Den Ton abgeben

Von Stefanie Müller-Frank |
Vielen Berufstätigen bleibt neben ihrem Job nicht mehr die Zeit fürs Singen. So haben sich in den letzten Jahren immer mehr Ensembles auf Zeit gegründet. Auch beim LeaderChor kommen die Mitglieder - allesamt Führungskräfte - nur für ein verlängertes Wochenende zusammen und proben ein anspruchsvolles Konzertprogramm, das am Ende der vier Tage in der Berliner Akademie der Künste aufgeführt wird.
Auf den ersten Blick unterscheidet sich die erste Probe des LeaderChors nicht von einer gewöhnlichen Chorprobe: drei ansteigende Reihen, nach Stimmen geordnet, vor sich die Notenständer. Nur, dass die Sängerinnen und Sänger Namensschilder an Blusen und Sakkos tragen, denn sie kennen sich gerade mal drei Stunden. Und natürlich: Dass die Probe an einem Feiertag stattfindet, an einem langen Wochenende dazu.

Denn im Berufsalltag der Teilnehmer ist fürs Singen, für regelmäßige Chorproben, schlicht kein Platz.

Mitten in Mendelssohns Lied über die Nachtigall bricht der Dirigent Simon Halsey plötzlich ab.

"Bei der ersten Probe sang jede Stimme so, wie sie meinte, die Nachtigall würde jetzt fliegen. (Er hat ein völlig anderes Tempo gehabt.) Er schlug ab – und dann sagte er: ja, so könnte man das machen. Aber schauen (Sie doch mal in den Takt sowieso und schauen Sie) sich die schnellen Noten an, wir wollen den Text darüber bringen. Und deswegen möchte ich folgendes Tempo singen. Und ganz zum Schluss fügte er einen Satz bei, den man sonst eher alleine hört: Übrigens, ich bin der Chef!"

Eine deutliche Ansage – aber eine, die Eberhard Wege, ebenso wie die anderen Teilnehmer des LeaderChors, in ihrem Job wohl kaum noch zu hören bekommen, denn dort sind sie die Chefs. Das Wochenende dürfte für sie also nicht nur eine Lektion im Singen sein, sondern auch eine im Abgeben, Unterordnen, sich führen lassen.

Ein Rollentausch, der jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen funktioniert, meint Kathrin Küttner-Lipinski, Geschäftsführerin eines Berliner Software-Unternehmens:

"Ich sage ganz klar: Ich muss von der Kompetenz desjenigen überzeugt sein. Wenn eine bestimmte Autorität da ist und ein bestimmte Kompetenz, dann tue ich das gerne. Ansonsten werde ich nicht dazu bereit sein."

Kompetenz und Autorität – beides besitzt der Chefdirigent des Rundfunkchors. Die 45-jährige Managerin könnte sich also zurücklehnen und ein Wochenende lang mal den Ton abgeben. Sie schüttelt energisch den Kopf, greift sich in die dunklen Locken.

"Es gibt immer bestimmte Passagen, die kann man gut singen, es gibt bestimmte Passagen, da ist man schwach auf der Brust. Wenn ich weiß, dass ich in bestimmten Dingen führen kann, dann tue ich das. Wenn ich weiß, dass das nicht der Fall ist, dann muss ich mir jemanden suchen, weil ich auch keine Alleskönnerin bin. Man muss teamorientiert sein. Sonst braucht man im Chor gar nicht zu singen."

Szenenwechsel: Montagabend, Generalprobe. Simon Halsey hat sein schwarzes Sakko über einen Stuhl gehängt, läuft vor dem Chor auf und ab, stellt sich auf die Zehenspitzen, wippt im Takt mit und spornt den Chor mit Zwischenrufen an:

Charisma und Begeisterung – für Walter Hofegger, Tenor und Zahnarzt aus Innsbruck, sind das die entscheidenden Führungsqualitäten des Dirigenten.
"Er tanzt durch die Probe. Er bewegt alle seine mimische Muskulatur: Die Stirn, die Augen, er hat einen sehr wachen, hellen, jugendlichen Blick. Er tanzt, wenn’s sein muss, ums Klavier, er macht Grimassen, er bewegt seine Hände, er springt, er schreit – es ist ein Erlebnis, ihm zuzuschauen."

Simon Halsey reagiert sofort, bricht ab, lässt die Stelle noch mal singen. Und noch mal. Wenn es sein muss, wiederholt er fünfmal oder auch siebzehn Mal.

Immer aber lobt der Dirigent das, was schon gelingt – erst danach kommt die Kritik. Genau das hat sie letztlich motiviert und zusammengehalten, darin sind sich die Teilnehmer des Leaderchors einig. Vielleicht sollte man das Chorwochenende zu einem Pflichtkurs für Führungskräfte machen.