Denkpause

"Wir müssen uns kollektive Auszeiten zurückerobern"

Ein Mann liegt in einer Hängematte und genießt das warme Wetter.
Ein Mann liegt in einer Hängematte und genießt das warme Wetter. © picture-alliance / dpa / Lukas Schulze
Hartmut Rosa im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Einfach mal abschalten, nicht denken, nicht erreichbar sein - das ist in einer beschleunigten Gesellschaft individuell nicht leicht herzustellen. Insofern plädiert der Soziologe Hartmut Rosa für kollektive Auszeiten. Diese seien für unsere Kultur "überlebensnotwendig".
Ein Denkpause einlegen - das tut gut, ist aber gar nicht so einfach zu bewerkstelligen. Denn das Denken lässt sich eigentlich nicht abstellen. Aber man könne ihm etwas von seiner Dringlichkeit nehmen "und auch von dem Handlungsimpuls, der in der Regel damit einhergeht", meint der Soziologe Hartmut Rosa.
Der Soziologe Prof. Dr. Hartmut Rosa beim Vortrag Gutes Leben. Kluges Leben. Was kann die Politik fuer unser Zusammenleben tun? auf dem Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart.
Der Soziologe Prof. Dr. Hartmut Rosa bei einem Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart.© imago / Wuechner/Eibner-Pressefoto
Damit, individuell beispielsweise einen E-Mail- oder Handy-freien Tag einzuführen, sei es aber nicht getan, meint Rosa. "Selbst wenn man dann nicht ins E-Mail-Konto geht, hat man immer dieses Gefühl, aber da könnte jetzt was sein, und vielleicht ist es dringend oder sogar das Wissen, da ist was gekommen, und ich müsste es eigentlich bearbeiten."

Sonntags geht man anders durch die Welt

Deshalb funktionierten solche Denkpausen am besten kollektiv. "Wir sehen es ein bisschen am Sonntag", sagt Rosa. "Wir wissen einfach, am Sonntag sind die Geschäfte zu, und in vielen Zusammenhängen kann man da nicht arbeiten." Dadurch gehe man anders durch die Welt. "Wer am Sonntag durch eine Stadt geht, tut das ganz anders, als wenn wir das jetzt am Montag tun, selbst wenn er am Montag entscheidet, dass er oder sie nichts kaufen wollen." Sich solche kollektiven Auszeiten wieder zu erobern, sei "für unsere Kultur überlebensnotwendig", betont der Soziologe.

Hören Sie zum Thema "Pause" auch unser Gespräch mit dem Psychologen Johannes Wendsche über die Wichtigkeit von Pausen bei der Arbeit. Außerdem am 29.12. in unserer Frühsendung "Studio 9": Uwe Friedrich über die Pause in der Musik.

(uko)

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Die Pause interessiert uns dieser Tage, da viele Menschen ja Pause machen, die ja auch wichtig ist, verdammt wichtig für uns. Gestern haben wir von der Notwendigkeit der Pausen während unserer Arbeitszeit gehört von dem Psychologen Johannes Wendsche, der empfahl, in der Pause genau das Gegenteil dessen zu tun, was unsere Arbeit ist.
Heute soll es um die Denkpause gehen. Haben wir eigentlich genug davon oder besser: Zeit dafür, während wir quasi pausenlos immer schneller laufen sollen durch unser Leben? Das will ich jetzt hören von dem Jenenser Soziologen Hartmut Rosa, er ist ja 2016 durch seine Studie "Resonanz" bekannt geworden, in der er die Schattenseiten unseres sehr beschleunigten Lebens kritisierte und für eine neue Weltbeziehung warb. Professor Rosa, ich grüße Sie!
Hartmut Rosa: Hallo, ich grüße Sie!

Dem Denken die Dringlichkeit nehmen

Billerbeck: Denkpause, das Wort, das klingt eigentlich erst mal paradox. Kann man das Denken eigentlich einstellen?
Rosa: Nein, das gelingt einem in aller Regel nicht oder es gelingt einem gar nicht. Es gibt verschiedene Meditationstechniken, die genau das versuchen. Es ist nicht ganz klar, wie weit einem das gelingt, aber in aller Regel sind Menschen so beschaffen, ist unser Bewusstsein so beschaffen, dass wir Gedanken an Gedanken hängen und das Denken eigentlich nicht ausschalten können. Wir können ihm nur ein bisschen von seiner Dringlichkeit nehmen und auch von dem Handlungsimpuls, der in der Regel damit einhergeht.
Billerbeck: Das heißt, die Denkpause kann die Pause zwischen zwei Gedanken sein oder die Pause zum Nachdenken?
Rosa: Genau. Das Wort Denkpause ist ja eigentlich fast sowas wie ein Januswort, weil da mal mit gemeint ist damit, zum Beispiel bei den Jamaika-Sondierungen war davon die Rede, die Parteien nehmen sich eine Denkpause. Da war natürlich nicht gemeint, sie hören auf zu denken, sondern sie nehmen sich eine Pause für das Denken, aber in anderen Verwendungen ist wirklich gedacht, lass mich mal eine Pause machen vom fieberhaften Nachdenken, wenn man sich in irgendwelchen Gedankenspiralen verfängt und immer wieder den gleichen Weg geht. Das passiert einem oft auch nachts, wenn man nicht schlafen kann. Dann macht es auch Sinn zu sagen, über diese Sache denke ich jetzt mal nicht nach oder denke ich einen Tag lang nicht nach. Da machen wir uns eine Pause von dem Denken.

Quälende Gedanken einfach mal parken

Billerbeck: Was machen Sie denn, wenn Sie mal gerade nicht in der Schleife weiterdenken wollen, in der Sie gerade sind? Gehen Sie dann in den Wald oder lesen Sie Kochbücher?
Rosa: Nein, also mit dem Kochen habe ich es nicht so, aber mit dem Wald tatsächlich. Ich wohne im Schwarzwald, im Hochschwarzwald und liebe es tatsächlich, dann da in den Wald zu gehen und da auch spazieren zu gehen. Das ist aber dann tatsächlich eher eine Phase, wo ich dann auch mal versuche, ein bisschen tiefer nachzudenken oder ein bisschen mit mehr Atem nachzudenken, also aus den atemlosen Zeiten zu kommen.
Aber was tatsächlich hilft, wenn einen ein Gedanke quält, zum Beispiel nachts, wenn man nicht schlafen kann, ist tatsächlich ganz gut zu sagen, so, diesen Gedanken lege ich da jetzt in die Zimmerecke und hole ihn dann morgen früh oder von mir aus am nächsten Tag oder in zwei Tagen da wieder ab, und dann denke ich über das Problem weiter. Das kann manchmal wirklich helfen, da eine Sache noch mal neu zu sehen.
Billerbeck: Klappt das bei Ihnen?
Rosa: Also nachts klappt es ganz gut. Das habe ich mir tatsächlich angewöhnt zu sagen, okay, es gibt eine ganze Reihe von Sachen, die mich beschäftigen, wo ich auch noch keine Lösungen habe. Dann überlege ich mir, was sind denn gerade meine schlimmsten Probleme, und da gibt es irgendwelche beruflichen und einen Artikel, den ich nicht geschrieben habe oder ein Gutachten, das noch fällig ist, und dann lege ich jede von diesen problematischen Sachen in eine Ecke, und das klappt tatsächlich ganz gut.

Überlebenstechniken einer beschleunigten Gesellschaft

Billerbeck: Das heißt, Denkpausen, diese und auch jene, die Sie vorher beschrieben haben, für die Sie einen längeren Atem brauchen, die sind auch so eine Art notwendiger gedanklicher Stopp.
Rosa: Ich glaube schon, dass wir so etwas brauchen, weil wir in aller Regel tatsächlich wie in einem Hamsterrad uns bewegen und eigentlich für die meisten Aktivitäten, mit denen wir gerade befasst sind, sowieso schon zu wenig Zeit haben, sodass man immer das Gefühl hat, eigentlich müsste ich schon fertig sein, eigentlich müsste ich schon beim nächsten sein, und das schafft insgesamt Probleme.
Das ist jetzt, was man oft als Stress bezeichnet, aber es ist eben oft auch der Lösung von Problemen nicht zuträglich, wenn man immer mit diesem Dauerimpuls des Andrängenden zu tun hat. Ich glaube, was wir brauchen als Menschen überhaupt, sind einfach Räume, in denen wir uns von diesem Impuls freisetzen können für eine gewisse Zeit, dass wir ganz dringend ganz schnell Dinge tun müssen. Sowas brauchen wir, glaube ich, als Überlebenstechnik in dieser beschleunigten Gesellschaft.

Zeit zwischen den Jahren hilft

Billerbeck: Wie lange dauert das bei Ihnen? Ich habe da so meine Erfahrung: Bei mir dauert es zehn Tage, und dann merke ich, wenn ich so raus bin aus diesem Hamsterrad, dann fängt mein Kopf wieder in einer Art freiem Spiel an zu denken und Ideen zu produzieren.
Rosa: Ja, tatsächlich, sowas dauert tatsächlich ein bisschen länger. Das ist, glaube ich, nicht nur eine Sache des Kopfes, es ist sogar eine Sache des Körpers. Wir nennen das in der Soziologie Habitus. Es ist ein verkörpertes Prinzip zu denken. Also kaum hat man mal eine Minute frei, fällt einem ein, das muss ich noch tun oder jenes oder man greift automatisch nach dem Handy und so, und mal wirklich in einen anderen Modus der Weltbeziehung zu kommen, was ja auch mein Thema als Soziologe ist, denn dafür braucht man in der Tat ein paar Tage.
Die Zeit zwischen den Jahren hilft einem da manchmal wirklich sehr gut, weil alles, was im alten Jahr dringend zu tun war, schon getan ist und alles, was im neuen Jahr zu tun ist, noch nicht angefangen hat, sodass wir, selbst wenn wir viele Termine auch in den Feiertagen haben, das irgendwie in einem anderen Modus machen.
Billerbeck: Wird der Begriff Denkpause manchmal auch, ich will nicht sagen: missbraucht, aber vielleicht überstrapaziert, einfach um Aufmerksamkeit zu erlangen für neue Texte, für Reden, für irgendeinen neuen Kurs?

Denkpause für 9,95 Euro?

Rosa: Das ist ja leider bei fast allem so, mit dem wir es in der Gesellschaft zu tun haben. Es lässt sich alles kommodifizieren, wie wir das in den Sozialwissenschaften nennen, also zu einer Ware machen, die man dann verkauft, indem man irgendwie neue Strategien, neue Möglichkeiten anpreist, selbst wenn es häufiger keine neuen Strategien sind oder wenn es Dinge sind, die sich nicht kaufen lassen.
Also, gerade so etwas wie Denkpausen oder das, was ich mit dem Begriff der Resonanz zu beschreiben versuche, das lässt sich eben nicht durch irgendeinen Kurs oder ein Buch oder eine Hörkassette also so einfach verdinglichen und erreichen und erzielen. Aber natürlich gibt es mit allen diesen Begriffen immer die Möglichkeit, die einfach zu einer Verkaufsstrategie umzumünzen, und wir fallen dann auch oft darauf herein, weil dann eben da steht, für 9,95 Euro oder so lässt sich eine Denkpause erzielen, und das klingt dann gar verlockend in der schwierigen Lage, in der wir uns oft befinden.
Billerbeck: Sie haben ja sogar vorgeschlagen, einen E-Mail-freien Tag einzuführen. Mich erinnerte das sofort an die autofreien Sonntage, die ja auch jemand mal für unmöglich hielt. Wäre so ein E-Mail-freier Tag oder ein mobilfunkfreier Tag ganz gut, um eine Denkpause einzulegen, um wieder zum Nachdenken zu kommen?
Rosa: Da wäre ich tatsächlich ein großer Anhänger davon. Ich meine, sowas ist nicht leicht umzusetzen, das haben wir auch beim autofreien Sonntag damals gesehen. Es waren dann eher ökonomische Zwänge, die uns dazu gebracht haben, das mal auszuprobieren. Ich glaube, wir täuschen uns, wenn wir denken, dass wir das immer alles individuell entscheiden können, weil normalerweise kriegt man auf so einen Vorschlag die Antwort, kann doch jeder für sich entscheiden, wenn er mal einen Tag das Handy weglassen will.

Kollektive Denkpausen funktionieren am besten

Aber diese Entscheidung kommt mit sehr hohen Kosten sozusagen, dass man dann erstens wirklich was verpasst oder aber am nächsten Tag, wenn es zum Beispiel um E-Mails geht, dann einfach doppelt so viel abarbeiten muss. Und selbst wenn man dann nicht ins E-Mail-Konto geht, hat man immer dieses Gefühl, aber da könnte jetzt was sein, und vielleicht ist es dringend oder sogar das Wissen, da ist was gekommen, und ich müsste es eigentlich bearbeiten. Deshalb schafft man sich diese Freiräume, die man mit Denkpause ja vielleicht auch meint, wirklich am besten kollektiv. Wir sehen es ein bisschen am Sonntag.
Wir wissen einfach, am Sonntag sind die Geschäfte zu, und in vielen Zusammenhängen kann man da nicht arbeiten. Das führt einfach dazu, dass wir auf eine andere Weise in der Welt stehen und auch durch die Welt gehen. Wer am Sonntag durch eine Stadt geht, tut das ganz anders als wenn wir das jetzt am Montag tun, selbst wenn er am Montag entscheidet, dass er oder sie nichts kaufen wollen, und deshalb so kollektive Freiräume zu schaffen ist eine sehr gute Idee, und ich glaube tatsächlich, dass das für unsere Kultur überlebensnotwendig sein wird, dass wir solche kollektiven Auszeiten uns wieder erringen und wieder durchsetzen.
Billerbeck: Der Jenenser Soziologe Hartmut Rosa. Wir sprachen über die Denkpause. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen immer wieder solche Denkpausen und Zeit dafür!
Rosa: Vielen Dank, ebenso!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.