Martin Schulz würdigt AWO-Gründerin
In dem kleinen Park am Rande des Mehringplatzes in Berlin haben sich rund 200 Menschen versammelt. Unter ihnen der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Sie feiern ein Denkmal, das für Marie Juchacz gesetzt wird. Juchacz gab einst Frauen im Parlament eine Stimme.
Eine Grünfläche direkt an einer Schnellstraße, die den Berliner Stadtteil Kreuzberg durchschneidet. Der Verkehr rauscht vorbei. Unüberhörbar. Auf dem Rasen - eine kleine Bühne.
Wilhelm Schmidt: "Am Gorki-Theater, wenn man sich da umsieht. Dann sieht man da Denkmäler für Herrn Fasch, Denkmäler für Herrn Mitscherlich, Denkmäler für Herrn Friedrich den Großen, Denkmäler für Herrn Heinrich Heine. Und als ich denn da so wartete, habe ich gesagt jetzt muss irgendwas für eine Frau irgendwann sein. Und das war die Geburtsstunde dieser Idee ein Denkmal für Marie Juchacz zu schaffen."
Wilhelm Schmidt, Präsident der Arbeiterwohlfahrt AWO. Nicht nur am Berliner Gorki-Theater stehen ausschließlich Denkmäler für große, berühmte Männer. Im Zentrum Berlins wurde bisher keiner Frau ein Denkmal gesetzt. Egal wo man sich hier umguckt: Von jedem Sockel schaut ein Herr auf einen herunter.
Marie Juchacz nicht. Sie schaut die Betrachter an, auf der Wiese neben der großen Straße am Landwehrkanal. Eine Frau, die in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist.
"Geboren als Marie Gohlke 1879 in der Familie eines Zimmermanns in Landsberg an der Warthe. Besuchte die Volksschule bis zu ihrem 14. Lebensjahr. Arbeitete als Dienstmädchen, danach in der Werkstatt des Schneidermeisters Bernhard Juchacz, den sie 1903 heiratete. Entwickelte ein starkes Interesse für Politik. Trennte sich 1906 von ihrem Ehemann und zog zusammen mit ihren beiden Kindern und ihrer Schwester von Landsberg nach Berlin. Wurde 1919 als SPD-Abgeordnete in die Nationalversammlung gewählt. Und hielt dort als erste Frau eine Rede im nationalen Parlament."
SPD war damals eine Männerpartei
Martin Schulz liest die Rede von Juchacz: "Meine Damen und Herren, es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf."
Martin Schulz, der Kanzlerkandidat der SPD anno 2017, zitiert den Auftakt ihrer Rede – allerdings nicht ganz richtig: Meine Herren und Damen: So fing ihre Rede an.
Martin Schulz: "Ich möchte hier feststellen, dass wir, die deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Nein, Nein. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist."
Martin Schulz alias Marie Juchacz.
Martin Schulz: "Was für ein wunderbares Zitat für das wir dieser Frau auch heute noch danken müssen."
Auch die SPD war damals eine Männerpartei. Aber - als erste und einzige Partei sprach sie sich im deutschen Kaiserreich in ihrem Erfurter Parteiprogramm von 1891 für das Frauenwahlrecht aus, unterstützte die Frauenbewegung öffentlich und bot Aktivistinnen eine politische Heimat. Auch für Marie Juchacz. Ihre Urgroßnichte Lydia Struck, Kulturanthropologin, ist zur Enthüllung des Denkmals angereist.
Lydia Struck: "Ich habe das erst sehr spät erfahren, dass sie meine Urgroßtante ist durch unsere Familienverhältnisse, die so ein bisschen komplizierter waren. Aber inzwischen beeinflusst sie mein Leben sehr stark weil ich habe ein Buch über sie geschrieben mit der Arbeiterwohlfahrt zusammen und dadurch bin ich ihr sehr nahe gekommen auf der wissenschaftlichen Ebene kann man sagen. Sie hat sich eben im Frauenwahlrecht eingesetzt, war aber auch Feministin, hat die Arbeiterwohlfahrt gegründet, hat so viele Sachen bewegt, hatte so viele Kontakte. Also Netzwerke, die zu wichtigen und einflussreichen Persönlichkeiten führen."
Ein eloquente und willensstarke Frau
Marie Juchazc wusste, wie sie ihre Worte richtig einsetzen muss. Eloquent und willensstark hat die Frauenrechtlerin so manchen Macho-Politiker im Reichstag in seine Schranken gewiesen.
Marie Juchacz Rede 1928: "Meine Herren und Damen!"
So sprach sie die Parlamentarier an und erinnerte die Herren an eine Selbstverständlichkeit, die damals noch keine war. 1928.
Marie Juchacz Rede 1928: "Wenn ich als Frau zu Ihnen spreche, so hoffe ich doch, dass recht viele Männer auf meine Worte achten werden. Die Frau ist vollberechtigte Staatsbürgerin. Überlegen Sie, was das heißt. Es gibt viel mehr Frauen im wahlfähigen Alter als Männer. Durch die Abgabe seiner Stimme am Wahltage kann jeder Staatsbürger politisch mitwirken. Die Tatsache des Frauenwahlrechtes sollte jeden Freund der Sozialdemokratie zwingen um die Frauenstimmen zu werben."
Eine selbstbewusste Frau, die ohne Scheu ans Rednerpult trat. Aber sie blieb verhältnismäßig unbekannt – weil es nicht darum ging, die eigene Person in den Vordergrund zu stellen, sondern politische Anliegen voranzutreiben. So beschreibt sie ihre Urgroßnichte Lydia Struck:
"Also sie hatte auf eine Art etwas Zurückhaltendes was man so in der Politik ihr gar nicht so angemerkt hat. Aber sie hat sich nicht in den Vordergrund gedrängt, hat aber versucht mit dem was sie gesagt hat auch wirklich dann etwas zu bewirken und ihre Ideen umzusetzen. Sie hat sich eigentlich hinter ihre Ideen gestellt. Also als Persönlichkeit ist sie in den Hintergrund getreten. Aber ihre Ideen haben sie durch ihr ganzes Leben begleitet. Bis zu ihrem Lebensende hat sie sich für eine Menschlichkeit eingesetzt, die einfach ihr sehr, sehr am Herzen lag."
Martin Schulz zieht das rote Tuch ab
In die Mitte der rostbraunen Stahlplatte hat der Grafiker Gerd Winner das Profil von Marie Juchacz gefräst. Es wird von zwei Dreiecken gestützt. In den stützenden Flanken sind ihre fünf Grundwerte festgehalten: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Solidarität. Für Gerd Winner "Hoffnungsträger der Demokratie":
"Das sind Dinge, die uns beschäftigen. Aber sie gewissermaßen in eine Skulptur zu formen, die vom Boden aufsteigt zum Zenit, wieder dann herunter kommt auf den Boden und sich mit dem Boden wieder verbindet. Das ist ein Urphänomen des Menschseins und in dieser Situation ist das Werk von Marie Juchacz, das ja über ihren Tod hinaus lebendig ist, auch zu einem Symbol geworden für unsere Gegenwart."
Noch ist das eingefräste Porträt von Marie Juchacz unter einem roten Tuch verhüllt – bis Martin Schulz es zusammen mit einigen Ehrengästen herunterzieht – unter den Kameraaugen von zig Handys. Das Portrait erstrahlt durch die dahinterstehenden Bäume in einem leuchtenden, hoffnungsvollen Grün. Die Gäste drängen sich vor das Gesicht der Geehrten, wieder klicken die Smartphone-Kameras.
Ob Marie Juchacz wirklich ein Symbol der Frauenbewegung in Deutschland ist? Wer kannte sie außerhalb der AWO und des sozialdemokratischen Dunstkreises? Das Denkmal setzt ein Zeichen. Dass wir Frauen als Gestalterinnen und Politikerinnen anerkennen. Nicht zuletzt, um weibliche Vorbilder zu schaffen.