Der Anspruch auf Achtung
John Rawls’ "Theorie der Gerechtigkeit" ist das einflussreichste Buch des 20. Jahrhunderts zu diesem Thema – mit der These von der Gerechtigkeit als Fairness unter grundsätzlich gleichen Bürgern, festgelegt in einem Gesellschaftsvertrag. Martha Nussbaums respektvolle, aber ungemein gründliche Kritik an ihrem einstigen Lehrer Rawls zeigt, dass die Lücken dieser Theorie schon im Ansatz selbst stecken.
Drei exemplarische Probleme sollen Licht auf Rawls’ brüchiges Theoriegerüst werfen: unser Verhältnis zu Behinderten, zu Tieren und schließlich die Erweiterung unserer Gruppen-Ethik auf die Menschheit schlechthin.
Wie ihr Kollege, der nobelpreisgekrönte Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen, der gerade ebenfalls ein Buch zum Thema veröffentlicht hat ("Die Idee der Gerechtigkeit"), ist sie zutiefst misstrauisch gegen alle Theorien, in deren Kern eine Art Gesellschaftsvertrag steckt. Denn diese wurzeln in der Regel in einer engstirnigen Vorstellung vom Menschen: Dass nämlich Menschen sich nur dann disziplinieren, statt brutal ihren eigenen Vorteil zu suchen, wenn man ihnen für ihre Zurückhaltung eben wiederum einen Vorteil versprechen kann. Der wäre natürlich von Behinderten, Tieren oder fernen Völkern kaum zu erwarten, und Gegenseitigkeit schon gar nicht. Also müssen andere Kooperationsmodelle her, eine andere Auffassung von Bürgerschaft.
Ein solches Modell stellt Nussbaum vor. Es wurzelt im sogenannten "Fähigkeiten-Ansatz" – in dem, "was die Menschen tatsächlich zu tun und zu sein in der Lage sind", wie sie sagt. Menschen sind eben nicht, wie die klassischen Theorien glauben machen wollen, alle gleich. Also können wir auch keinen Sozialvertrag unter gleichgestellten Menschen zum Universalmodell machen. In der internationalen Wirtschaft ist das offensichtlich. Schwächere Nationen haben weniger Gewicht bei Abstimmungen, sie können ignoriert werden – ebenso wie Behinderte oder erst recht "nichtmenschliche Tiere", wie die Autorin sie nennt: Diese werden erst gar nicht gefragt.
Alternative Kriterien für eine Ethik der Gerechtigkeit wären Wohlwollen, Fürsorge, vor allem aber die Anerkennung der Würde jeder Kreatur: Nussbaums Schlüsselbegriff. Würde schließt den Anspruch auf Achtung ein. Und dieser Anspruch wird konkretisiert durch Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz, den sie einst gemeinsam mit Amartya Sen entwickelte: Er meint den Anspruch auf die Entwicklung, Verwirklichung und Anwendung der individuellen Fähigkeiten und auf die praktischen, auch materiellen, Rahmenbedingungen und Bildungschancen.
In einer umfassenden Liste stellt Martha Nussbaum diese als eine Art Grundrechte-Charta vor – und unterstreicht dabei die wechselseitige Bedingtheit dieser jeweiligen Werte. Wie bei einer Lichterkette falle das ganze System aus, wenn nur eins der Teile leide. In Deutschland würde man sagen: Es sind die pragmatischen Universalien einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft.
Besprochen von Eike Gebhardt
Martha Nussbaum: Die Grenzen der Gerechtigkeit
Suhrkamp 2010
599 Seiten, 36,90 Euro
Wie ihr Kollege, der nobelpreisgekrönte Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen, der gerade ebenfalls ein Buch zum Thema veröffentlicht hat ("Die Idee der Gerechtigkeit"), ist sie zutiefst misstrauisch gegen alle Theorien, in deren Kern eine Art Gesellschaftsvertrag steckt. Denn diese wurzeln in der Regel in einer engstirnigen Vorstellung vom Menschen: Dass nämlich Menschen sich nur dann disziplinieren, statt brutal ihren eigenen Vorteil zu suchen, wenn man ihnen für ihre Zurückhaltung eben wiederum einen Vorteil versprechen kann. Der wäre natürlich von Behinderten, Tieren oder fernen Völkern kaum zu erwarten, und Gegenseitigkeit schon gar nicht. Also müssen andere Kooperationsmodelle her, eine andere Auffassung von Bürgerschaft.
Ein solches Modell stellt Nussbaum vor. Es wurzelt im sogenannten "Fähigkeiten-Ansatz" – in dem, "was die Menschen tatsächlich zu tun und zu sein in der Lage sind", wie sie sagt. Menschen sind eben nicht, wie die klassischen Theorien glauben machen wollen, alle gleich. Also können wir auch keinen Sozialvertrag unter gleichgestellten Menschen zum Universalmodell machen. In der internationalen Wirtschaft ist das offensichtlich. Schwächere Nationen haben weniger Gewicht bei Abstimmungen, sie können ignoriert werden – ebenso wie Behinderte oder erst recht "nichtmenschliche Tiere", wie die Autorin sie nennt: Diese werden erst gar nicht gefragt.
Alternative Kriterien für eine Ethik der Gerechtigkeit wären Wohlwollen, Fürsorge, vor allem aber die Anerkennung der Würde jeder Kreatur: Nussbaums Schlüsselbegriff. Würde schließt den Anspruch auf Achtung ein. Und dieser Anspruch wird konkretisiert durch Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz, den sie einst gemeinsam mit Amartya Sen entwickelte: Er meint den Anspruch auf die Entwicklung, Verwirklichung und Anwendung der individuellen Fähigkeiten und auf die praktischen, auch materiellen, Rahmenbedingungen und Bildungschancen.
In einer umfassenden Liste stellt Martha Nussbaum diese als eine Art Grundrechte-Charta vor – und unterstreicht dabei die wechselseitige Bedingtheit dieser jeweiligen Werte. Wie bei einer Lichterkette falle das ganze System aus, wenn nur eins der Teile leide. In Deutschland würde man sagen: Es sind die pragmatischen Universalien einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft.
Besprochen von Eike Gebhardt
Martha Nussbaum: Die Grenzen der Gerechtigkeit
Suhrkamp 2010
599 Seiten, 36,90 Euro