Der Anschlag in Berlin und seine Folgen

"Weihnachten fällt dieses Jahr aus"

Blumen und Kreuze erinnern am Berliner Breitscheidplatz an die Opfer des Terroranschlags vom 19.12.2016.
Blumen und Kreuze erinnern am Berliner Breitscheidplatz an die Opfer des Terroranschlags vom 19.12.2016. © dpa-Bildfunk / AP / Markus Schreiber
Von Holger Trocha |
"Und dann brach die Hölle los." Anja und Heinz-Jörg wollten nur kurz noch einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz trinken - und wurden zu Anschlagsopfern. Unter den Folgen leiden sie bis heute.
Der Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz. Ein junges Paar mit blinkenden Elchgeweihen auf dem Kopf steht vor dem 20 Meter hohen Weihnachtsbaum und küsst sich. Ausgelassene Stimmung. Das Dach, in einem Event-Zelt neben der Gedächtniskirche ist wie jedes Jahr mit rotem Plüsch geschmückt, an den Wänden hängen kitschiger Weihnachtsschmuck und grell leuchtende Lichterketten. Aus den Lautsprechern dröhnen Weihnachtslieder und Schlager.
Nur wenige Meter entfernt von hier endete die Amokfahrt von Anis Amri. Doch daran denken hier die Wenigsten.
"Ehrlich gesagt, denke ich gar nicht darüber nach, also über die Anschläge oder den Anschlag vom letzten Jahr. Das ist gar nicht präsent."
"Man denkt dran, aber man lässt sich nicht unterkriegen."
"Ich schaue mich öfters um. Manchmal, wenn ich Sachen rumstehen sehe, denke ich: Darf das da sein?"
Eine ganz andere Stimmung herrscht rund zwei Kilometer entfernt in Berlin Wilmersdorf. Es ist still in der Altbauwohnung von Heinz-Jörg. Der 48 Jahre alte Mann steht in seiner Küche, macht sich einen Kaffee.
Heinz-Jörg wirkt traurig. Seine langen, grauen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Er hat tiefe Falten im Gesicht, seine Hände zittern. Nichts in dieser Wohnung erinnert an Weihnachten.
"Dieses Jahr Weihnachten lassen wir einfach 'mal ausfallen, weil das letzte Jahr war anstrengend genug mit dem Vorfall am Breitscheidplatz. Deshalb haben wir gesagt, das es dieses Jahr kein Weihnachten wirklich für uns gibt."

"Ein unsortierter Chaoshaufen"

Rückblende: 19. Dezember 2016, kurz nach 20 Uhr: Heinz-Jörg und seine Freundin Anja haben Weihnachtsgeschenke gekauft. Auf dem Nachhauseweg trinken beide noch schnell einen Glühwein.
"Auf einmal war einfach nur noch die Hölle los. Überall Kreischen, überall. Wir wussten eigentlich gar nicht, was los war im Endeffekt. Und dann wurde es immer lauter und lauter und lauter."
Anja wird durch den Anschlag am Fuß verletzt.
"In dem Moment waren wir natürlich völlig außer uns. Meine Freundin war völlig am Ende und hatte Schmerzen. Und dann kam die Polizei und führte uns dann in irgendeinen Raum rein. Und wir wussten auch gar nicht genau, was wir da sollten, weil wir wollten das auch nur in irgendeiner Form verarbeiten. Und dann sind wir da auch einfach wieder weg. Da war einfach nur ein unsortierter Chaoshaufen."

Was dann passiert, scheint typisch für den Umgang der Berliner Behörden mit den Opfern und Augenzeugen vom Breitscheidplatz. Anja und Heinz-Jörg werden einfach nach Hause geschickt und mit ihren Problemen alleine gelassen.
"Und hinterher merkt man dann, dass man Schlafstörungen hat und dass man, sobald man dann Sirenen hört, dass man dann nervös wird und durchdreht und dass man ganz anders reagiert, als vor diesem Vorfall."
Der Anhänger des Lastwagens steht neben dem zerstörten Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz.
Der Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz am Morgen nach der Tragödie.© pa/dpa/AP/Schreiber

Die Opfer ziehen sich immer mehr zurück

Anja und Heinz-Jörg ziehen sich immer weiter zurück, sagen Einladungen von Freunden ab, lassen Tickets fürs Theater und Konzerte verfallen. Zur Arbeit fahren sie nicht mehr wie sonst mit U-Bahn und Bus, sondern nehmen ihr eigenes Auto. Zu groß ist die Angst vor einem neuen Anschlag.
Auch zu Hause wird es stiller: Gespräche zwischen den beiden gebürtigen Rheinländern werden immer seltener. Sie merken, dass sie dringend Hilfe brauchen. Mehrere dutzend Mal rufen Sie bei der Polizei und bei verschiedenen Ämtern an. Doch statt nützlicher Tipps, Telefonnummer von Psychologen oder einer finanziellen Entschädigung flattert Tage später ein Anhörungsbogen der Polizei ins Haus.
"Ja, das war ja eher ein Witz. Das war ja irgendwie ein Blatt Paper als wenn ich einen Verkehrsunfall gehabt hätte. Das kann man ja nicht ernst nehmen."
Das Paar ignoriert den Anhörungsbogen und geht noch am selben Tag zu einem Psychologen. Die Therapiekosten übernehmen sie.
"Vielleicht hätten die anderen das auch bezahlt oder hätte auch der Staat das finanziert. Aber das war uns alles viel zu anstrengend, eine Kontaktperson zu finden oder sonst irgendwas und haben dann eben gesagt: Es musste etwas gemacht werden und dann haben wir halt reagiert. Wir haben nicht gewartet, bis uns jemand Hilfe angeboten hat."

Auf eine Betreuung nicht vorbereitet

Anjas und Heinz-Jörgs Erfahrungen nach dem Anschlag seien kein Einzelfall, sagt Burkhard Dregger. Der innenpolitische Sprecher der Berliner CDU ist seit Juli Vorsitzender des parlamentarischen Untersuchungsausschusses "Anis Amri" im Abgeordnetenhaus. Seine Bilanz nach der Auswertung hunderter Akten:
"Nein, also wir waren insbesondere nicht auf die Betreuung etwaiger Opfer vorbereitet. Da gab es die skurrilsten und unmöglichsten Situationen. Es war ein absolutes Informationschaos, es gab offenbar überhaupt keine Stelle, die darauf vorbereitet war. Und das hat unglaublich für Frustration und Besorgnis gesorgt."

Diese Frustration kennt auch Rechtsanwalt Roland Weber. Seit fünf Jahren ist der 51-jährige Opferbeauftragter des Landes Berlin. Auch er hat die Situation auf dem Breitscheidplatz direkt nach dem Anschlag ausgewertet.
"Insgesamt stufe ich das durchaus als schwierig ein. Wir hatten ja alleine hier, wie man ja weiß, zwölf Verstorbene, das heißt zwölf Familien, die im In- und Ausland lebten. Da sind ja mehrere Länder betroffen. Wir hatten hier 60 bis 70 Primärverletzte, die eben auch in verschiedenen Ländern beheimatet sind. Wir reden von einer ganz großen Anzahl. Wir haben zahlreiche weitere traumatisierte Passanten, Leute die da über den Markt gelaufen sind. Um all die muss man sich ja kümmern."
Dies sei aber nur unzureichend geschehen. Stattdessen suchen Verwandte nach dem Anschlag oft über Tage vergeblich nach Angehörigen, traumatisierte Verletzte und Augenzeugen werden alleine gelassenen.
Knapp ein Jahr nach dem Terroranschlag besucht Bundeskanzlerin Angela Merkel den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin und legt eine weiße Rose zum Andenken an die Opfer nieder. Rechts Klaus-Jürgen Meier (r) vom Vorstand der Arbeitsgemeinschaft City e. V. Bei dem Anschlag mit einem entführten Lastwagen tötete der islamistische Terrorist Amri am Abend des 19. Dezember 2016 zwölf Menschen und verletzte etwa 70.
Kritik von Opfern wurde auch an Kanzlerin Merkel laut: Sie habe sich viel zu spät um die Opfer gekümmert.© dpa/Michael Kappeler

Nun soll eine zentrale Anlaufstelle eingerichtet werden

Roland Weber fordert darum für die Schaffung einer zentralen Anlaufstelle für Opfer und Betroffene. Das habe gleich mehrere Vorteile.
"Wir würden in einem weiteren Katastrophen- oder Anschlagsfall sofort alle Daten der Verletzten und auch der Hinterbliebenen über die Krankenhäuser, über die Gerichtsmedizin, die Polizei zugespielt bekommen – und wir könnten sofort aktiv auf die Betroffenen zugehen und ihnen sofort zeigen, wo sie Hilfe bekommen und welche Form der Hilfe. Wir könnten konkret Helfer und Bedürftige zusammenführen."
Webers Forderung wurde mittlerweile von der rot-rot-grünen Koalition erhört. Anfang November beschloss der Senat, dass Berlin als erstes Bundesland eine zentrale Anlaufstelle bekommt. Justizsenator Dr. Dirk Behrendt will diese Stelle zunächst mit einem Rechtsanwalt, einem Psychologen und einen Sozialarbeiter besetzen. Mit dem Anspruch: Alle sollen nicht nur gut in Berlin vernetzt sein, sondern auch fließend Englisch sprechen.
"Wir werden eine zentrale Telefonanrufnummer haben. Wir werden hier auch vor Ort sein und hier auch Publikumsverkehr ermöglichen. Und von daher soll in Zukunft allen Opfern von Terroranschlägen und Großschadensereignissen in Land Berlin frühzeitig bekannt gegeben werden – auch über die Polizei – das ist elementar, dass sie sich hier an uns wenden können und Hilfe bekommen."
Doch mit einer zentralen Anlaufstelle im Bundesgebiet sei es noch lange nicht getan, sagt Opferanwalt Weber. Er fordert, die Gesetze für Opferschutz und Opferhilfe zu verbessern.
"Die unterschiedlichen Zuständigkeiten, die Komplexität der Anträge, die komplizierte Wortwahl darin – da müsste einiges entschlackt und vereinfacht werden. Da sitze ich auch dran. Aber das sind, salopp gesprochen, ganz dicke Bretter, die da gebohrt werden müssen."

Angehörige standen vor dem Nichts

Genau das sei wichtig, um schneller finanzielle Unterstützung zu bekommen. Nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz gab es gleich mehrere Fälle, bei denen Angehörige dringend auf staatliche Zahlungen angewiesen waren. Weber nennt zwei Beispiele: Eine Studentin verlor ihre Eltern und stand vor dem Nichts.
In einem anderen Fall musste der Lebenspartner eines Schwerverletzten das gemeinsame Haus behindertengerecht umbauen. Da stehe man ganz schnell vor dem finanziellen Ruin, weiß auch Berlins Justizsenator Behrendt.
"Wir gucken uns an wie das konkrete Entschädigungsverfahren in Berlin geregelt ist. Da ist mir jetzt aber noch keine konkrete Rückmeldung von Seiten der Opfer bekannt, dass das konkret als unzureichend wahrgenommen wurde. Insgesamt ist das ein komplizierter Flickenteppich. Aber da nehme ich war, dass der Bundesgesetzgeber sich daran machen will, das zu verbessern."
Zurück zum Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Der bleibt heute aus Respekt vor den Opfern geschlossen. Stattdessen gibt es mehrere Gottesdienste. Außerdem wird eine Gedenkstätte eingeweiht: ein goldfarbener Riss, der den Boden am Breitscheidplatz durchschneidet.
"Die Gestaltung der Gedenkstätte ist unter Einbindung der Angehörigen geschehen. Und es war ihr großer Wunsch, dass das wie es jetzt gemacht wird, genau so durchgeführt wird."

Keine Einladung für die Opfer

Anja und Heinz-Jörg sind heute nicht zur Gedenkveranstaltung gegangen. Sie wurden auch nicht eingeladen. Gekommen wären sie ohnehin nicht.
Ja, das sind ja immer diese Jahres ... Im Fernsehen kriegt man es ja andauernd aufgetischt oder in den öffentlichen Medien, dass es jetzt ein Jahr vorbei ist. Und das weiß man selber natürlich auch. Und jetzt sind überall Weihnachtsmärkte. In diesem Jahr werden wir auf jeden Fall einen weiten Bogen darum machen."
Den beiden geht es nach diesem einen Jahr wieder besser. Weihnachten wollen sie an die Nordsee fahren und dort die stille Natur genießen.
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