Den Kolonialismus erzählen

"Sie wollen, dass wir ihre Götter anbeten"

29:29 Minuten
Vier Frauen in ähnlichen roten Kleidern, schwarzer Blouson-Jacke und roter, traditioneller Herero-Kopfbedeckung stehen auf einer leeren Straße.
Trauer um Ermordete: Herero-Frauen in Namibia gedenken im August 2016 bei einem Umzug der Toten des Genozids von 1904 bis 1907. © Getty Images / Per-Anders Pettersson
Von Sieglinde Geisel |
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Als im Jahr 1978 Uwe Timms Roman "Morenga" über den Aufstand der Herero gegen die deutschen Kolonialherren erschien, war der Kolonialismus noch kaum ein Thema. Das ist heute anders. Doch in der Literatur ist der Kolonialismus ein heikler Stoff.
Heute ist der postkoloniale Diskurs schon fast selbstverständlich, doch im deutschsprachigen Raum haben sich bislang nur wenige Autoren wie Christopher Kloeble und Lukas Bärfuss an das Thema herangewagt. Und die simbabwische Autorin Petina Gappah tut etwas, was vielleicht nur Afrikanern erlaubt ist: Sie lässt in ihrem Roman "Aus der Dunkelheit strahlendes Licht" die afrikanischen Gefährten von Missionar David Livingstone zu Wort kommen.

Wen interessiert das?

"Als ich den anfing zu schreiben, haben alle gesagt: Das ist doch völlig verrückt. Das interessiert doch keinen Menschen, Nama, auch der Verlag Autoren-Edition sagte damals, das ist doch ein völlig abwegiges Thema, wen interessiert das?", erzählt Uwe Timm. Sein Roman "Morenga" handelt vom Aufstand der Nama und Herero. 1904 hatte dieser Aufstand gegen die deutschen Kolonisatoren begonnen, 1907 endete er mit einem Genozid. Als Uwe Timm in den 1970er Jahren für seinen Roman recherchierte und dafür nach Namibia fuhr, stand das Land unter der Verwaltung Südafrikas. Es herrschte die Apartheid.
"Morenga" ist ein Montageroman. Uwe Timm zitiert Berichte und Briefe der deutschen Kolonialherren, etwa darüber, ob man besser mit dem Tau prügelt oder mit der Nilpferdpeitsche. "Das haben Sie wirklich, in nuce ist das der ganze Hintergrund eines Kapitalismus, der ganz hart ausbeutet, Menschen brutal einsetzt, damit sie arbeiten können."
Jakobus Morenga, der "schwarze Napoleon", war der Anführer der Herero und Nama. Er kam 1907 in einem Gefecht zu Tode. Über den Roman sei auch diese Figur in der Geschichtsschreibung wiederentdeckt worden.

Die Schwierigkeiten postkolonialen Erzählens

Zwar gab Jakobus Morenga dem Roman den Titel. Doch Morengas Perspektive war für Uwe Timm tabu. "Ich fände das peinlich, wenn man als Deutscher mit einem Glas Rotwein, sagen wir, einfach hier am Schreibtisch sitzend, sich in so eine Gestalt hineinversetzt und ihn beschreiben wollte. Es wäre wie eine Anmaßung."
Es wäre eine zusätzliche Kolonisierung, so Uwe Timm. Er wählte deshalb die Perspektive eines fiktiven deutschen Veterinärs namens Gottschalk, der die deutschen "Schutztruppen" im Kampf gegen die Herero unterstützen soll, doch im Laufe der Geschichte einen Bewusstseinswandel durchmacht.

Der eigenen Herkunft entfremdet

Christopher Kloeble erzählt in seinem Roman "Das Museum der Welt" die Geschichte der drei Schlagintweit-Brüder, die 1854 nach Indien reisten. Ihre Aufzeichnungen nahm er dafür als Grundlage. Die Vorlage eins zu eins zu übernehmen, kam für ihn allerdings nicht in Frage. Kloeble erlaubt sich, was Uwe Timm sich verboten hatte: einen kolonisierten Ich-Erzähler, der mit den Brüdern reist.
Bartholomäus ist ein Waisenjunge, der seinen Namen dem erstaunlich progressiven Leiter einer Missionsschule verdankt, in der Bartholomäus seine Kindheit verlebt hat. Von ihm hat Bartholomäus so gut Deutsch gelernt, dass er seine Erlebnisse im Original für uns aufschreiben kann – so die kühne Fiktion des Romans. Bartholomäus heuert bei den Schlagintweits als Übersetzer an. Was er nicht weiß: Sein Vater stammte gar nicht aus Indien, sondern aus Hannover.
Das tieferliegende Thema des Romans besteht in der Art und Weise, wie auch das Denken kolonisiert wurde. So progressiv sein Lehrer für damalige Verhältnisse gewesen sein mag – er hat seinen Zögling von der eigenen Herkunft entfremdet.

Eine Leiche im vorkolonialen Afrika

Der schottische Afrikaforscher David Livingstone starb 1873 mitten in Afrika. Seine Gefährten beschlossen, er solle in seiner Heimat bestattet werden und trugen seine Leiche 1500 Kilometer weit bis an die Küste. Für die Autorin Petina Gappah aus Simbawe war diese Geschichte der Ausgangspunkt für ihren Roman "Aus der Dunkelheit strahlendes Licht": "Ich hatte das Glück, zu den ersten Simbabwern zu gehören, die das Fach Geschichte aus einer afrikanischen Perspektive unterrichtet bekamen. Wir konzentrierten uns auf Geschichte aus der Perspektive derjenigen, die in ihr bislang nicht vorkamen".
Der schottische Missionar David Livingstone wollte die Quelle des Nils finden. Seine afrikanischen Gefährten, die er aus der Sklaverei freigekauft hatte, waren Bwana Daudi, wie sie ihn nannten, so verbunden, dass sie das Unmögliche wagten und seine Leiche zur Küste trugen. Neun Monate dauerte die Reise, von der Petina Gappah in ihrem Roman erzählt.
Es gibt einen Prolog, in dem der Chor der 69 Gefährten spricht. Den Roman selbst teilen sich zwei Ich-Erzähler. Halima, Livingstones Köchin, ist die Ich-Erzählerin der ersten Hälfte. Livingstone hatte sie in seinen Tagebüchern, die im Roman zitiert werden, oft erwähnt. Die zweite Hälfte des Romans wird von Jacob Wainwright erzählt, der einen ganz anderen Blick auf die Dinge hat als Halima. Auch er ist eine historische Figur. Er hat in einer indischen Missionsschule Englisch gelernt und ist darauf ebenso stolz wie auf seinen Anzug.
Jacob ist als Missionar nach Afrika zurückgekehrt: "Er ist so eine Figur, die man nicht mag, aber man versteht ihn. Am Ende wird man Mitleid mit ihm haben, weil er so verloren ist. Halima denkt, sie sei eine Sklavin, aber sie ist die emanzipierteste von allen. Und Jacob, der denkt, er sei frei, ist in Wahrheit aber versklavt. Er ist ein Sklave der Idee, dass er ein guter Christ sein müsse".
Jacob wurde als Kind an arabische Sklavenhändler verkauft, dann jedoch bei der Überfahrt im indischen Ozean von einem britischen Patrouillenschiff gerettet. Er war kein Einzelfall, im Gegenteil: Sein Schicksal ist exemplarisch für ein kaum bekanntes Kapitel der Sklaverei. Auch Petina Gappah hat davon erst durch ihre Recherchen erfahren. Das Problem: Nachdem diese Sklaven gerettet waren, wusste man nicht, wohin mit ihnen, da man ihre Herkunft nicht kannte.
Viele von ihnen, vor allem die Jüngsten, wurden in eine Missionsschule in der Nähe von Bombay gebracht. Wenn Europäer in Indien Halt machten, nahmen sie diese jungen Männer als Führer mit, da sie neben dem Englischen auch ihre eigenen Sprachen beherrschten. "Ich bekam Gänsehaut," sagt Gappah, "als ich erfuhr, dass es diese befreiten Sklaven waren, die die viktorianischen Forschungsreisen möglich machten. Jacob ist ein Stellvertreter für das, was der Prozess der Kolonialisierung angerichtet hat. Es war nicht nur physisch, es war mental. Und wir spüren es bis heute."

Die Schuld der Wohlmeinenden

Der Roman "Hundert Tage" des Schweizer Autors Lukas Bärfuss erzählt vom Genozid in Ruanda und von der Rolle, die die Schweiz dabei spielte. Der Auslöser für den Genozid 1994 in Ruanda war der Tod des Präsidenten Habyarimana bei einem Flugzeugabsturz. Die Schweiz war seit den sechziger Jahren ein enger Partner Ruandas in der Entwicklungshilfe. Hatte die Schweiz eine Mitverantwortung?
"Es gibt etwas ganz Unerklärliches," sagt Bärfuss, "und das betrifft die Menschen, die dort gearbeitet haben, die Entwicklungshelfer. Das waren keine Zyniker, die wollten Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Und deshalb gingen sie nach Ruanda, aber sie konnten nach Ruanda nur gehen, weil es dort diesen Diktator Habyarimana gab, der ihre Sicherheit garantierte".
Das Treppenhaus ist aus hellem Beton und bildet mit seinen Linien einen schlichten Hintergrund für Lukas Bärfuss, der mit einem Arm auf dem Geländer aufgestützt ist und sich mit der anderen Hand durch die Haare fährt.
Lukas Bärfuss im Darmstädter Staatstheater, kurz bevor er den Georg-Büchner-Preis verliehen bekommt.© dpa / Boris Roessler
Lukas Bärfuss geht es weniger um die Gewalt der Kolonialherren als um die Schuld der Wohlmeinenden. Denn auch die Entwicklungshelfer aus der Schweiz sind zwar voll guter Absichten, aber ebenso vom kolonialen Denken geprägt. Ruanda war das Lieblingsland der Schweizer in Afrika, denn hier gab es keine "Neger", wie es ein korrupter Entwicklungshelfer namens Missland im Roman ausdrückt.
"Die Menschen sahen zwar aus wie Neger, hatten schwarze Haut und krause Haare, aber in Wirklichkeit waren es afrikanische Preußen, pünktlich, Ordnung liebend, von ausgesuchter Höflichkeit." Die rechtschaffenen Schweizer halfen ihnen dabei, diese "Sekundärtugenden", wie Bärfuss sie nennt, zu perfektionieren. Und genau das ermöglichte den Genozid, so die kühne These des Romans.

Noch viele nicht erzählte Geschichten

Das Problem bei dieser Art von Literatur sei, dass man nicht aus der eigenen Erfahrung schreiben könne, sagt Lukas Bärfuss. Über den Kolonialismus und seine Folgen zu schreiben, kann für einen weißen Autor durchaus unangenehm sein. "Man muss akzeptieren, dass man nicht unbedingt zu den Opfern gehört, sondern zu den Profiteuren einer sehr komplizierten Geschichte, und diese Selbstkritik muss man irgendwie aushalten".
Petina Gappah steht vor dunkelgrünem Hintergrund, lächelt leicht und schaut links seitlich an der Kamera vorbei. Sie trägt ein dunkelblaues T-Shirt, einen rot-bunt gemusterten Blazer und einen silbernen Armreif um den linken Arm.  
Die Autorin Petina Gappah bei der Internationalen Buchmesse in Edinburgh 2015. © picture alliance / Photoshot
Wir haben die Kolonialisierung und ihre Folgen noch kaum verstanden. Die Simbabwerin Petina Gappah sieht beide Seiten. "Es ist für mich immer wichtig, das zu zeigen: Afrika hat eine Geschichte vor der europäischen Eroberung, aber es ist auch wichtig, dass modern Africa mit alle seinen borders und alles, it would not have been possible to have modern Africa without European Eroberung, you see"
Über die Kolonialisierung gibt es mehr nicht erzählte als erzählte Geschichten. Die postkoloniale Literaturgeschichte steht erst an ihrem Anfang.
(DW)
Das Manuskript der Sendung können Sie hier herunterladen.

SprecherInnen: Nina Weniger, Alexander Ebeert und die Autorin
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Peter Seyffert
Redaktion: Dorothea Westphal

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