"Den Preis zahlen wir immer wieder"
Verglichen mit den Seuchenkatastrophen der Neuzeit sei die Ausbreitung des EHEC-Erregers kein Anlass zu Panik, meint der Medizinhistoriker Robert Jütte. An einen ähnlichen Fall von befallenen Sprossen in Japan erinnert der Wissenschaftsjournalist Arndt Reuning.
Britta Bürger: Auf der Suche nach dem lebensgefährlichen EHEC-Erreger führt die Spur derzeit zu Sprossen. Ein Gemüsehof in der Nähe von Uelzen hat Gastronomiebetriebe, Groß- und Wochenmärkte damit beliefert, auch Reformhäuser haben das Produkt vertrieben unter dem Namen "Milde Sprossenmischung". Zugeschaltet ist uns jetzt Arndt Reuning aus unserer Wissenschaftsredaktion. Herr Reuning, wie sind die Experten denn auf diese Spur gekommen?
Arndt Reuning: Ja, eigentlich ganz klassisch mit Detektivarbeit. Man hat geschaut, was haben die Patienten denn gegessen, an welchen Orten haben sie gegessen, und daraus hat man dann eine Schnittmenge gebildet. Und dann musste man zurückverfolgen, woher diese einzelnen Lebensmittel aus dieser Schnittmenge denn stammen, und eine Spur hat dann wohl zu jenem Betrieb in der Nähe von Uelzen geführt.
Bürger: Wie verlässlich ist diese Vermutung jetzt?
Reuning: Na ja, es gibt einige starke Indizien, die eben darauf hinweisen, dass hier der Ursprung des Ausbruchs liegen könnte. Zum einen eben die Tatsache, dass diese Sprossen zu bestimmten Krankheitsfällen verfolgt werden können. Außerdem: eine Mitarbeiterin des Betriebs, in dem diese Sprossen gezogen worden sind, die ist an einem EHEC-Keim erkrankt. Also entweder hat sie sich selbst an den Sprossen infiziert, oder sie ist die Überträgerin gewesen. Allerdings, eine genetische Untersuchung steht noch aus, die Ergebnisse sollen heute Mittag, heute Nachmittag vielleicht bekannt gegeben werden, und das wäre dann erst der Beweis. Und so lange die Ergebnisse dieses Gentests noch nicht feststehen, sollte man diese Spur eben genau so genießen wie die Sprossen selbst: mit Vorsicht.
Bürger: Ist das denn ungewöhnlich, dass Sprossen von solchen Keimen befallen werden?
Reuning: Ach gar nicht so sehr, in Japan zum Beispiel hatte es einen Fall gegeben im Jahr 1996, einen EHEC-Ausbruch durch verseuchte Sprossen von Rettich, dabei sind 10.000 Menschen erkrankt. Und es kommt immer mal wieder vor, nicht so häufig wie Lebensmittelinfektionen bei Fleisch, aber bei Untersuchungen wird ab und zu entdeckt, dass diese Sprossen mit verschiedenen Keimen belastet sind. Das können Listerien sein, es können Salmonellen sein oder auch eben verschiedene toxinbildende Kolibakterien. Das liegt zum einen daran, dass die Samen – oder diese Bohnen manchmal ja auch – bei ungefähr 40 Grad Celsius keimen. Bei dieser Temperatur werden sie mit Wasser besprüht. Und das sind natürlich gute Bedingungen – feucht und warm – für das Wachstum von Bakterien. Außerdem hat es damit zu tun, dass die Sprossen an dem Samen, an der Bohne eventuell abgeschnitten werden, und dann entsteht durch die Schnittfläche ein Einfallstor für diese Keime. Dort tritt Zellsaft aus, der den Bakterien natürlich einen guten Nährboden bietet. Und die Sprossen werden verpackt in Kunststofftüten, und auch da herrscht ein vorteilhaftes Klima für die Keime, es ist relativ feucht, es ist wie ein kleines Treibhaus. Und daher passiert das ab und zu mal, aber meistens verlaufen diese Infektionen dann relativ glimpflich.
Bürger: Es gibt jetzt alle möglichen Analysen. Was verrät die Erbgutanalyse über die Herkunft des Keims?
Reuning: Geografisch erst einmal nicht so viel. Dazu müsste man jetzt das Genom mit anderen Bakterienerbgut-Datenbanken vergleichen. Aber man hat eine Auffälligkeit entdeckt: Dieser Keim ist resistent gegen ein bestimmtes Mineral, gegen Tellurit, das enthält Tellur. Und das kommt im Boden vor. Und vielleicht ist diese Mischform – denn das ist eine genetische Mischform aus verschiedenen Keimen – nicht in einem Kuhdarm entstanden oder auch nicht im Menschendarm, sondern sie ist vielleicht irgendwo im Erdboden entstanden. Andererseits muss man sagen, Tellurverbindungen wurden in der Vergangenheit bei bestimmten Krankheiten benutzt, zum Beispiel bei Lepra und Tuberkulose zu einer Zeit, als es noch keine Antibiotika gab. Und vielleicht spiegelt dieses Resistenzgen gegen Tellurit einfach nur die Vergangenheit des Keims wider. Also es könnte sein, dass es sich vor Jahrzehnten eigentlich schon diese Resistenz erworben hat, und nicht jetzt erst irgendwo in einem Erdboden.
Bürger: Danke für diese Information, Arndt Reuning aus unserer Wissenschaftsredaktion über die neusten Erkenntnisse der EHEC-Epidemie. Die Menschen sind besorgt, doch gibt es tatsächlich Anlass zu Panik? Man hört Begriffe wie Darmseuche und Todeskeime, die an dunkelste Zeiten erinnern, und darüber möchte ich jetzt mit Robert Jütte sprechen. Er leitet das Institut für Medizingeschichte der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart. Ich grüße Sie, Herr Jütte!
Robert Jütte: Ja guten Morgen, Frau Bürger!
Bürger: Ist die EHEC-Panik übertrieben?
Jütte: Absolut. Vor allen Dingen nicht nur kurzfristig gesehen – wir haben ja auch Lebensmittel-"Skandale" gehabt, die auch auf Erreger ja zurückgeführt worden sind in den letzten Jahren, die nach wenigen Monaten schon wieder in Vergessenheit geraten sind. Denken Sie an den Dioxinskandal mit Eiern, wir haben Gammelfleisch, wir haben Nitrofen also auch schon in Biogetreide gehabt 2002, alles Dinge, die heute aus unserem Kurzzeitgedächtnis mehr oder weniger schon verschwunden sind und langfristig sowieso.
Wenn wir es also mit den großen Seuchenkatastrophen der Neuzeit vergleichen, dann kommt einem das sehr bekannt vor, vor allen Dingen auch die Reaktionen seitens der Behörden, der Streit unter den Experten. All das, und selbst der Urheber angeblich, also der Salat, hat eine lange Vorgeschichte. Ich lese gerade eine Doktorarbeit über die Pest in Augsburg, wo ich also gefunden habe, dass Ärzte damals also auch schon vor den Früchten mit voller, böser Feuchtigkeit gewarnt haben. Also sprich zum Beispiel auch Gurken.
Bürger: Sie haben eben selbst gerade den Begriff Seuche benutzt. Ist die EHEC-Epidemie überhaupt eine Seuche, also vergleichbar mit Krankheiten wie Pest und Cholera, oder auch mit Pocken oder Ruhr?
Jütte: Also die Definition heute von Seuchen ist ganz anders, als wir sie in der frühen Neuzeit noch hatten, wo man ja im Wesentlichen von der Pest gesprochen hat, ohne dass man die Pest im heutigen Sinne, im bakteriologischen Sinne meint. Seuche ist einfach klar definiert: Wenn Sie über einen gewissen Zeitraum in einem bestimmten Gebiet also eine Häufung von Krankheitsfällen haben, ist das eine Epidemie, die lokal begrenzt sein kann. Längst nicht natürlich so, wie wir bei der Schweinegrippe befürchtet haben und auch zum Teil ja gehabt haben, eine Pandemie, die weltweit zu beobachten ist. Seuche ja, aber sozusagen, die wirklich in Proportionen gesehen werden muss.
Bürger: Genährt wird die Angst der Menschen durch Verschwörungstheorien wie zum Beispiel die eines Bioterroranschlags oder auch die Vermutung, der Erreger könne aus Biogasanlagen kommen. Sind die Leute mittlerweile offener als früher für solche Szenarien, oder gab es das schon immer in der Medizingeschichte?
Jütte: Also die Medizingeschichte hat sehr viele Beispiele gerade für diese Verschwörungstheorien zu bieten, also sowohl in jüngster Vergangenheit, denken Sie an den Choleraausbruch 2010 in Haiti, die Cholera ist ja nicht so weit entfernt verwandt mit dem jetzigen Erreger. Dort sind also im Bereich des Voodoo-Kultes dann Voodoo-Priesterinnen hingerichtet worden, weil man ihnen das in die Schuhe geschoben hat. Oder in den Choleraepidemien ganz am Anfang des 19. Jahrhunderts in Russland sind Ärzte totgeschlagen worden, weil man ihnen vorgeworfen hat, sie würden an der Krankheit verdienen und sie hätten den Erreger, den man damals ja noch nicht kannte, in Umlauf gesetzt.
Bürger: Nach dem Skandal um die Massentierhaltung stand jetzt dann erst mal also der Gemüseanbau auf dem Prüfstand. Nun sind es ja nicht die Gurken und auch die Tomaten. Ist es also keine Quittung für die globalisierte Gemüseproduktion, oder sollten wir doch hier auch anfangen, nachzudenken?
Jütte: Also man wird sicherlich nicht … Offensichtlich ist das immer noch ein Problem der Hygiene, und natürlich, Erreger kommen im Tierreich vor, sie sind im Menschen, das hat ja der Kollege aus der Wissenschaftsredaktion noch mal sehr genau gesagt, wie wir uns das vielleicht vorstellen müssen. Entscheidend ist – und da werden wir auch nichts dran ändern –, wenn wir Sicherheit erreichen wollen, müssen wir die klassischen Hygieneregeln, die wir seit dem Zeitalter der Bakteriologie, also seit über 130 Jahren haben, beherzigen, und dazu gehört eben auch insbesondere das Händewaschen und auch zu versuchen, bei den Behandlungen von Lebensmitteln äußerste Hygiene walten zu lassen. Und da ist man häufig nachlässig geworden und den Preis zahlen wir immer wieder. Und wir werden leider durch solche Katastrophen daran erinnert, dass also Hygiene ein langfristiger Prozess ist, den man nicht so leicht verinnerlichen kann.
Bürger: Und bei Sprossen ist das natürlich schwierig, wie will man Sprosse für Sprosse abwaschen?
Jütte: Wenn es wirklich so ist … Wir wissen das ja noch nicht, ich bin da auch immer noch erst skeptisch, bis nicht der absolute Nachweis gebracht worden ist, insofern ist ja der Erreger im Keim selbst drin. aber er muss ja irgendwie hineingekommen sein und vielleicht gibt es da auch eine Hygienekette, die unterbrochen worden ist, das wissen wir noch nicht. Also insofern … Ich meine, das Tragische ist ja wie immer, dass man glaubt, bei Bio ist man sicher, und in diesem Falle scheint es, wenn es sich bewahrheitet, ja auch wieder ein Biohof gewesen zu sein. Also absolute Sicherheit gibt es nicht und das ist vielleicht eine Lehre, die wir aus der Geschichte ziehen müssen. Also selbst bei allem Fortschritt, den wir im Bereich der Nahrungsmittel, Hygiene und auch der Chemie bekommen haben, also die Sicherheit werden wir nie erreichen.
Bürger: Wie halten Sie es selbst mit Ihrer Ernährung, haben Sie Ihren Speiseplan verändert?
Jütte: Nein, ich lebe ja in Süddeutschland und war auch am Samstag auf unserem Wochenmarkt, wo regionale Erzeuger anbieten, und selbstverständlich habe ich dort auch frisches Obst gekauft und auch Gemüse. Ich meine, was bedauerlich ist, man sieht – und das ist auch ein klassisches Phänomen, was man beobachten kann –, die Preise für Gurken und Tomaten und andere sinken ins Bodenlose, und das war 1892 in Hamburg bei der Choleraepidemie, die 8000 Opfer gefordert hat, auch der Fall, plötzlich konnten sich dann die armen Menschen, die sich früher kein Obst leisten konnten, Obst leisten, weil es billig geworden war. Was natürlich dann auch nicht zur Eindämmung der Seuche beigetragen hat.
Bürger: Wird das EHEC-Kapitel langfristig Auswirkung haben auf unsere Konsumgewohnheiten?
Jütte: Also ich glaube nicht. Wenn man sich mal sozusagen die Halbwertszeit von Lebensmittelskandalen im weitesten Sinne anschaut der letzten 20 Jahre, werden Sie feststellen, dass also die Aufmerksamkeit der Medien dann mit der Bevölkerung innerhalb von zwei Wochen im Schnitt ablässt. Und wenn wir uns den Dioxinskandal, der ja noch gar nicht so lange zurückliegt, anschauen, werden wir feststellen, dass zwar Politiker vieles versprochen haben, aber dass jetzt erst der Bundestag im Juni mal drüber nachdenkt, wie also ein Frühwarnsystem gerade in diesem Bereich durchgeführt werden kann. Also ob das dann wirklich was bringt, also ich bin sehr skeptisch, was solche langfristigen Auswirkungen anbetrifft.
Bürger: Der Medizinhistoriker Robert Jütte von der Robert-Bosch-Stiftung. Danke Ihnen fürs Gespräch!
Jütte: Gerne.
Arndt Reuning: Ja, eigentlich ganz klassisch mit Detektivarbeit. Man hat geschaut, was haben die Patienten denn gegessen, an welchen Orten haben sie gegessen, und daraus hat man dann eine Schnittmenge gebildet. Und dann musste man zurückverfolgen, woher diese einzelnen Lebensmittel aus dieser Schnittmenge denn stammen, und eine Spur hat dann wohl zu jenem Betrieb in der Nähe von Uelzen geführt.
Bürger: Wie verlässlich ist diese Vermutung jetzt?
Reuning: Na ja, es gibt einige starke Indizien, die eben darauf hinweisen, dass hier der Ursprung des Ausbruchs liegen könnte. Zum einen eben die Tatsache, dass diese Sprossen zu bestimmten Krankheitsfällen verfolgt werden können. Außerdem: eine Mitarbeiterin des Betriebs, in dem diese Sprossen gezogen worden sind, die ist an einem EHEC-Keim erkrankt. Also entweder hat sie sich selbst an den Sprossen infiziert, oder sie ist die Überträgerin gewesen. Allerdings, eine genetische Untersuchung steht noch aus, die Ergebnisse sollen heute Mittag, heute Nachmittag vielleicht bekannt gegeben werden, und das wäre dann erst der Beweis. Und so lange die Ergebnisse dieses Gentests noch nicht feststehen, sollte man diese Spur eben genau so genießen wie die Sprossen selbst: mit Vorsicht.
Bürger: Ist das denn ungewöhnlich, dass Sprossen von solchen Keimen befallen werden?
Reuning: Ach gar nicht so sehr, in Japan zum Beispiel hatte es einen Fall gegeben im Jahr 1996, einen EHEC-Ausbruch durch verseuchte Sprossen von Rettich, dabei sind 10.000 Menschen erkrankt. Und es kommt immer mal wieder vor, nicht so häufig wie Lebensmittelinfektionen bei Fleisch, aber bei Untersuchungen wird ab und zu entdeckt, dass diese Sprossen mit verschiedenen Keimen belastet sind. Das können Listerien sein, es können Salmonellen sein oder auch eben verschiedene toxinbildende Kolibakterien. Das liegt zum einen daran, dass die Samen – oder diese Bohnen manchmal ja auch – bei ungefähr 40 Grad Celsius keimen. Bei dieser Temperatur werden sie mit Wasser besprüht. Und das sind natürlich gute Bedingungen – feucht und warm – für das Wachstum von Bakterien. Außerdem hat es damit zu tun, dass die Sprossen an dem Samen, an der Bohne eventuell abgeschnitten werden, und dann entsteht durch die Schnittfläche ein Einfallstor für diese Keime. Dort tritt Zellsaft aus, der den Bakterien natürlich einen guten Nährboden bietet. Und die Sprossen werden verpackt in Kunststofftüten, und auch da herrscht ein vorteilhaftes Klima für die Keime, es ist relativ feucht, es ist wie ein kleines Treibhaus. Und daher passiert das ab und zu mal, aber meistens verlaufen diese Infektionen dann relativ glimpflich.
Bürger: Es gibt jetzt alle möglichen Analysen. Was verrät die Erbgutanalyse über die Herkunft des Keims?
Reuning: Geografisch erst einmal nicht so viel. Dazu müsste man jetzt das Genom mit anderen Bakterienerbgut-Datenbanken vergleichen. Aber man hat eine Auffälligkeit entdeckt: Dieser Keim ist resistent gegen ein bestimmtes Mineral, gegen Tellurit, das enthält Tellur. Und das kommt im Boden vor. Und vielleicht ist diese Mischform – denn das ist eine genetische Mischform aus verschiedenen Keimen – nicht in einem Kuhdarm entstanden oder auch nicht im Menschendarm, sondern sie ist vielleicht irgendwo im Erdboden entstanden. Andererseits muss man sagen, Tellurverbindungen wurden in der Vergangenheit bei bestimmten Krankheiten benutzt, zum Beispiel bei Lepra und Tuberkulose zu einer Zeit, als es noch keine Antibiotika gab. Und vielleicht spiegelt dieses Resistenzgen gegen Tellurit einfach nur die Vergangenheit des Keims wider. Also es könnte sein, dass es sich vor Jahrzehnten eigentlich schon diese Resistenz erworben hat, und nicht jetzt erst irgendwo in einem Erdboden.
Bürger: Danke für diese Information, Arndt Reuning aus unserer Wissenschaftsredaktion über die neusten Erkenntnisse der EHEC-Epidemie. Die Menschen sind besorgt, doch gibt es tatsächlich Anlass zu Panik? Man hört Begriffe wie Darmseuche und Todeskeime, die an dunkelste Zeiten erinnern, und darüber möchte ich jetzt mit Robert Jütte sprechen. Er leitet das Institut für Medizingeschichte der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart. Ich grüße Sie, Herr Jütte!
Robert Jütte: Ja guten Morgen, Frau Bürger!
Bürger: Ist die EHEC-Panik übertrieben?
Jütte: Absolut. Vor allen Dingen nicht nur kurzfristig gesehen – wir haben ja auch Lebensmittel-"Skandale" gehabt, die auch auf Erreger ja zurückgeführt worden sind in den letzten Jahren, die nach wenigen Monaten schon wieder in Vergessenheit geraten sind. Denken Sie an den Dioxinskandal mit Eiern, wir haben Gammelfleisch, wir haben Nitrofen also auch schon in Biogetreide gehabt 2002, alles Dinge, die heute aus unserem Kurzzeitgedächtnis mehr oder weniger schon verschwunden sind und langfristig sowieso.
Wenn wir es also mit den großen Seuchenkatastrophen der Neuzeit vergleichen, dann kommt einem das sehr bekannt vor, vor allen Dingen auch die Reaktionen seitens der Behörden, der Streit unter den Experten. All das, und selbst der Urheber angeblich, also der Salat, hat eine lange Vorgeschichte. Ich lese gerade eine Doktorarbeit über die Pest in Augsburg, wo ich also gefunden habe, dass Ärzte damals also auch schon vor den Früchten mit voller, böser Feuchtigkeit gewarnt haben. Also sprich zum Beispiel auch Gurken.
Bürger: Sie haben eben selbst gerade den Begriff Seuche benutzt. Ist die EHEC-Epidemie überhaupt eine Seuche, also vergleichbar mit Krankheiten wie Pest und Cholera, oder auch mit Pocken oder Ruhr?
Jütte: Also die Definition heute von Seuchen ist ganz anders, als wir sie in der frühen Neuzeit noch hatten, wo man ja im Wesentlichen von der Pest gesprochen hat, ohne dass man die Pest im heutigen Sinne, im bakteriologischen Sinne meint. Seuche ist einfach klar definiert: Wenn Sie über einen gewissen Zeitraum in einem bestimmten Gebiet also eine Häufung von Krankheitsfällen haben, ist das eine Epidemie, die lokal begrenzt sein kann. Längst nicht natürlich so, wie wir bei der Schweinegrippe befürchtet haben und auch zum Teil ja gehabt haben, eine Pandemie, die weltweit zu beobachten ist. Seuche ja, aber sozusagen, die wirklich in Proportionen gesehen werden muss.
Bürger: Genährt wird die Angst der Menschen durch Verschwörungstheorien wie zum Beispiel die eines Bioterroranschlags oder auch die Vermutung, der Erreger könne aus Biogasanlagen kommen. Sind die Leute mittlerweile offener als früher für solche Szenarien, oder gab es das schon immer in der Medizingeschichte?
Jütte: Also die Medizingeschichte hat sehr viele Beispiele gerade für diese Verschwörungstheorien zu bieten, also sowohl in jüngster Vergangenheit, denken Sie an den Choleraausbruch 2010 in Haiti, die Cholera ist ja nicht so weit entfernt verwandt mit dem jetzigen Erreger. Dort sind also im Bereich des Voodoo-Kultes dann Voodoo-Priesterinnen hingerichtet worden, weil man ihnen das in die Schuhe geschoben hat. Oder in den Choleraepidemien ganz am Anfang des 19. Jahrhunderts in Russland sind Ärzte totgeschlagen worden, weil man ihnen vorgeworfen hat, sie würden an der Krankheit verdienen und sie hätten den Erreger, den man damals ja noch nicht kannte, in Umlauf gesetzt.
Bürger: Nach dem Skandal um die Massentierhaltung stand jetzt dann erst mal also der Gemüseanbau auf dem Prüfstand. Nun sind es ja nicht die Gurken und auch die Tomaten. Ist es also keine Quittung für die globalisierte Gemüseproduktion, oder sollten wir doch hier auch anfangen, nachzudenken?
Jütte: Also man wird sicherlich nicht … Offensichtlich ist das immer noch ein Problem der Hygiene, und natürlich, Erreger kommen im Tierreich vor, sie sind im Menschen, das hat ja der Kollege aus der Wissenschaftsredaktion noch mal sehr genau gesagt, wie wir uns das vielleicht vorstellen müssen. Entscheidend ist – und da werden wir auch nichts dran ändern –, wenn wir Sicherheit erreichen wollen, müssen wir die klassischen Hygieneregeln, die wir seit dem Zeitalter der Bakteriologie, also seit über 130 Jahren haben, beherzigen, und dazu gehört eben auch insbesondere das Händewaschen und auch zu versuchen, bei den Behandlungen von Lebensmitteln äußerste Hygiene walten zu lassen. Und da ist man häufig nachlässig geworden und den Preis zahlen wir immer wieder. Und wir werden leider durch solche Katastrophen daran erinnert, dass also Hygiene ein langfristiger Prozess ist, den man nicht so leicht verinnerlichen kann.
Bürger: Und bei Sprossen ist das natürlich schwierig, wie will man Sprosse für Sprosse abwaschen?
Jütte: Wenn es wirklich so ist … Wir wissen das ja noch nicht, ich bin da auch immer noch erst skeptisch, bis nicht der absolute Nachweis gebracht worden ist, insofern ist ja der Erreger im Keim selbst drin. aber er muss ja irgendwie hineingekommen sein und vielleicht gibt es da auch eine Hygienekette, die unterbrochen worden ist, das wissen wir noch nicht. Also insofern … Ich meine, das Tragische ist ja wie immer, dass man glaubt, bei Bio ist man sicher, und in diesem Falle scheint es, wenn es sich bewahrheitet, ja auch wieder ein Biohof gewesen zu sein. Also absolute Sicherheit gibt es nicht und das ist vielleicht eine Lehre, die wir aus der Geschichte ziehen müssen. Also selbst bei allem Fortschritt, den wir im Bereich der Nahrungsmittel, Hygiene und auch der Chemie bekommen haben, also die Sicherheit werden wir nie erreichen.
Bürger: Wie halten Sie es selbst mit Ihrer Ernährung, haben Sie Ihren Speiseplan verändert?
Jütte: Nein, ich lebe ja in Süddeutschland und war auch am Samstag auf unserem Wochenmarkt, wo regionale Erzeuger anbieten, und selbstverständlich habe ich dort auch frisches Obst gekauft und auch Gemüse. Ich meine, was bedauerlich ist, man sieht – und das ist auch ein klassisches Phänomen, was man beobachten kann –, die Preise für Gurken und Tomaten und andere sinken ins Bodenlose, und das war 1892 in Hamburg bei der Choleraepidemie, die 8000 Opfer gefordert hat, auch der Fall, plötzlich konnten sich dann die armen Menschen, die sich früher kein Obst leisten konnten, Obst leisten, weil es billig geworden war. Was natürlich dann auch nicht zur Eindämmung der Seuche beigetragen hat.
Bürger: Wird das EHEC-Kapitel langfristig Auswirkung haben auf unsere Konsumgewohnheiten?
Jütte: Also ich glaube nicht. Wenn man sich mal sozusagen die Halbwertszeit von Lebensmittelskandalen im weitesten Sinne anschaut der letzten 20 Jahre, werden Sie feststellen, dass also die Aufmerksamkeit der Medien dann mit der Bevölkerung innerhalb von zwei Wochen im Schnitt ablässt. Und wenn wir uns den Dioxinskandal, der ja noch gar nicht so lange zurückliegt, anschauen, werden wir feststellen, dass zwar Politiker vieles versprochen haben, aber dass jetzt erst der Bundestag im Juni mal drüber nachdenkt, wie also ein Frühwarnsystem gerade in diesem Bereich durchgeführt werden kann. Also ob das dann wirklich was bringt, also ich bin sehr skeptisch, was solche langfristigen Auswirkungen anbetrifft.
Bürger: Der Medizinhistoriker Robert Jütte von der Robert-Bosch-Stiftung. Danke Ihnen fürs Gespräch!
Jütte: Gerne.