Nur ein Alibi-Gedenktag?
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Im Westen löst der DDR-Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ein massives Echo aus. Rasch wurde der Tag zum nationalen Gedenktag erklärt. Gelang der westdeutsche Versuch, ostdeutsche Geschichte politisch zu instrumentalisieren?
"Unter dem Beifall der Bevölkerung in Ost und West sind nun zwei Jugendliche auf das Brandenburger Tor hinaufgestiegen."
Am 17. Juni 1953 richteten sich alle Blicke auf die Ereignisse am Brandenburger Tor, die ein junger Reporter vom RIAS, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor Westberlins so schilderte:
"Sie arbeiten nun an den Fahnenschnüren. Nun geht die rote Fahne runter. Die Demonstranten klatschen, sie schwenken ihre Hüte. Sie rufen: wir grüßen das freie Berlin."
Die massiven Proteste für einen Politikwechsel, für freie Wahlen und auch für die Vereinigung beider deutscher Teilstaaten waren politisch hochbrisant und vor allem ein PR-Desaster für den jungen SED-Staat. Denn dass Deutschland geteilt bleiben würde, war damals noch keineswegs ausgemacht, so der DDR-Historiker Christoph Kleßmann:
"Man kann unmittelbar nach dem Aufstand schon sagen, dass das Echo in Westdeutschland erheblich war. Es war spontan, es war ehrlich. Und es gehörte in den Kontext der Zeit, wo man die DDR als 'Zone' betitelte und ablehnte. Und insofern eben auch ein spontanes Aufwallen von Sympathie für diesen Aufstand und von Hass und Ablehnung gegenüber nicht nur den sowjetischen Panzern, sondern auch gegenüber den politischen Figuren in der DDR."
Patriotische Aufwallung im Westen
Die Geschehnisse in der DDR, die die Stasi als "faschistischen Putschversuch" deklarierte, sorgten im Westen für eine patriotisch-nationale Aufwallung. Fackelzüge, Gedenkstunden und Volksmärsche wurden organisiert, ein eigens gegründetes "Kuratorium Unteilbares Deutschland" pflegte fortan das Gedenken an den 17. Juni und erinnerte an die angestrebte Wiedervereinigung. Welches politische Potenzial in dem Aufstand auch für den Bonner Bundestagswahlkampf im September 1953 steckte, zeigt die Rede von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Westberlin wenige Tage nach dem Aufstand...
"...da wir dieser, unserer Toten gedenken. Der Toten, die ihr Blut dahingaben für die Freiheit. Deren Blut von brutalen und grausamen Machthabern vergossen wurde, um ihre tyrannische Herrschaft aufrechtzuerhalten."
Für Adenauer waren die Opfer des 17. Juni, der offene Protest gegen das SED-Politbüro nicht nur eine willkommene Legitimation des Rheinischen Kapitalismus, sondern auch ein Faustpfand für seine Strategie der kompromisslosen Westintegration und der deutschen Vereinigung unter westlichen Vorzeichen. Getreu seinem Motto "Einheit in Freiheit".
"Die SPD hat darauf sehr allergisch reagiert", betont der Historiker Christoph Kleßmann.
"Weil sie gesagt haben, die Arbeiterbewegung ist eigentlich diejenige, die für die nationale Einheit kämpft, und dieser Aufstand in der DDR ist ein Arbeiteraufstand gewesen. Und das hat wenig mit Westintegration zu tun, sondern ist auch ein Aufstand für eine soziale Veränderung in der Bundesrepublik."
Von der "Einheit in Freiheit" zur "Einheit in Freizeit"
Die Bonner Bundestagsdebatte kurz nach dem 17. Juni geriet zu einer tumultösen Redeschlacht zwischen Konrad Adenauer und dem aufstrebenden SPD-Abgeordneten Willy Brandt, der sagte:
"In der machtvollen Manifestation in Ostberlin und in der sowjetischen Zone drückt sich nicht aus der Schrei nach dem Anschluss an Bonn, sondern drückt sich auch aus der Anspruch auf die echte Mitgestaltung dieser arbeitenden Menschen bei der Schaffung einer gesamtdeutschen Ordnung!"
Der 17. Juni wurde kaum drei Wochen später von allen Bundestagsfraktionen außer der der KPD zum gesetzlichen Feiertag, zum "Tag der Deutschen Einheit" erklärt. Das politische Potenzial des Gedenkens an den DDR-Aufstand für eine Wiedervereinigung unter westlicher Ägide wurde dann spätestens mit dem Mauerbau 1961 hinfällig. Der Spiegel formulierte Adenauers Motto "Einheit in Freiheit" hämisch in "Einheit in Freizeit" um und monierte, der stille Gedenktag verkomme mehr und mehr zu einem Volksbelustigungstag für Westdeutsche. Der "Tag der Deutschen Einheit" wurde immer mehr zu einem rein politischen Symbol der Westbindung Bonns.
"Die Aushöhlung des Gedenktages, die kann man sehr deutlich feststellen", sagt Christoph Kleßmann. "Auch die Form, in der das passierte. Das war ja ein nationaler – oder ‚national’ in Anführungsstrichen – Feiertag in der alten Bundesrepublik. Da hatte aber nichts stattgefunden. Während man in der DDR, wo es stattgefunden hatte, arbeiten musste. Allein dieser Widerspruch machte schon mal deutlich, dass das eben doch ein problematischer Feiertag war."
Politisch überlebte sich der Gedenktag bald
Dass sich der 17. Juni nicht nur als öffentlicher Gedenktag, sondern auch politisch überlebt hatte, zeigt dann spätestens 1967 die vorerst letzte offizielle Gedenkstunde im Bundestag mit Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger:
"Ein wiedervereinigtes Deutschland hat eine kritische Größenordnung. Es ist zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen. Und zu klein, und die Kräfte um sich herum im Gleichgewicht zu halten."
Statt des staatstragenden Gedenkens an den 17. Juni wurde im Westen fortan ein jährlicher Bericht über die "Lage der Nation im geteilten Deutschland" vorgestellt. Die "Neue Ostpolitik" bahnte sich an, die Gräben überwinden und nicht vertiefen sollte. Da die Aussicht auf eine Wiedervereinigung immer geringer erschien, verlor auch der 17. Juni als Tag der deutschen Einheit zunehmend an Bedeutung. Mit der Wiedervereinigung löste der 3. Oktober den 17. Juni als Tag der Deutschen Einheit ab.
Aber hat die Erinnerung an den DDR-Arbeiteraufstand damit endgültig seine Bedeutung verloren? Während der Gedenkstunde im Jahr 2010 sagte die SPD-Politikerin Gesine Schwan angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise, dass Normerhöhungen nicht nur zum Aufstand in der DDR geführt hätten, sondern auch zum Alltag im Kapitalismus gehörten. Der "autoritäre Weg", so Schwan, die Krise durch weniger Demokratie beiseite zu drücken, sei falsch. Das habe schon der Aufstand von 1953 gelehrt.
Die politische Inszenierung des Gedenkens an den 17. Juni als Symbol für Wiedervereinigung und Westbindung hat sich erledigt. Heute gilt der Tag des größten Aufstands der DDR-Geschichte eher als historische Referenz für den Kampf um demokratische Mitbestimmung und gegen die politische Spaltung der Gesellschaft.