Denkspiel für fortgeschrittene Leser

30.10.2013
Ein Mann gelangt per Schiff in ein spanischsprachiges Land. Bei ihm ist ein kleiner Junge, der seine Mutter verloren hat. Was mit den beiden passiert ist, erfährt der Leser in diesem skurrilen Roman voller literarischer Anspielungen nicht. Denn Coetzee erlaubt sich das Vergnügen, die Welt in seiner Prosa neu zusammenzusetzen.
Welches Land? Welche Mutter? Welcher Jesus? Der neue Roman von J.M. Coetzee definiert die Fragwürdigkeit des Lebens neu. Alles wird hier ungewiss. Ein älterer Mann kommt nach einer Schiffsreise an – aber wo? Handelt es sich um ein lateinamerikanisches Land? Jedenfalls wird in Novilla Spanisch gesprochen.

In einem dezent kafkaesken Setting hat Simón zunächst Grundbedürfnisse für sich und den kleinen David, dessen Vater oder Großvater er nicht ist, gegen vielfältige Widerstände zu sichern. Schließlich bekommt er eine bescheidene Wohnung zugewiesen. Er findet eine schlecht bezahlte Arbeit im Hafen als Schauermann und muss schwere Getreidesäcke über schmale Planken von den Schiffen herunterschleppen. Kräne sind keine gute Idee in Novilla.

Unterdessen kann er seiner eigentlichen Mission nachgehen: Davids Mutter zu finden. Womöglich hat der Junge sie auf der Überfahrt verloren. Oder hat er, wie es sich für einen Jesus gehört, nie eine leibliche Mutter besessen? Jedenfalls gestaltet sich Simóns Suche skurril: Wenn sie auf die richtige Frau treffen, werden sie es schon merken, so die Devise.

Die Frau, bei der Simons Gespür anschlägt, ist eine vergnügungslustige Tennisspielerin, die zunächst reichlich konsterniert auf seinen bizarren Vorschlag reagiert ("Jeder von uns hat nur eine Mutter. Wollen Sie ihm diese einzige Mutter sein?"), dann die ihr angetragene Rolle als "wahre Mutter" Davids aber mit überschießendem Ehrgeiz ausfüllt.

Die Menschen sind alle sehr wissbegierig
Die trockene Komik Coetzees kommt insbesondere bei der Schilderung der Freizeitvergnügungen von Novilla zur Geltung. Die Menschen, allesamt maßvoll und besonnen, besuchen in dieser Fürsorgegesellschaft mit leicht sozialistischen Anklängen am liebsten das "Institut", eine Art Volkshochschule. Selbst die Hafenarbeiter nehmen an Kursen teil, in denen platonisch philosophiert und die "Stuhlheit" des Stuhls ergründet wird. Simon dagegen steht der Sinn nach sinnlicheren Genüssen. Aber ob er sich in Aktzeichen-Kurse einschreiben oder ein Bordell besuchen möchte, er kommt nicht zum Zug (im "Salon Confort" sind lange Anmeldefristen einzuhalten).

Eine von seinen sexuellen Bedürfnissen befremdete Frau erklärt ihm, das Selbige ungute Überbleibsel der alten (untergegangenen?) Welt seien. Novilla, technisch rückständig, ist die schöne neue vegetarische Welt des umfassenden Wohlwollens. Dem trotzköpfigen Simón erscheint das nur als Watte-Version für heftigere Leidenschaften, die er als einziger zu vermissen scheint. Hat bei ihm die Reinwaschung nicht richtig funktioniert?

Und was hat es mit Jesus auf sich? Ist der Titel bloß ein Lockvogel für das bedeutungsbildende, Beziehungen und Anspielungen suchende Vermögen im gebildeten Leser? Wenn man nur lange genug nachdenkt, fallen einem genug Parallelen und legendenhafte Schlüsselmomente ein. Will David nicht ein totes Pferd wieder zum Leben erwecken? Verabscheut er nicht jede Gewalt? Gibt er nicht als Berufswünsche "Rettungsschwimmer" und "Entfesselungskünstler" an? Stellt er nicht alles und jedes in Frage, so dass Simón ununterbrochen um Antworten ringen muss? Er ist ein kluges, begabtes, oft allerdings auch ungeheuer nervtötendes Kerlchen und kann sich nicht einfügen in die Norm des Schulbetriebs. Die Lehrer (Pharisäer?) wollen ihn in eine Sonderschule abschieben.

Allerdings taucht der Name Jesus im Roman kein einziges Mal auf, da spielt Don Quijote eine offensichtlichere Rolle. Nein, die Jesus-Lesart wäre schon zu sehr Antwort bei einem Roman, dessen Reiz darin besteht, dass er lauter Fragen stellt. Coetzee erlaubt sich das Vergnügen, die Welt in schlichter, entschlackter Prosa neu zusammenzusetzen. "Die Kindheit Jesu" changiert reizvoll zwischen Denkspiel und Dystopie. Inés, Simón und David bilden die merkwürdigste heilige Familie, von der sich lesen lässt.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Coetzee, John Maxwell: Die Kindheit Jesu
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
S. Fischer, Frankfurt / Main 2013
352 Seiten, 21,99 Euro