"Der alte Film ist tot"

Von Marli Feldvoß |
Sie wollten auf die Misere des deutschen Films antworten: 26 junge Filmschaffende erklärten am 28. Februar 1962 den Anspruch, den neuen deutschen Film zu schaffen, ohne "branchenübliche Konventionen". Doch der Weg zum erfolgreichen unabhängigen Autorenfilm ist lang.
"Also, das ist einfach nicht wahr. Dann suchen Sie sich doch für Ihren Schietlohn wen anders. Ich hab den ganzen Morgen im Zimmer sauber gemacht. Ich bin’s wirklich nicht gewesen. Also ich hab nun wirklich in einer ganzen Reihe von Fällen etwas weggeholt, aber hier nicht."

Anita G. steht unter Verdacht. Immer wieder gerät sie mit dem Gesetz in Konflikt. Sie ist auf der Flucht, aber sie weiß nicht so recht wovor und wohin. Alexander Kluges "Abschied von gestern", der als programmatischer Auftakt eines "neuen" deutschen Films gilt, entstand erst 1966, vier Jahre nach dem Oberhausener Manifest. Kluge montiert Bruchstücke aus dem Leben einer Unangepassten, die, unbewusst, gegen alte Verhältnisse und verkrustete Strukturen revoltiert. Kluge war Vordenker und Praktiker der 26 Filmrebellen, die am 28. Februar 1962 auf den Westdeutschen Kurzfilmtagen in Oberhausen verkündeten:

"Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten. Freiheit von den brancheüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. Wir haben von der Produktion des neuen deutschen Films konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen. Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen."

Entworfen wurde das Oberhausener Manifest an einem Januarabend im Hinterzimmer des Chinarestaurants "Hongkong" in der Münchner Tengstraße. Die als "Obermünchhausener" verspotteten Protestler waren Kurzfilmregisseure und ein Schauspieler. Keine Frau weit und breit. Das Manifest antwortete auf die Misere des deutschen Films: auf den Zuschauerschwund nach Aufkommen des Fernsehens, die nahtlose Fortführung der Filmpolitik der Ufa aus der Nazizeit und deren billige Unterhaltungsware. Auf den Berliner Filmfestspielen hatte die Avantgarde mit "Außer Atem" von Jean-Luc Godard und "La Notte" von Michelangelo Antonioni gesiegt. Sie waren die Vorbilder der Oberhausener. Doch der Weg zum erfolgreichen unabhängigen Autorenfilm war lang und steinig. Nur zwei von ihnen, Alexander Kluge und Edgar Reitz, haben eine Karriere gemacht, die bis heute anhält. Reitz erinnert sich:

"Wir waren 26 Leute so im Alter zwischen 22 und 32, und wir hielten uns aneinander fest. Wir hatten natürlich Angst vor der Presse, wir hatten Angst vor allem, was da passieren konnte. Weil wir wussten, dass dieser Anspruch, der da formuliert ist, der war viel zu gewaltig. Wir erheben den Anspruch, den neuen deutschen Film zu schaffen, steht da drin."

Reitz und Kluge übernahmen 1962 die neugegründete Filmabteilung an der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Mit dem Kuratorium Junger Deutscher Film entstand 1965 die erste Filmförderung für Erstlingsfilme. Im gleichen Jahr wurde Ulrich Schamonis "Es" der erste erfolgreiche Kinofilm des jungen deutschen Films. Kluges Filme "Abschied von gestern" und "Die Artisten in der Zirkuskuppel. Ratlos" holten erste Preise in Venedig. 1966 und 1967 öffneten die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin und die Hochschule für Fernsehen und Film in München. Aber die Filmkultur in Deutschland blieb unterentwickelt.

Die Oberhausener, die nie eine feste Gruppe bildeten, zerstreuten sich bald. Erst Ende der sechziger Jahre kristallisierten sich neue Talente und Stile heraus. Für den Markennamen "Neuer deutscher Film" steht die zweite Generation von Filmemachern nach Oberhausen. Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog, Volker Schlöndorff, Wim Wenders.

"Ich bin die ersten zehn Jahre, ich glaube, jedes Mal hier gewesen. Und wenn ich Filmemacher geworden bin, hat das bestimmt ein bisschen mit dem Filmfestival in Oberhausen zu tun."

Die halbherzige Antwort Wenders’ verweist auf die wahren Verhältnisse. Das abstrakte Gerippe des Oberhausener Manifests füllte sich erst in den 70er und 80er Jahren mit Fleisch, als die Filmförderung richtig in Gang kam. Selbst ein Genie wie Fassbinder, dessen "Angst essen Seele auf" 1974 als erster deutscher Film im Wettbewerb von Cannes Aufsehen erregte, musste sich zu Hause gegen den Vorwurf der Provinzialität verwehren.

"Wichtig ist doch für uns, dass wir lernen, Filme zu machen, die mit unserer Umwelt etwas zu tun haben. Und ein paar Leute fangen halt jetzt an, dass sie ganz konkret einen deutschen Film machen wollen, der da wieder anfängt oder versucht anzufangen, wo der deutsche Film `33 aufgehört hat."
Mehr zum Thema