Den jungen Afghanen "ihre Würde, ihren Platz" geben

Martin Gerner im Gespräch mit Susanne Führer |
Der Journalist Martin Gerner will mit seinen fünf Protagonisten in "Generation Kunduz" zeigen, wie engagiert trotz aller Probleme die jungen Menschen in Afghanistan sind. Eine der großen Herausforderungen sei es gewesen, das Vertrauen zu den Menschen zu finden.
Liane von Billerbeck: Alles ist heute schwer in Afghanistan, um an den Satz von Margot Käßmann zu erinnern. Auch die Liebe, denn es gäbe kein Vertrauen, weil jeder, der in den vergangenen 30 Jahren jemandem vertraut habe, in Afghanistan enttäuscht worden sei. Das ist eine der vielen überraschenden Botschaften aus dem Dokumentarfilm "Generation Kunduz". Meine Kollegin Susanne Führer hat mit Martin Gerner gesprochen und ihn zuerst gefragt, wie schwer das war, ein Vorhaben, ein Film über das Alltagsleben der Menschen in Kunduz zu drehen. Das war sicherlich nicht so leicht, oder?

Gerner: Es ist erst mal schwierig, Kameraleute zu finden, die mit einem da hingehen, sowohl auf deutscher, wie aber auch auf afghanischer Seite. Ich habe mich ab einem bestimmten Zeitpunkt entschieden, mit persischsprachigen, das heißt sowohl afghanischen, als auch persischstämmigen Kameraleuten zu drehen. Es gab mehrere Drehs über den Zeitraum von 19 Monaten. Eine große Herausforderung war, das Vertrauen zu den Menschen zu finden.

Überhaupt wird es mit Jahr zu Jahr schwieriger und ganz besonders auch in Kunduz, das Vertrauen der Menschen zu finden, was natürlich, wenn man eine begrenzte Zeit zu drehen hat, eine Herausforderung ist. Was mir vielleicht ein bisschen geholfen hat dabei, war auch, dass ich über die Jahre in Afghanistan selbst war, die Sprache ein Stück weit spreche, auch im Film die Interviews dann zum Teil selbst führen konnte, um eine gewisse Nähe herzustellen. Aber das ist eine Grundherausforderung auch für die Zivilen, für die Soldaten ohnehin.

Führer: Fünf junge Menschen werden uns näher vorgestellt in dem Film, es gibt auch noch ein paar andere, sagen wir mal, eher Nebenrollen. Diese Fünf lernen wir ziemlich gut kennen. Wie haben Sie die ausgewählt?

Gerner: Ich war nicht zum ersten Mal in Kunduz 2009, es gab bestehende Kontakte, weil ich als Ausbilder von Journalisten in Afghanistan, aber auch als freier Journalist für deutsche Medien das Land bereise. Und da gab es Kontakte zu einer Theatergruppe, die aber dann sich auflöste – davon kommen zwei Protagonisten –, dann aber auch zufällige Begegnungen. Etwa, da gibt es einen zehnjährigen Schuhputzer, einen Jungen, der eigentlich keine Kindheit in unserem Sinne hat, der diese Situation analysiert wie ein Erwachsener.

Den haben wir in einem Teehaus getroffen, wo wir mittags häufig Pause gemacht haben, der durchaus typisch auch ist in seiner, ja, sowohl in seinem Instinkt als auch seinen sehr zielgerichteten Äußerungen und zugleich seiner Vitalität. Die überhaupt glaube ich viele, das ist immer das Echo, was ich so kriege: Die sind ja unwahrscheinlich vital, so als ob durch die bildliche Darstellung in unseren Medien ja man gar nicht sich vorstellen kann, wie viel Leben trotz aller Probleme in einem Afghanen, in einer jungen Generation steckt.

Führer: Das Schöne an dem Film ist ja eben, dass er uns ein anderes Afghanistan zeigt, engagierte Menschen, engagierte junge Menschen, die ihr Leben und das ihres Landes verbessern wollen, ob jetzt als freiwillige Wahlbeobachter wie der Student Hasib oder auch als Filmemacherin wie die junge Khatera. Sie haben gerade gesagt, der Junge ist typisch. Wie ist das mit den anderen – sind die typisch für die junge Generation oder sind das Ausnahmen?

Gerner: Ich habe versucht, so weit wie möglich ein Bild der Gesellschaft zu bekommen aus Kundus, sowohl ärmere Schichten, siehe den Schuhputzer, der aber auch zur Schule geht, als auch die jüngere engagierte Generation. Man sieht die eine Journalistin, die 18-jährige, wie sie auch ein Blogger-Seminar in Kundus, was eine seltene Gelegenheit an diesem Ort ist, besucht.

Zugleich muss man sagen, aber das zählt für ganz Afghanistan, gerade bei den Frauen: Es gibt eine gewisse Schicht von der jungen Generation, die im Alltag öffentlich überhaupt stehen. Wir reden ja von einer Gesellschaft, wo außerhalb der Städte, außerhalb von Kabul das In-der-Öffentlichkeit-Stehen von den Familien zum Teil immer noch beschnitten wird. Insofern ist der Ausschnitt der Leute, denen ich begegnen kann, die bereit sind, sich so einer Situation, Bildern zu stellen.

Es gibt diese Doppelbödigkeit: Auf der einen Seite gibt es dieses Gefühl, sich absolut in einer Inferioritätsposition zu befinden – die Ausländer bestimmen alles, der Satz fällt auch –, auf der anderen Seite weiß man, wissen auch die jungen Leute genau, dass es nicht einfach wird, wenn der Abzug stattfindet und sozusagen die ehemaligen Warlords sich absehbar wieder bekämpfen werden. Aber dazwischen liegen viele, viele Grautöne, die auch genannt werden, von "ihr nehmt unsere Toten gar nicht wahr", die afghanischen Polizisten, die kurz vorkommen.

Oder auch eine Polizistin, die ausführlicher vorkommt, die eine unwahrscheinliche Angst hat vor dieser Begegnung mit uns überhaupt, weil ihre Nachbarschaft sie denunzieren könnte. Sie sagt, schon mein kleiner Junge kommt zu auf mich und warnt mich davor: Was bedeutet das, dass du das Kamerateam jetzt rein lässt? Das finde ich die sehr spannenden Grautöne, die eigentlich zeigen, was Krieg – das heißt, die Präsenz von Taliban und internationalem Militär und den Menschen dazwischen – mit diesen Menschen macht und wie es jegliche Kommunikation letztendlich eben auch für die zivilen Helfer erschwert.

Führer: Martin Gerner, Regisseur des Films "Generation Kunduz" im Deutschlandradio Kultur. Herr Gerner, wie ein roter Faden zieht sich ja durch den Film, durch die Gespräche, die Sie da führen, die Angst vor den Taliban. Also die junge Radiojournalistin zum Beispiel sagt: Alle haben Angst. Der Bruder der Radiojournalistin sagt: Mit deinem Beruf gefährdest du die ganze Familie, wenn die Taliban wiederkommen, dann werden sie sich an uns allen rächen. Also in welchem Maße diese ja doch gestürzten Taliban heute noch Angst und Schrecken verbreiten, das hat mich wiederum erschrocken, muss ich sagen.

Gerner: Ja, aber ich würde sagen, auf der anderen Seite sieht man ja, dass sie trotzdem ihre Dinge alle machen. Diese Angst ist da, und auf der anderen Seite ist das Teil eben dieser enormen Energie und eines Optimismus in gewisser Weise. Ich habe auf diesen Film interessante Reaktionen in Kabul gekriegt, wo ich ihn einer kleinen Runde von Bekannten und Filminteressierten gezeigt habe. Da war eine spontane Reaktion: Danke für das Bild dessen, was wir als afghanische Realität interpretieren, sehen. Und das ist natürlich auch eine wichtige Sache für mich, dass sie sich widergespiegelt fühlen.

Das hat unter dem Strich auch was damit zu tun, diesen Menschen, dieser jungen Generation auch ihre Würde, ihren Platz zu geben. Wir reden viel über die arabische Jugend dieser Tage. Sie haben in diesem Film den Wahlbeobachter, der sagt: Hier können wir nicht auf die Straße gehen und demonstrieren. Wir würden das zwar gern tun, er sagt sogar, in Iran geht es denen noch besser, die können mit mehr Selbstvertrauen auf die Straße gehen – was für eine Aussage, und zugleich dann natürlich zwischen den Zeilen auch denken und sehen: Wir sind als stabilisierender Faktor seit zehn Jahren in dem Land, der Westen. Was bedeutet das? Wen unterstützen wir da, wenn ein junger Mann so eine Aussage macht?

Führer: Sie haben ja mit dem Dreh des Films vor dem Luftangriff auf die zwei entführten Tankerlastwagen im September 2009 begonnen, also der ja damals bekanntlich von einem deutschen Oberst angeordnet wurde, viele Afghanen sind dabei getötet und verletzt worden. Sie haben dann nach dem Angriff auch noch gedreht. Wie lebt denn Kundus heute eigentlich mit dieser Katastrophe? Ist das ein Trauma, ist das ein Tabu oder steht das im Zentrum vielleicht sogar der Gespräche, der Bezüge – vor dem Angriff, nach dem Angriff?

Gerner: Was ich bekomme als Feedback, ist, dass es einerseits gerade auch in den Distrikten außerhalb der Stadt etwas sicherer geworden sei – viele Talibanführer sind durch sogenannte Spezialeinheiten der Amerikaner ausgeschaltet worden –, zugleich herrscht wie nie zuvor eine Angst eben vor Selbstmordanschlägen.

Und: Der Westen hat in diesen letzten anderthalb Jahren mit Blick auf den Abzug Milizen, ehemalige Mudschaheddin und Warlords wieder Waffen in die Hand gegeben, weil es nicht genug Polizisten gibt. Die Entwaffnung wird zum Teil so rückgängig gemacht, und diese Milizenführer sind sehr unzuverlässige Menschen, die Raub und Erpressung sozusagen im Umgang dort an den Tag legen. Das heißt, wir sind dabei in vielerlei Hinsicht dieses Land unsicherer, mit mehr Rissen in gesellschaftlichem Sicherheitskontext den Menschen wieder zu übergeben.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Filmhomepage "Generation Kunduz"
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