Geir Lippestad: Ich verteidigte Anders Breivik. Warum? Meine schwierigste Strafverteidigung
Herder Verlag
224 Seiten, 19,99 €
Warum ich Anders Breivik verteidigt habe
Der Jurist Geir Lippestad verteidigte den rechten Massenmörder Anders Breivik. In seinem Buch erzählt er von den Zweifeln, die ihn quälten, als er das Mandat übernahm und warum er es als seine Pflicht ansah, für Breivik einzutreten. Ein beeindruckend ehrliches Buch.
Wie viel Gerechtigkeit verdient ein Mann, der 77 Menschen erschießt – und stolz darauf ist? Warum hat der Rechtsanwalt Geir Lippestad den Mörder Anders Breivik vor Gericht verteidigt? In seinem Buch erklärt Lippestad: Er habe nicht für den Mörder gearbeitet, sondern für den Rechtsstaat. "Ohne faire Gerichtsverhandlungen stürzt dieses System ein, und das Schicksal der Opfer wird noch sinnloser."
Die Krise kam am Weihnachtstag, ein halbes Jahr nach den Morden. Seit dem 23. Juli 2011, dem Tag nach dem Bombenanschlag in der Innenstadt von Oslo und dem anschließenden Massaker auf der nahe gelegenen Insel Utøya, hatte der norwegische Rechtsanwalt Geir Lippestad dafür gekämpft, dem geständigen Massenmörder Anders Behring Breivik als dessen Verteidiger ein faires Verfahren zu garantieren.
Breivik glaubte sich im Krieg
77 Menschen hatte Breivik bei den Attentaten getötet. Die weitaus meisten waren Kinder und Jugendliche, die sich zu einem Feriencamp der sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf Utøya aufhielten. Der Tathergang war unstrittig: Volle anderthalb Stunden lang hatte Breivik seine Opfer über die Insel gejagt. Zunächst waren ihm die Kinder arglos begegnet; der Mörder hatte sich als Polizist verkleidet. Dann waren sie weggerannt, hatten sich versteckt oder waren ins Wasser gesprungen, um sich an Land zu retten; die meisten vergeblich. Sie hatten geschrien, um ihr Leben gebettelt – doch Breivik schoss ohne Gnade. Später, im Prozess, sollte sich der Anhänger rechtsradikaler Ideologie auf Notwehr berufen. Er sei ein Kämpfer, sagte Breivik, und befinde sich im Krieg gegen das System.
Am Morgen nach der Tat saß Lippestad erstmals seinem Mandanten gegenüber. Er hatte sich um das Mandat nicht beworben; er war gefragt worden – und als er zögerte, war es seine Frau Signe gewesen, Krankenpflegerin an der Uniklinik, die ihn an seine Pflicht erinnerte und an die Funktion, die er ausfüllen müsse, wenn der Rechtsstaat nicht vor seinen Feinden in die Knie gehen sollte. Doch gleich an diesem ersten Morgen erkannte Geir Lippestad auch die Dimension der Aufgabe, einen solchen Menschen verteidigen zu sollen:
"Er gestand die grotesken Taten nicht nur, als handle es sich um einen Sonntagsausflug, sondern er war auch noch stolz darauf. Er erklärte mir, die gesamte Aktion sei politisch motiviert. Sie sei nur ein kleiner Teil des Krieges, den er und seine Kampfgenossen gegen die Sozialdemokraten und die multikulturelle Gesellschaft führten, zu welcher die Arbeiterpartei Norwegen machen wolle."
Zweifel am Rechtsstaat und an der eigenen Rolle
Lippestad hatte ein Team von bewährten Juristen zur Verteidigung des Massenmörders zusammengestellt, hatte sich gegen die von eifersüchtigen Kollegen oder sensationsgierigen Reportern mehr oder minder offen vorgebrachten Verdächtigungen zur Wehr gesetzt, er könne selbst ein Sympathisant der extremen Ideen seines Mandanten sein. Nein, hatte er klargestellt, er sei ein überzeugter Anhänger der norwegischen Sozialdemokratie. Und noch fester überzeugt sei er davon, dass jeder einen fairen Prozess bekommen müsse. Sonst mache der Staat sich gemein mit denen, die ihn mit unmenschlichen Methoden bekämpften.
Und dennoch quälten ihn Zweifel – an der Tauglichkeit des Systems im Angesicht einer solchen Herausforderung, am Rechtsstaat schlechthin und immer wieder an der eigenen Rolle.
"Eine innere Unruhe ergriff mich. Waren wir Verteidiger dabei, ein Sprachrohr des Terroristen zu werden? Nicht als Personen, sondern weil unsere Handhabung seiner Rechte ihm und seinen Gesinnungsgenossen zu viel Publizität ermöglichte? Konnte dies dazu führen, dass junge Menschen in seinen Bann gezogen würden? Konnte es die latente Wut anstacheln, die viele Jugendliche in rechtsextremen Bewegungen auslebten? Wie sollten wir damit umgehen?"
"Ich arbeitete für einen Mörder"
Dann, am Weihnachtstag, die Krise. Drinnen im Haus feierte die Familie, sieben Kinder, ein achtes war unterwegs – und draußen stand der aufrechte, umstrittene, von allen Seiten genauestens beobachtete Rechtsanwalt und konnte die Tränen nicht zurückhalten.
"Plötzlich wusste ich, was es war: In diesem Augenblick saßen im ganzen Land 77 Familien und mussten das erste Weihnachtsfest ohne ein geliebtes Familienmitglied feiern. Die meisten von ihnen hatten ein Kind auf der Schwelle zum Erwachsenwerden verloren, eines, das genau wie die Sonnenstrahlen war, die ich um mich hatte, und genauso unvergesslich. Seit einem halben Jahr arbeitete ich für ihren Mörder."
Der Verteidiger hat sich Zeit gelassen, mehrere Jahre, um den Fall persönlich aufzuarbeiten. Was an der Lektüre des schmalen Bandes nun beeindruckt, ist die bedachtsame Ruhe, mit der Lippestad seine Position reflektiert. Ist die Offenheit, mit der er immer wieder seine eigene Arbeit in Frage stellt, aber ebenso die Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Erklärungsmodelle und ganz allgemein: den Sinn von Gesetz und Strafe. Er hatte ja als Kind erlebt, wie gnadenlose Anwälte seinen Vater in den Ruin trieben. Und darauf beschlossen, selbst Jurist zu werden. Auch von Rebekka erzählt er, seiner ältesten Tochter, 17 Jahre alt und seit ihrer Geburt schwerstbehindert. Damals hatten die Ärzte den jungen Eltern geraten, ihrem Leiden doch ein Ende zu bereiten. Heute steht Rebekka im Zentrum der glücklichen Familie.
Plädoyer für Milde und Menschlichkeit
In solch ständiger Rückkoppelung zwischen privaten Reflexionen und öffentlicher Rolle belegt Lippestad, welch entscheidende Bedeutung den Menschen hinter den Gesetzen zukommt und welche Stärke einem Rechtsstaat gerade dadurch zuwächst.
Genau das war es, was ihm am Weihnachtsabend draußen in der Kälte klar wurde. Und genau deshalb auch hatte er die Kraft, in seinem Schluss-Plädoyer für das vermeintliche Monster Breivik ein mildes Urteil zu fordern.
"Ich arbeite nicht für den Mörder. Ich arbeite für ein System, auf das ich unendlich stolz bin. Ohne faire Gerichtsverhandlungen stürzt dieses System ein, und das Schicksal der Opfer wird noch sinnloser. Ich arbeite für das, was diese Jugendlichen schützen und weiterentwickeln wollten, damit unsere Gesellschaft noch gerechter und integrativer wird."