Den Tod im Leib
Krankheit ist nicht gleich Krankheit. Was wir nicht unter Kontrolle haben, müssen wir deuten, um damit leben zu können, daher verleihen wir jenen Krankheiten, welche die Medizin nicht erklären oder heilen kann, einen besonderen Nimbus. Vor dem Zeitalter der modernen Medizin galten Krankheiten als Fluch der Götter. Die moderne Gesellschaft glaubt nicht an Götter. Sie erfindet Metaphern für das, was sie sich nicht erklären kann.
"Krankheit als Metapher" nannte Susan Sontag ihren berühmten Essay. Sie schrieb ihn in den Siebzigerjahren, nachdem sie selbst eine Krebserkrankung überstanden hatte – entgegen allen Prognosen der Ärzte. In diesem Essay zieht sie einen Vergleich zwischen der Tuberkulose und dem Krebs. Die Tuberkulose war die unverstandene Krankheit des 19. Jahrhunderts. Die Krankheit der Dichter, die sich in ihren Leidenschaften verzehrten. Eine Krankheit auch, die ästhetisiert wurde mit ihrer durchgeistigten Blässe und dem nervösen Fiebern, das junge Mädchen in ungeheizten Dachstuben dahinschwinden ließ. Krankheiten jedoch produzieren nur so lange Metaphern, wie sie mysteriös sind. Mit der Entdeckung des Tuberkelbazillus verlor die Tuberkulose ihre Aura und wurde zu einer ganz normalen Krankheit.
Der Krebs ist die unverstandene Krankheit unserer Zeit, trotz aller medizinischen Fortschritte. Doch im Gegensatz zur Tuberkulose wurde der Krebs nie literaturfähig. Susan Sontag sagte vom Krebs, er sei eine Krankheit, "die mit Glanz zu umgeben niemandem gelungen ist". Der Krebs hat keine Romantik. Seine Metapher besteht in etwas ganz anderem: im Tabu. "Nach langer schwerer Krankheit" heißt es in der Todesanzeige, und man weiß Bescheid. Bis vor kurzem war es in manchen Krankenhäusern üblich, die Krebsdiagnose nur den Angehörigen mitzuteilen. Man wolle den Patienten nicht mit dem Wissen um seine unheilbare Krankheit belasten, so das scheinheilige Argument. Doch Herzpatienten haben oft ebenso schlechte Heilungschancen, und ihnen mutet man die Wahrheit ohne Zögern zu. Viele Krebskranke berichten gar, dass sie von Bekannten und Freunden gemieden werden. Dies geschieht nun garantiert nicht aus Rücksichtnahme auf den Kranken, sondern auf sich selbst.
Woher kommt dieses Tabu, ja die Peinlichkeit des Krebses? Schon die Organe, an denen der Krebs oft ansetzt, seien uns peinlich, meinte Susan Sontag – Dickdarm, Prostata, Speiseröhre oder Brust. In den Siebzigerjahren hatte überdies eine psychologische Deutung Konjunktur. Der Krebs galt als Folge unterdrückter Leidenschaften. Der wuchernde Tumor als Strafe für Verklemmtheit – damit wurde der Krebs zur Schande, zur Krankheit der Verlierer und der Gehemmten. Diese Deutung allerdings war ein Kind ihrer Zeit: Sie spiegelte die Auflehnung der 68er-Generation gegen das bürgerliche Gefühlskorsett.
Inzwischen hat sich das Bild aufgefächert: Angesichts der vielen Arten von Krebs, die man heute unterscheidet, spricht man kaum mehr vom Krebs als solchem. Und doch gibt es ihn noch in unserer Vorstellung als unheimliche Krankheit, die auch in jungen Jahren töten kann. Unsere Berührungsängste reagieren ganz unmittelbar auf diese Todesdrohung sowie auf das biologische Wesen der Krankheit. Beim Krebs gibt es keinen Erreger, den man bekämpfen kann, und man kann seine Gefährlichkeit auch nicht als Funktionsstörung entziffern, wie etwa bei einem versagenden Herzen. Beim Krebs produziert der Körper seine Krankheit selbst. Man kann den Kranken kaum von seiner Krankheit trennen – und doch bemerkt dieser den Krebs erst, wenn er schon tief in seinem Körper wohnt. Es ist das eigene Fleisch, das "bösartig" wuchert, wobei kaum jemandem auffällt, was für eine ungewöhnliche Metapher in der Wendung vom "bösartigen Tumor" steckt. Als könnten sich Zellen moralisch verhalten! Der Krebs symbolisiert das durch und durch Böse – deshalb übrigens ist die Metapher vom "Krebsgeschwür" in der Politik so gefährlich. Die Nazis sprachen bei jeder Gelegenheit von einem "Krebsgeschwür", das sich in die angeblich gesunde Gesellschaft "hineinfrisst" und "ausgemerzt" werden müsse.
Krebs ist nicht ansteckend. Und doch stellte Susan Sontag fest: "Jede Krankheit, die man als Geheimnis behandelt und heftig genug fürchtet, wird als im moralischen, wenn nicht wörtlichen Sinne ansteckend empfunden." Woher kann ich wissen, dass nicht auch in meinem Körper etwas Bösartiges wuchert? Wie ein Stigma wirkt der kahle Schädel nach der Chemotherapie; es braucht Mut, ihn zu zeigen. Der Besuch bei der krebskranken Freundin zwingt uns vermeintlich Gesunde, in den Spiegel der eigenen Sterblichkeit zu schauen. Wer Krebs hat, trägt den Tod im Leib. Aber das tun wir alle.
Sieglinde Geisel wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der Neuen Zürcher Zeitung reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die Neue Zürcher Zeitung tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. Im Sommer 2002 erschien in der Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung Zürich ihr Beitrag "McDonald's Village".
Der Krebs ist die unverstandene Krankheit unserer Zeit, trotz aller medizinischen Fortschritte. Doch im Gegensatz zur Tuberkulose wurde der Krebs nie literaturfähig. Susan Sontag sagte vom Krebs, er sei eine Krankheit, "die mit Glanz zu umgeben niemandem gelungen ist". Der Krebs hat keine Romantik. Seine Metapher besteht in etwas ganz anderem: im Tabu. "Nach langer schwerer Krankheit" heißt es in der Todesanzeige, und man weiß Bescheid. Bis vor kurzem war es in manchen Krankenhäusern üblich, die Krebsdiagnose nur den Angehörigen mitzuteilen. Man wolle den Patienten nicht mit dem Wissen um seine unheilbare Krankheit belasten, so das scheinheilige Argument. Doch Herzpatienten haben oft ebenso schlechte Heilungschancen, und ihnen mutet man die Wahrheit ohne Zögern zu. Viele Krebskranke berichten gar, dass sie von Bekannten und Freunden gemieden werden. Dies geschieht nun garantiert nicht aus Rücksichtnahme auf den Kranken, sondern auf sich selbst.
Woher kommt dieses Tabu, ja die Peinlichkeit des Krebses? Schon die Organe, an denen der Krebs oft ansetzt, seien uns peinlich, meinte Susan Sontag – Dickdarm, Prostata, Speiseröhre oder Brust. In den Siebzigerjahren hatte überdies eine psychologische Deutung Konjunktur. Der Krebs galt als Folge unterdrückter Leidenschaften. Der wuchernde Tumor als Strafe für Verklemmtheit – damit wurde der Krebs zur Schande, zur Krankheit der Verlierer und der Gehemmten. Diese Deutung allerdings war ein Kind ihrer Zeit: Sie spiegelte die Auflehnung der 68er-Generation gegen das bürgerliche Gefühlskorsett.
Inzwischen hat sich das Bild aufgefächert: Angesichts der vielen Arten von Krebs, die man heute unterscheidet, spricht man kaum mehr vom Krebs als solchem. Und doch gibt es ihn noch in unserer Vorstellung als unheimliche Krankheit, die auch in jungen Jahren töten kann. Unsere Berührungsängste reagieren ganz unmittelbar auf diese Todesdrohung sowie auf das biologische Wesen der Krankheit. Beim Krebs gibt es keinen Erreger, den man bekämpfen kann, und man kann seine Gefährlichkeit auch nicht als Funktionsstörung entziffern, wie etwa bei einem versagenden Herzen. Beim Krebs produziert der Körper seine Krankheit selbst. Man kann den Kranken kaum von seiner Krankheit trennen – und doch bemerkt dieser den Krebs erst, wenn er schon tief in seinem Körper wohnt. Es ist das eigene Fleisch, das "bösartig" wuchert, wobei kaum jemandem auffällt, was für eine ungewöhnliche Metapher in der Wendung vom "bösartigen Tumor" steckt. Als könnten sich Zellen moralisch verhalten! Der Krebs symbolisiert das durch und durch Böse – deshalb übrigens ist die Metapher vom "Krebsgeschwür" in der Politik so gefährlich. Die Nazis sprachen bei jeder Gelegenheit von einem "Krebsgeschwür", das sich in die angeblich gesunde Gesellschaft "hineinfrisst" und "ausgemerzt" werden müsse.
Krebs ist nicht ansteckend. Und doch stellte Susan Sontag fest: "Jede Krankheit, die man als Geheimnis behandelt und heftig genug fürchtet, wird als im moralischen, wenn nicht wörtlichen Sinne ansteckend empfunden." Woher kann ich wissen, dass nicht auch in meinem Körper etwas Bösartiges wuchert? Wie ein Stigma wirkt der kahle Schädel nach der Chemotherapie; es braucht Mut, ihn zu zeigen. Der Besuch bei der krebskranken Freundin zwingt uns vermeintlich Gesunde, in den Spiegel der eigenen Sterblichkeit zu schauen. Wer Krebs hat, trägt den Tod im Leib. Aber das tun wir alle.
Sieglinde Geisel wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der Neuen Zürcher Zeitung reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die Neue Zürcher Zeitung tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. Im Sommer 2002 erschien in der Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung Zürich ihr Beitrag "McDonald's Village".