und er bleibt dennoch ein Gefangener, der hofft, sich erzählend aus dem Gefängnis befreien zu können. Das macht die Bedeutung dieses Romans aus, in dem Hilbig versucht, den in der Wirklichkeit existierenden Geheimnissen auf die Spur zu kommen.
Ein Roman, den man wieder und wieder lesen muss, weil er sich nur in kleinen Schritten erschließt. Ein einzigartiges literarisches Dokument aus dem verschwundenen Land DDR.
Besprochen von Michael Opitz
Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung, Werke Band IV
Herausgegeben von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel mit einem Nachwort von Jan Faktor
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
427 Seiten, 22,95 Euro
Ebenfalls bewundert wird der Prosaautor Wolfgang Hilbig, der 1982 mit "Unterm Neomond" einen Erzählungsband mit Texten vorlegt, die zwischen 1968 und 1980 entstanden sind. Ein Jahr später erscheint mit "Stimme Stimme" auch ein Auswahlband mit Texten von Hilbig in der DDR. Bis dahin ist der Autor im Osten Deutschlands ignoriert worden.
Hilbigs Texte sind sprachlich so außerordentlich filigran gearbeitet, dass man beim Lesen fast vergisst, wovon sie eigentlich handeln. In seinen Texten wendet er sich nicht der anwesenden Wirklichkeit zu, sondern vielmehr ergründet er Abwesendes. Die Beschreibung dieser Suchbewegung ist ein zentrales Thema seines Romans "Eine Übertragung", der als ein Schlüsseltext zu verstehen ist.
Relativ leicht lassen sich die Sachverhalte aufrufen, um die das Geschehen kreist. Der Icherzähler C. wird in der DDR verhaftet, weil man ihn verdächtigt, in der Stadt M. eine Arbeiterfahne verbrannt zu haben. In der Untersuchungshaft macht er die Bekanntschaft mit einem Mann, der sich Bruder Z. nennt. Als Z. die gemeinsame Zelle verlässt, schmuggelt er dem Icherzähler einen Kassiber zu, der eine kryptisch formulierte Nachricht enthält, aus der hervorgeht, dass ein Mord passieren wird. "Meine Verlobte Kora L. soll ermordet w."
Nach C's Haftentlassung, er ist Heizer und zugleich Dichter, zieht er auf Z's Empfehlung in dessen leere Wohnung und wird so immer mehr zu einem Teil nicht seiner, sondern einer eigentlich ihm fremden Geschichte. Er wird von etwas mitgenommen und so eher zufällig vereinnahmt.
Was geschieht ihm eigentlich, fragt er sich? Zwar ist er aus der Haft entlassen, doch die Haft hört nicht auf. Er ist unschuldig und haftet doch für etwas, was er ganz offensichtlich nicht zu verantworten hat. Hilbigs C. bleibt ein Gefangener. Diesem Schuldbeladenen wird durch eine Nachricht eine Last aufgebürdet, die er nicht abzuwerfen vermag. Die weitergereichte Information schweißt den Verfasser und den Empfänger zusammen, sie bindet Personen aneinander, die sich längst aus den Augen verloren haben.
Ungewollt gerät C. in eine Geschichte hinein, wobei er die Erfahrung macht, dass es ihm nicht gelingt, diese und Geschichte überhaupt los zu werden. Seine Befreiungsversuche misslingen – der Haftaufenthalt, seine Beziehung zum Vater, den er nie kennengelernt hat, haben Einfluss auf sein Leben. Abwesende ebenso wie Abwesendes greifen in C's Leben ein.
Hilbig entwickelt in dem Roman keine Geschichte, die sich folgerichtig in eine bestimmte Richtung bewegt. Vielmehr gleicht sein Erzählen einer Kreisbewegung, wobei die Kreise immer enger um ein Zentrum gezogen werden. Doch wenn der thematische Bereich erzählend umschlossen zu sein scheint, wird durch ein neues Thema die in beschwörenden Worten gezogene Markierung aufgelöst. Hilbig erschließt sich seine Themen schreibend, ohne sie zu einem Abschluss zu bringen. Es hört nichts auf, vielmehr brechen die nicht heilende Wunden immer wieder auf.
Der Roman gleicht eher einer Textcollage, weshalb es so schwer ist, konkret zu bestimmen, wovon Hilbig erzählt. Die Versatzstücke, die Hilbig aus der Wirklichkeit aufgreift, bilden Haltepunkte. Zwischen ihnen spannt er erzählend thematische Fäden. Hilbigs Erzähler ist unterwegs und er bleibt dennoch ein Gefangener, der hofft, sich erzählend aus dem Gefängnis befreien zu können. Das macht die Bedeutung dieses Romans aus, in dem Hilbig versucht, den in der Wirklichkeit existierenden Geheimnissen auf die Spur zu kommen.
Ein Roman, den man wieder und wieder lesen muss, weil er sich nur in kleinen Schritten erschließt. Ein einzigartiges literarisches Dokument aus dem verschwundenen Land DDR.
Besprochen von Michael Opitz
Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung, Werke Band IV
Herausgegeben von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel mit einem Nachwort von Jan Faktor
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
427 Seiten, 22,95 Euro