Denis Osokin: "Goldammern"
Aus dem Russischen von Christiane Körner
ciconia ciconia, Berlin 2020
205 Seiten, 25 Euro
Wie ein Fluss, der die Sorgen fortträgt
05:48 Minuten
Die Erzählungen von Denis Osokin verbinden pagane Welt und deprimierende russische Gegenwart. Volkskulturen und Mythen fließen mit ein. Es entstehen atmosphärisch eigentümliche Landschafts- und Menschenschilderungen mit märchenhaften Zügen.
Bücher wie dieses bekommt man selten in die Hände. Umso beglückender, dass der kleine Berliner Verlag ciconia ciconia mit "Goldammern" den deutschen Lesern Texte des Autors Denis Osokins vorstellt, der bereits als Drehbuchschreiber von Spiel- und Dokumentarfilmen über die Grenzen seiner russischen Heimat hinaus bekannt ist.
Die Titelerzählung handelt von einer Reise zweier Männer mit einer toten Frau und einigen Vögeln: Der Direktor eines Papierkombinats bittet den Werkfotografen, gemeinsam mit ihm die Leiche seiner verstorbenen Gattin am Ufer eines Flusses in der Nähe von Nischni Nowgorod zu verbrennen.
Die Reise wird zwei Tage dauern, der Fotograf will seine Goldammern nicht allein zu Hause lassen. So wird das kleine Auto zum Käfig, in dem die Vögel munter herumflattern und der schönen Leiche auf der Rückbank ein Lied singen. Nach der Einäscherung fliegen sie in den Wald, die beiden Männer trösten sich mit zwei jungen Mädchen, die sie zufällig auflesen. Die Geschichte ist typisch für Osokins Erzählweise.
Melancholischer Humor
Geboren 1977 in Kasan, der Hauptstadt der halbautonomen Republik Tatarstan im Südwesten Russlands, hat er als Literaturwissenschaftler intensiv die Folklore ethnischer Minderheiten in der Wolgaregion studiert. Volkskultur, Mythen und Gebräuche finnougrischer und tatarischer Völker wie beispielsweise der Mari und Komi finden sich in Osokins Prosa und Lyrik wieder.
"Goldammern" verbindet, wie auch die anderen Erzählungen des Buches, pagane Welt und deprimierende russische Gegenwart miteinander. So entstehen atmosphärisch eigentümliche Landschafts- und Menschenschilderungen mit märchenhaften Zügen. Immer untermalt mit melancholischem Humor, einem Gefühl für das Absurde und die Farbigkeit des Lebens an sich.
Osokin durchbricht die postsowjetische Tristesse, in der seine Geschichten spielen, mit einer Poesie, in der Waldgeister Wahn und Erotik der Figuren befeuern, Flussgötter Geschenke machen und der Körper einer Frau, wie ein Fluss, der die Sorgen fortträgt, über den Tod hinwegtröstet.
Ein stetiger Erzählfluss
Osokin schreibt eine bewegte Prosa. Es wird viel gereist, es gibt keine Klein- oder Großschreibung, Kommata nur in Ausnahmefällen, stattdessen viele Bindestriche.
Was atemlos wirken könnte, entfaltet aber eine erstaunliche Ruhe: einen stetigen Erzählfluss, der eher dem Oralen als dem Schriftlichen entsprungen zu sein scheint. In der Erzählung "Wetluga" schildert ein Icherzähler, wie er von November bis Neujahr seinen Job kündigt, um sich dem Weihnachtsfasten, für ihn eine "art privater ramadam", zu widmen.
Buchstaben aus Schamlippen
Er läuft durch die Stadt, deckt sich ein mit Kranbeeren, Sauerkraut und grünem Tee. Sie sollen helfen, dem Wüten des "Schaitans" zu widerstehen, der sich zum Jahresende immer besonders wild gebärdet.
Aber die ganze Askese führt nur dazu, dass der Icherzähler gedanklich französischen und italienischen Weinen sowie erotischen Abenteuern mit der Bibliothekarin Natascha nachhängt. Was dazu führt, dass er sich Alkohol kauft, Natascha anruft und mit ihren "erstaunlich plastischen" Schamlippen einzelne Buchstaben und ganze Wörter formt.
Letztlich sind auch so die Wörter von Denis Osokin: Nah am Ursprung des Lebens, verführerisch, direkt und spielerisch machen sie Lust auf mehr.