Der arabische Herbst
In Ländern wie Tunesien, Ägypten und Libyen wurden die alten Machthaber gestürzt - doch wie geht es in der Region jetzt weiter? Lassen sich Islam und Demokratie vereinbaren? Eine Diskussion mit der Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer und dem Buchautor Stefan Weidner.
Claus Leggewie: Schönen guten Tag zu einer neuen Ausgabe von Lesart Spezial, Deutschlandradio Kultur mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, der Buchhandlung "Proust", im Schauspiel Essen im Café Central. Und unser Medienpartner ist die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Mein Name ist Claus Leggewie.
Draußen sind die Blätter gefallen. Wir haben einen goldenen Herbst erlebt. Unsere Thematik heute ist der arabische Herbst. Wir haben im Frühjahr dieses Jahres, das schon im Januar begann, den sprichwörtlichen arabischen Frühling erlebt, eine arabische Demokratiebewegung, mit der die wenigsten in dieser Wucht gerechnet haben, die sehr viel Hoffnung gemacht hat. Wenn wir die Sendung "Der arabische Herbst" nennen, dann meinen wir nicht, dass diese Bewegung zu Ende ist, aber wir kümmern uns – frei nach Brecht – jetzt um die Mühen der Ebenen, nachdem die Mühen der Gipfel im Frühjahr erklommen wurden, und wollen uns insbesondere mit der Thematik befassen, inwiefern im Islam eine demokratische Bewegung entsteht, ob sie dauerhaft sein kann, wie am Ende vielleicht eine Demokratie in der islamischen Welt aussehen könnte.
Dazu habe ich zwei Gäste, die kompetenter kaum sein könnten, die nicht nur über den Islam und die islamische Welt reden, wie wir das sehr häufig tun, sondern die die Region sehr gut kennen aus langjähriger Erfahrung, aus vielen Reisen, aus vielen wissenschaftlichen Untersuchungen, die auch die Sprache sprechen, die in dieser Region gesprochen wird, die die Tradition dieser Region kennen, die die Geschichte kennen und die von den Islamen, wie ich es gleich nennen möchte, sehr viel verstehen.
Zunächst Gudrun Krämer: Gudrun Krämer ist Professorin am Institut für Islamwissenschaft an der Freien Uni Berlin. Sie ist seit Jahren in der islamwissenschaftlichen Forschung tätig hier in Deutschland, international. Und sie hat gerade ein neues Buch vorgelegt. Das heißt "Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt". Schönen guten Tag, Frau Krämer.
Gudrun Krämer: Guten Tag.
Claus Leggewie: Dann habe ich hier zu meiner Linken Stefan Weidner. Stefan Weidner kennt die Region ebenso gut. Er ist Autor, Übersetzer, Chefredakteur der Zeitschrift "Fikrun wa Fann" und hat auch ein neues Buch zum Thema geschrieben, "Aufbruch in die Vernunft" über Islamdebatten, das soeben beim Dietz Verlag erschienen ist. Und er wird uns ein zweites Buch heute vorstellen: Alaa al-Aswani "Im Land Ägypten". Schönen guten Tag, Herr Weidner.
Stefan Weidner: Guten Abend.
Claus Leggewie: Frau Krämer, wann waren Sie zum ersten Mal in Ägypten?
Gudrun Krämer: 1973.
Claus Leggewie: Wie kam's? Was war das Interesse? Was hat Sie seither immer wieder nach Ägypten verschlagen? Was ist das wissenschaftliche Interesse, vielleicht die Faszination? Was ist der Grund, dass Sie gerade dieses Land so intensiv kennen gelernt haben?
Gudrun Krämer: Als ich noch in der Schule war, wollte ich Ägyptologin werden. Ich war fasziniert vom alten Ägypten, vom pharaonischen Ägypten, habe dann schon mal angefangen Arabisch zu lernen, Volkshochschule, Privatstudium, was etwas schwierig ist, und habe mich dann entschlossen, statt der – ja, wenn ich es so sagen darf – doch toten Kultur der Pharaonen, so sehr sie mich immer noch interessiert, die lebendige Kultur des Islam zu studieren, verbunden mit dem Studium der Geschichte. Und da lag's natürlich nahe, auch in das Land meiner Begierden und Träume zu reisen. Das hab ich dann immer wieder wiederholt. Und ja, Sie haben es gesagt, viele Jahre sind seitdem vergangen, fast zu viele schon.
Claus Leggewie: Wie geht's weiter in Ägypten?
Gudrun Krämer: Das weiß ich auch nicht. Wir sehen alle, dass auf der einen Seite die Bewegung, wenn man von ihr sprechen will, eigentlich ungebrochen ist, nach wie vor Menschen, in den Städten vor allem, sich mobilisieren lassen, um gegen das zu demonstrieren, was immer noch die Missstände sind, die Tatsache, dass das Militär nun, gestützt doch auf starke Kräfte des alten Regimes, sich an die Macht krallt, dagegen vorgehen, immer noch ankämpfen. Und das gibt einem natürlich Mut. Das gibt sicherlich auch den Leuten selber Mut. Und gleichzeitig sieht jeder die Widerstände, nicht nur die Vertreter des alten Regimes, sondern auch die ganzen ökonomischen, sozialen Schwierigkeiten, die sich auftun. Aber ich habe als Außenstehende die Hoffnung keineswegs aufgegeben.
Claus Leggewie: Und behauptet wird, dass eher eine säkulare, urbane, zivile, auch sehr junge Bewegung diese Revolution gemacht hat und die Muslim-Brüder davon profitieren werden.
Gudrun Krämer: Ja, das ist eine Zweiteilung der ägyptischen Gesellschaft, die gerne vorgenommen wird, weil in der Tat auf dem Tahrir- Platz und an anderen Orten junge Menschen aufgestanden sind, die überhaupt nicht mit religiösen Formeln argumentiert haben, die tatsächlich nach Freiheit gerufen haben, nach Mitbestimmung, nach einem Leben in Würde und Anstand.
Das heißt aber nicht, dass die Muslim-Brüder und andere islamische Kräfte völlig abwesend gewesen wären. Und das heißt auch nicht, dass diejenigen, die diese Bewegung mitgetragen haben, sich alle von der Religion abgewandt hätten. Ich würde schon davon ausgehen, dass – wenn es darum geht, die nachrevolutionäre Ordnung zu gestalten – der Islam auf jeden Fall eine wichtige Rolle spielt. Man sieht das bei der Diskussion über eine Verfassung. Da wird der Verweis auf den Islam nach wie vor als grundlegend gehandelt. Und ich glaube, dass der erhalten bleiben wird.
Also, es ist – glaube ich – nicht so, dass man sagen muss, dass die Muslim-Brüder den säkularen jungen Leuten die Revolution stehlen, wie es gerne mal dargestellt wird.
Claus Leggewie: Frau Krämer hat ein Buch "Demokratie im Islam" vorliegen, in das sehr lange Forschung eingeflossen ist, das gleichzeitig ein sehr lesbares, sehr gut lesbares wissenschaftliches Sachbuch ist. Es hat acht Kapitel, in denen es vor allen Dingen um die Frage geht, inwiefern es einen islamischen Staat, eine islamische Demokratie geben kann. Herr Weidner, wie haben Sie das Buch gelesen?
Stefan Weidner: Ich kenne viele der Aufsätze schon aus früheren Publikationen und habe mich eigentlich gefreut, dass ich das hier gesammelt gesehen habe, weil das natürlich Publikationen waren eher für den Fachmann. Und wenn man so zusammen liest, scheint es mir eine sehr schlüssige abgerundete Fassung oder Auseinandersetzung und auch sehr differenziert mit der Frage, was Islam und Demokratie denn nun miteinander gemein haben oder auch nicht.
Dabei wird ganz schnell klar, dass es eben nicht, wie es in der oberflächlichen Diskussion bei uns so scheint, zwei gegensätzliche Begrifflichkeiten sind. Damit spielt ja so ein bisschen auch der Titel – "Demokratie im Islam". Da kommt natürlich sofort die Frage: Geht das überhaupt? Und dann merkt man, das Ganze ist kein absoluter Gegensatz wie Schwarz und Weiß. Es sind nicht zwei Kontrastfarben, die da aufeinanderprallen, sondern es sind zwei Konzepte, die sich überhaupt nicht ausschließen, sondern die sich einfach, wie viele andere Konzepte, auch aneinander reiben, die gegeneinander abgewogen werden müssen und wo das eine osmotisch in das andere übergeht. Diese ganzen Diskussionen werden ganz gut geschildert. Und dabei wird klar, wie gesagt, Islam und Demokratie ist kein klarer Gegensatz. Es ist eine.. Das Ganze befindet sich in der Diskussion. Und diese Diskussion kann eigentlich nur profitieren davon, dass man halbwegs oder zunehmend demokratische Verhältnisse hat, freie Meinungsäußerung usw. dies, rechtsstaatliche Verhältnisse auch, die die Diskussion auf eine legale Grundlage stellen. Denn vorher wurden diese ganzen Diskussionen, so habe ich es zumindest wahrgenommen, über den Islam und über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie teilweise unterdrückt oder in sehr bestimmte Richtungen gedrängt durch die despotischen Regime in der islamischen Welt.
Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, Frau Krämer.
Gudrun Krämer: Ja, natürlich. Wenn Sie solche grundlegenden Debatten in einem repressiven Klima führen müssen, dann schauen Sie sich gewissermaßen immer um, bevor Sie etwas sagen und verkleiden vieles von dem, was Sie sagen wollen, sei es, indem Sie verschleiern, was Sie wirklich wollen, oder indem Sie es gefällig darbieten oder harmlos. Von daher hoffe ich auch, dass durch ein offeneres Klima das positive Potenzial der ganzen Diskussion noch besser zum Tragen kommt und auch die Reibungen noch deutlicher werden. Denn die sind natürlich da.
Ich habe es ja mit Absicht nicht Islam und Demokratie genannt, sondern Demokratie im Islam, und dabei etwas offen gelassen, wer dieser Islam nun eigentlich ist, ob das nun ein abstraktes Gebäude von Lehren ist oder das – und dazu neige ich selber stark –, was Muslime für Islam halten, was sie für richtig halten und was sie praktizieren. Und da kann man natürlich dann schon fragen, wie ein gläubiger Muslim, eine gläubige Muslimin mit dem Thema Demokratie, Menschenrecht, Rechtsstaatlichkeit, Partizipation umgeht, sodass sie oder er es für islamisch legitim halten. Das ist eigentlich das, was mich wirklich interessiert.
Claus Leggewie: Und Sie zeigen, deshalb habe ich von den Islamen gesprochen im Plural, Sie zeigen durchaus, wie differenziert, wie pluralistisch die Debatte ist. Und gleichzeitig zeigen Sie, wo sozusagen am Ende, was auch immer das Ergebnis einer offenen Diskussion ist, sich die islamische Demokratie von einer liberalen Demokratie im Westen auch unterscheiden wird. Könnten Sie die Punkte noch mal in Erinnerung rufen?
Gudrun Krämer: Also, ich würde sagen, wenn im heutigen Ägypten oder auch Tunesien oder Syrien eine islamische Demokratie eingerichtet würde, dann würde wohl, was die politischen Institutionen angeht, wenig auffallen. Es würde Wahlen geben, Männer und Frauen hätten das Wahlrecht. Es gäbe einen Wechsel in bestimmten Abständen. Es gäbe ein Verfassungsgericht, vielleicht ein Zweikammerparlament und Ähnliches mehr. Aber ich denke, dass im augenblicklichen geistigen Klima es keine liberale Demokratie wäre, in der also Grundsätze eines liberalen Verständnisses auf allen Feldern durchgesetzt werden, zum Beispiel zugestanden wird, dass jeder das Recht hat, auch sexuell, in seiner ganzen Lebensführung so zu leben, wie er oder sie das für richtig hält, oder künstlerische und wissenschaftliche Freiheit ganz unbeschnitten wäre.
Ich denke, dass eine viel eingeengtere Fassung von Freiheit zunächst mal zur Geltung kommen würde, übrigens eine, die lang genug – ich muss das doch in diesem Zusammenhang sagen – die lang genug auch in westeuropäischen Gesellschaften gängig war. Es ist ja nun wirklich noch nicht so lange her, dass wir ganz laut bejahen, dass jeder Mensch das Recht hat, im Wesentlichen sein Leben doch so zu gestalten und zu führen, wie er oder sie das gerne hätte. Also, gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind ja noch nicht so lange her als legitim und legal anerkannt. Und die uneingeschränkte Wissenschaftsfreiheit ist auch nicht jedermanns Sache.
Also, ich würde insofern zwischen einem demokratischen politischen System auf der einen Seite unterscheiden und einem liberalen Gemeinwesen, was bestimmte Grundwerte angeht.
Stefan Weidner: Ich weiß gar nicht. Das ist eine interessante These. Aber natürlich muss man einerseits sagen, dass Demokratie nicht identisch ist mit unserer Gesellschaftsform und unserer Lebensart. Also, ich glaube, da muss man sehr vorsichtig sein. Und wenn man redet von einer islamischen Demokratie, muss man sehr aufpassen, ob das nicht irgendwie dann doch abwertend gemeint ist. Also, sozusagen Demokratie mit so ein paar in Anführungszeichen. Ich glaube, das muss nicht der Fall sein.
Und was die Frage, das ist eine sehr interessante Frage, was künstlerische Freiheit, Gedankenfreiheit, Freiheit der Lebensführung und so was angeht, da müssen wir einerseits feststellen, dass ich glaube, dass eine totale Kontrolle über die Gesellschaft – also, das würde ja implizieren, dass eine Regierung oder eine Gesellschaft oder eine Mehrheit, die demokratisch repräsentativ gewählt ist, eine mehr oder weniger totale Kontrolle über eine Gesellschaft ausübt. Nur dann können ja die Freiheitsrechte entsprechend eingeschränkt sein.
Ich glaube erstmal, dass in einer modernen Gesellschaft eine solche totale Kontrolle überhaupt nicht möglich ist. Saudi Arabien, das Homosexualität streng bestraft, sie wird aber exzessiv praktiziert zum Beispiel. Also, das ist schon mal gar nicht möglich. Dann fragt man sich natürlich auch, wie weit ist bei uns eine solche Kontrolle nicht durch die Hintertür dann doch wieder da, Stichwort Internet. Sodass ich also sagen würde, na ja, vielleicht kann aber doch dann ein Schriftsteller in der Regel alles schreiben, was er will. Es kann aber natürlich trotzdem sein, dass irgendwelche Islamisten dann mal ein Kino attackieren, wo ein Film läuft, der ihnen jetzt nicht genehm ist, und die Staatsmacht dann nicht auf diese Weise einschreitet, wie wir uns das wünschen würden. Das ist natürlich immer möglich. Aber, wie gesagt, Frage dann auch wieder: Ist bei uns so was völlig ausgeschlossen?
Gudrun Krämer: Aber wenn ich das sagen darf, es geht ja nicht darum, ob jetzt eine Gesellschaft total kontrolliert werden könnte. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen – nirgendwo auf der Welt. Aber es macht doch einen Unterschied, ob etwas von Rechts wegen als legitim anerkannt ist oder ob Sie das mehr oder weniger im Verborgenen tun und darauf hoffen, dass es keiner merkt – nach viktorianischer Moral. Was ich zu Hause mache, my home is my castle, geht niemanden was an, das wird ja selbst in Saudi Arabien praktiziert.
Es geht doch darum: Was darf im öffentlichen Raum gemacht und gesagt werden, ohne dass man dafür bestraft werden kann? Und da, denke ich, wird es gewisse Unterschiede geben. Und wenn Sie sich anhören, was zum Beispiel in Ägypten von den Muslim-Brüdern heute gefordert wird, dann ist das eine ganz interessante Sache. Sie sprechen davon, dass sie eine parlamentarische republikanische demokratische Ordnung wollen, einen zivilen Staat mit religiösem Referenzrahmen. – Und das ist natürlich eine äußerst interessante Formel, die für viele Interpretationen Raum lässt. Aber im Prinzip ist es zunächst mal die Bejahung einer Ordnung, die man durchaus als demokratisch anerkennen kann. Und ich finde, das muss man zunächst mal überhaupt zur Kenntnis nehmen, bevor man sich wieder große Gedanken macht, ob das im Islam überhaupt geht oder nicht. Ganz offenkundig geht es.
Claus Leggewie: Ist das so eine Perspektive wie, sagen wir, die Christdemokratie 1957? Oder ist das eine Perspektive wie die AK-Partei in der Türkei, die islamistische Wurzeln hat, aber sich eben doch sehr stark auch dem Laizismus und vor allem Säkularismus sozusagen angenähert hat und die sozusagen dieses islamische Element einbringt?
Gudrun Krämer: Also, ich würde sagen, der Vergleich mit der vorherrschenden Stimmung etwa in der Bundesrepublik der 50er und 60er-Jahre passt wahrscheinlich ganz gut. Die Türkei wird ja im Moment sehr stark als Vorbild besprochen. Da, denke ich, muss man immer eines vor Augen haben: Die Türkei war bis vor kurzem, ist es auch jetzt mal ein ausgesprochen nationalistischer Staat, in dem bis vor kurzem das Militär eine Rolle gespielt hat, das ich nicht als vorbildlich oder eine Weise, die ich nicht als vorbildlich betrachten kann. Und deswegen, finde ich, muss man sich auch zurückhalten.
Was die religiöse Partei angeht, hat sie in der Tat einen unglaublich interessanten Weg hinter sich gelegt, aber im türkischen System. Und der ägyptische Weg würde nicht der türkische sein.
Stefan Weidner: Also, man muss ja sowieso unterscheiden zwischen einerseits dem Diskurs und dem, was gesellschaftlich möglich ist. Aber stellen fest, dass auch die islamischen Parteien, sogar im Iran, teilweise haben den Demokratiediskurs, den Rechtsstaatlichkeitsdiskurs, den Diskurs über Good Governance usw. übernommen. Und das alles ist natürlich nicht identisch mit der Demokratie, aber es ist ein wichtiger Faktor.
Also, in dem Moment, wo ich diesen Diskurs übernehme, wo ich sage, ich will die Demokratie, in dem Moment öffne ich Tür und Tor für all das, was Frau Krämer jetzt in ihrem Buch beschreibt und was tatsächlich auch auf den Straßen die Protestierenden eingefordert haben. Ich glaube, das ist sehr, sehr wichtig.
Und dann muss man sich auch von der Vorstellung verabschieden, dass Demokratien also dass wir in der arabischen Welt – das wäre ja naiv zu glauben – so eine Entwicklung haben wie in den letzten 20 Jahren in Osteuropa. Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ich stelle mir eher so etwas vor wie in Lateinamerika beispielsweise oder in der UdSSR. Also, uns fehlen schon die materiellen Voraussetzungen dafür. Die Demokratien Osteuropa, wir sehen, auch in Ungarn ist sie auf der Kippe, wir wissen nicht genau, wie es in Serbien weitergeht, wir erleben das griechische Beispiel. Also, das alles ist entstanden mit massiver materieller Unterstützung. Eine solche Unterstützung wird keines der arabischen Regime bekommen, obwohl viele der Araber natürlich sehr, sehr reich sind. Also, Libyen ist ein reiches Land und natürlich die Golfstaaten, aber die haben schon aus politischen Gründen kein Interesse daran, eine echte Demokratie zu fördern. Das hatten sie schon vorher nicht. Und sie haben den Wahabismus und sozusagen die ganzen antidemokratischen Bewegungen gefördert.
Ich denke, da müssen wir realistisch sein.
Claus Leggewie: Es gibt uns mal die Gelegenheit, das zweite Buch etwas näher anzuschauen Alaa al-Aswani hat ein Buch geschrieben "Im Land Ägypten". Das ist eine Sammlung von Zeitungskommentaren. Die geht, glaub ich, im November 2009 los und geht bis zum Oktober 2010. Und der letzte Satz das Ceterum Censeo, was immer wieder kommt: "Demokratie ist die Lösung."
Herr Weidner, sagen Sie uns ein bisschen was über dieses schöne Buch.
Stefan Weidner: Also, erst mal zu Alaa al-Aswani: Alaa al-Aswani ist ein Zahnarzt, ein Zahnarzt, der eine literarische Begabung hat und irgendwann angefangen hat zu schreiben und zwei absolute Bestseller geschrieben hat, beide auf Deutsch übersetzt, "Der Jakubijan Bau" und "Chicago". "Der Jakubijan Bau" . Und dies ist ein Buch, was ein Panorama der ägyptischen Gesellschaft bietet und gleichzeitig extrem regimekritisch ist. Wir finden da, das Buch ist, glaub ich, 2004 oder 2005 erschienen, wir finden da eine Karikatur von Präsident Mubarak und dem ganzen politischen Regime, inklusive einer Darstellung der islamistischen Bewegungen, die sozusagen ganz klar auch als Reaktion auf dieses Regime geschildert werden, wo man sich fragt: Wie ist es möglich, dass ein solches Buch in Ägypten erscheinen konnte.
Und dasselbe gilt für die Leitartikel, die al-Aswani in den letzten fünf, sechs Jahren geschrieben hat eine große neue Zeitung, in dem er schonungslos das Regime attackiert, einzelne Vorfälle aufgreift, junge Männer, die auf der Straße Mädchen überfallen, sich zusammenrotten, was er ganz klar auf die soziale Situation zuführt, eine Demonstration, aus der Frauen brutal herausgegriffen werden von einem General, niedergemacht, getreten werden usw., wo er ganz klar sagt, so ist das, wo die Arbeitsministerin angegriffen wird, weil sie der Frau von Mubarak die Hand küsst, was eine Geste ist, die man sich einfach nicht zuschulden kommen lässt, wenn man seine Würde bewahren will.
Und all das ist so klar und so schonungslos formuliert schon vor dem Jahr 2011, dass man sich fragt, wie es möglich sein kann, dass das Regime das geduldet hat.
Im Oktober 2010, da war weder in Tunesien noch in Ägypten von den Revolutionen irgendetwas zu sehen, schreibt er nicht nur, wie immer, "Demokratie ist die Lösung", sondern auch "Ägypten hat sich erhoben und niemand, wer auch immer es sei, kann sich ihm auf dem Weg in die Zukunft entgegenstellen". Und das ist schon verblüffend, wenn man das jetzt liest.
Claus Leggewie: Das ist ja ohnehin nicht vom Himmel gefallen. Also, 2005, erinnere ich mich, gab's eh schon eine nicht so große und breite Bewegung, aber es gab eine Bewegung, die gesagt hat, genug. Weil wir immer den Islam so homogen anschauen: Wo waren sozusagen die Wurzeln dieser Demokratiebewegung, die hier im Alltag geschildert wird und die viele für so unwahrscheinlich gehalten haben? Woher kommt's.
Gudrun Krämer: Die Missstände waren den meisten Menschen in den Ländern ja seit Langem bewusst, und zwar in ihrem politischen Zusammenhang. Ich glaube, das ist so wichtig. Weil, hier wird immer wieder gesagt, ja, wir reden jetzt von Demokratie und von Freiheit, aber ein Wirklichkeit wollen doch die alle nur einen Arbeitsplatz oder sie wollen bessere Löhne haben oder zu essen. – Ja, natürlich wollen sie einen Arbeitsplatz und bessere Löhne und etwas zu essen, aber sehr viele der Leute, die betroffen sind, und zwar nicht nur Intellektuelle, wissen, was Politökonomie ist, ohne das Wort zu kennen. Sie wissen, dass sie in einem korrupten, klientelistischen System keinen Arbeitsplatz und keine vernünftige Stelle und keine lebenswerten Bedingungen bekommen und dass sie also das politische System angehen müssen, um auch ökonomisch voranzukommen. Das macht ja Alaa al-Aswani in seinen Aufsätzen, auch mit seinen Artikeln ganz, ganz deutlich. Und damit steht er nicht alleine.
Und das Phänomenale an der Situation, Sie haben es angesprochen, ist, dass diese Kritik auch seit vielen Jahren schon formuliert worden ist. Seit vielen Jahren gibt es in der ägyptischen Presse Berichte über die Folter in ägyptischen Polizeistationen – mit Bildern. Da werden die Polizeioffiziere abgebildet mit Namen und Titeln, die das gemacht haben. Was immer tabu war, war einerseits die Person des Präsidenten, dann die Armee, und auch da hält er sich noch zurück, das ist wahrscheinlich die rote Linie, er hält sich nicht völlig zurück. Und dann die Religion: Da ist er nun nicht zimperlich.
Und ich glaube, man muss einfach wissen, dass dieses System es über lange Jahre geschafft hat, bestimmte Formen auch der beißenden Kritik zuzulassen, solange sie sich nicht in organisierte Opposition übersetzt hat. Erst in der letzten Zeit wurden dann selbst Intellektuelle oder junge Leute, die in Internet-Cafés gingen, regelrecht bedroht, zusammengeschlagen – der berüchtigte Fall des Bloggers, der totgeschlagen wurde, ist ein Beispiel dafür. Davor haben wir über lange Jahre diese Art der Kritik gehabt. Und er nimmt wirklich kein Blatt vor den Mund.
Was den Präsidenten selber angeht, wie gesagt, auch noch vorsichtig, aber seine Entourage wird nicht geschont. Und wozu er, finde ich, in einer wunderbaren Weise auch Stellung nimmt, ist, ja, dieser Umgang mit Frauen, die hier als Körper dargestellt werden, die sich verhüllen müssen, provozierend sind, wenn sie es nicht tun, und denen sich so viel der Frustration, vor allen Dingen der jungen Männer fest macht.
Es gibt dann Dinge, die ich kritisch sehen würde, zum Beispiel seinen ausgesprochen ägyptischen Chauvinismus. Ägypten ist die Mutter aller arabischen Beglückungen und alles haben wir als erste gemacht und besser gemacht. Und vieles von dem, was böse ist, kommt von außen, zum Beispiel durch den Wahabismus und die Saudis. Das ist eine Darstellung, die man in Ägypten immer wieder findet. Aber das muss man ja nun nicht zu sehr in den Mittelpunkt rücken. Es ist ein mutiger Mann mit klarem Blick, der vielleicht schärfer und prägnanter und einprägsamer Punkte formuliert hat, die sehr viele andere auch gespürt haben und zum Teil auch vorgetragen haben.
Und von daher ist das Buch wichtig. Und, man darf es fast nicht sagen, es liest sich sehr gut – bei allem Schrecklichen, das sich in ihm findet.
Claus Leggewie: Herr Weidner, da ist ja auch die Rede vom Fußball, dass Ägypten besser als Algerien ist. Das lassen wir jetzt mal dahingestellt. Gehen wir doch noch mal in ein anderes Land, das im Moment sehr en vogue ist, wo viele sich Sorgen machen, wie es weitergeht, Syrien. Da wird ja häufig von einem Dominoeffekt gesprochen. Man darf nicht übersehen, wie unterschiedlich die Regime sind.
Wir wollen jetzt nicht sagen, wie es in Syrien ausgeht, aber wir wollen vielleicht die Frage stellen, wie die Situation im Blick auf Islam und Demokratie oder Demokratie im Islam in diesem Land sein könnte, wo die Perspektiven für einen glücklicheren Ausgang auch in Syrien wären.
Stefan Weidner: Also, an einen glücklichen Ausgang glaube ich in Syrien derzeit überhaupt nicht. Das Regime hat noch zu viele Anhänger oder kann sich auf zu viele Vasallen stützen. Und es scheint bereit, mit absoluter Brutalität nicht nur vorzugehen, sondern auch die Differenzen in den Bevölkerungsgruppen auszuspielen und dabei besonders die Situation der Christen und der anderen Minderheiten – Kurden und der Aleviten, also der schiitischen Minderheit in Syrien – auszunutzen und gegeneinander auszuspielen, mit dem Ergebnis, dass – wenn das Regime tatsächlich wanken sollte, also, wenn es militärisch die Kontrolle verliert, politisch über bestimmte Gegenden zumindest – dass dann ein offener Bürgerkrieg ausbricht und man sich nicht scheuen wird, wirklich auch ja meinetwegen Christen anzugreifen und das den Muslim-Brüdern in die Schuhe zu schieben, die natürlich eine Rolle spielen in Syrien, lange unterdrückt, jetzt sozusagen Oberwasser gewinnend und sich sozusagen einspeisend in diesen großen Strom der politischen Opposition, die sich zu formieren sucht im Inland und im Ausland.
Also, die These, also, diese Diskussion über Islam und Demokratie jetzt am syrischen Beispiel zu führen, ist für mich einerseits zu früh. Und sie stellt auch erstmal die falschen Fragen. Man kann nur sagen, das Regime muss weg und dann kann man sehen, was daraus wird. Dann kann man diese Frage stellen. Vorher wäre es sozusagen ein Spiel, das dem Regime nur in die Hand arbeitet, das definitiv undemokratisch ist, das sozusagen von der Bildfläche weggefegt gehört, egal, was danach kommt – ist jedenfalls meine Meinung.
Claus Leggewie: Frau Krämer, was können wir tun, außer solche Sendungen produzieren von Europa aus, um das zu unterstützen, was da abläuft? Können wir überhaupt was machen? Tun wir das Richtige? Was wir alles falsch gemacht haben, brauchen wir gar nicht mehr erwähnen.
Gudrun Krämer: Ja, die Maßnahmen sind an sich bekannt, die man ergreifen müsste. Sie wären vielfach ganz konkreter Art: Zum Beispiel Marktöffnung in der europäischen Union, um die lokale Wirtschaft zu fördern und die Arbeitsplätze zu schaffen, die nun tatsächlich gebraucht werden, Öffnung unserer Gesellschaften für Migranten, nicht nur Migranten, Studierende, Wissenschaftler, Künstler und sonstige Leute, die uns besuchen wollen, ohne unsere Gesellschaft zersetzen zu wollen. Und da sind die Schranken ja immer noch sehr hoch. Das ist auch eine sehr greifbare Maßnahme, die man ergreifen kann.
Selbstverständlich würde dazu gehören, auch sonst den demokratisch legitimierten, hoffentlich bald ins Amt kommenden Regierungen beizustehen in einer Form, die die selber möchten, die sie sich selber wünschen. Und dann gibt es noch Dinge, die man unterlassen sollte. Zum Beispiel steht es sich ja nun eklatant im Wege, auf der einen Seite von einer Unterstützung der Demokratiebewegung in Nordafrika zu sprechen und andererseits Waffen nach Saudi Arabien zu liefern, die, wie wir wissen, auch der Unterdrückung des kritischen Potenzials im eigenen Lande dienen und mit denen in Bahrain eine Bürgerrechtsbewegung niedergeschlagen wurde, die keineswegs auf die Einrichtung einer islamischen Republik nach iranischem Vorbild abzielte.
Also, wir wüssten an sich, was zu tun ist, und wissen alle, dass es da Ziel- und Mittelkonflikte gibt, aber wer Augen hat, zu sehen, der kann schon sehen.
Claus Leggewie: Zur Übung dieser Sendung gehört, dass wir am Schluss noch einen kurzen Literaturtipp für unsere Hörerinnen und Hörer machen. Herr Weidner, was haben Sie vorzuschlagen?
Stefan Weidner: Ich habe vorzuschlagen eine historische Vertiefung unseres Themas. Wir sind ja sehr an der Aktualität. Und es gibt ein für mich sehr spannendes Buch von Thomas Bauer, "Kultur der Ambiguität", im Verlag der Weltreligionen erschienen, ein großer 400-seitiger Essay, der sozusagen die Geschichte des Islams, die Geistesgeschichte des Islams aufarbeitet mit der These, dass der Islam traditionell eine große nicht nur Toleranz, sondern, wie Thomas Bauer eben sagt, Ambiguität, entwickelt hat, das heißt, die Fähigkeit, verschiedene Lebensentwürfe oder Deutungen, sei es von Texten, sei es, wie gesagt, von Lebensentwürfen usw. zu dulden und dies zu kultivieren, so sehr, dass wir, wie gesagt, einerseits den Theologen haben, der meinetwegen die Homosexualität und das Weintrinken verdammt und andererseits aber wieder die Dichter, die beides loben. Und beide konnten eigentlich nebeneinander in derselben Moschee beten – so ungefähr.
Und dass diese Kultur der Ambiguität im Laufe der Zeit, vor allen Dingen auch in der Begegnung mit dem Westen, mit der Kolonialmacht aus dem Westen, Schwierigkeiten hatte, sich selbst zu rechtfertigen – der Westen hatte gerade in viktorianischer Zeit im 19. Jahrhundert ein sehr monothematisches und sozusagen monotheistisches Weltbild, das sich auf eine Deutung fixiert hat und mit dieser Ambiguität, mit dieser Vielfalt nichts anfangen konnte, und hat den Islam unter Druck gesetzt, er möge doch jetzt auch sich mal entscheiden, was er eigentlich wolle. Ja, also, entweder ausschweifend oder eben streng.
Und die Muslime haben sich natürlich gedacht, na ja, das Ausschweifen, das steht nicht hoch im Kurs. Wenn wir uns in der Welt ein bisschen Geltung verschaffen wollen, dann sind wir umso strenger, und sozusagen, um das mal zu verkürzen und ein bisschen zu parodieren, wir erfinden den Wahabismus, der das Ganze eng führt zu einem strengen fundamentalistischen Islam.
Claus Leggewie: … und beenden die Ambiguität
Stefan Weidner: ..und beenden damit die Ambiguität und die Vielfalt im Islam. Und das ist definitiv auch, nicht nur, aber auch unter westlichem Einfluss tatsächlich, denke ich, so geschehen. Und Thomas Bauer arbeitet diese Geschichte ganz spannend auf und sagt am Ende, na ja, das was die die Meinungsfreiheit und sozusagen die Vielfalt, die die westlichen Gesellschaften heute haben, ist eigentlich ein Produkt von 1968 und den Folgen. Und vorher war der Westen ganz anders, nämlich so, wie wir uns heute den Islam schrecklicherweise vorstellen.
Claus Leggewie: Frau Krämer, Sie haben auch noch einen Buchtipp – möglichst kompakt.
Gudrun Krämer: Mein Buchtipp hat nicht so viel mit dem Islam zu tun. Es ist ein Buch von Toby Lester. Es heißt "Der vierte Kontinent. Wie eine Karte die Welt veränderte" und ist die Geschichte einer Weltkarte, die 1507 von dem Elsässer Humanisten und Kleriker Martin Waldseemüller mit anderen hergestellt wurde und auf der zum ersten Mal Amerika mit diesem Namen verzeichnet ist.
Das ist eine, finde ich, wunderbare Kulturgeschichte, die weit zurückgreift bis in die Antike und zu tun hat mit dieser Verbildlichung von Welt, mit Weltbildern. Wie stellen sich Menschen die Welt vor? Räumt zum Beispiel mit der Vorstellung nochmals aus und auf, im Mittelalter hätten die Leute gedacht, die Welt sei eine Scheibe. Nein, sie wussten mehrheitlich, dass die Erde rund ist, aber sie haben sie nicht rund zeichnen können. Also, es ist eine, finde ich, wunderbare Geschichte, in der auch der Islam eine Rolle spielt, aber gar nicht primär.
Ich habe es zwar immer noch nicht geschafft, das Buch ganz bis zu Ende zu lesen, aber ich bin dran.
Claus Leggewie: Weihnachten naht. Das war Lesart Spezial, Deutschlandradio Kultur mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, der Buchhandlung "Proust", dem Schauspiel Essen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag.
Draußen sind die Blätter gefallen. Wir haben einen goldenen Herbst erlebt. Unsere Thematik heute ist der arabische Herbst. Wir haben im Frühjahr dieses Jahres, das schon im Januar begann, den sprichwörtlichen arabischen Frühling erlebt, eine arabische Demokratiebewegung, mit der die wenigsten in dieser Wucht gerechnet haben, die sehr viel Hoffnung gemacht hat. Wenn wir die Sendung "Der arabische Herbst" nennen, dann meinen wir nicht, dass diese Bewegung zu Ende ist, aber wir kümmern uns – frei nach Brecht – jetzt um die Mühen der Ebenen, nachdem die Mühen der Gipfel im Frühjahr erklommen wurden, und wollen uns insbesondere mit der Thematik befassen, inwiefern im Islam eine demokratische Bewegung entsteht, ob sie dauerhaft sein kann, wie am Ende vielleicht eine Demokratie in der islamischen Welt aussehen könnte.
Dazu habe ich zwei Gäste, die kompetenter kaum sein könnten, die nicht nur über den Islam und die islamische Welt reden, wie wir das sehr häufig tun, sondern die die Region sehr gut kennen aus langjähriger Erfahrung, aus vielen Reisen, aus vielen wissenschaftlichen Untersuchungen, die auch die Sprache sprechen, die in dieser Region gesprochen wird, die die Tradition dieser Region kennen, die die Geschichte kennen und die von den Islamen, wie ich es gleich nennen möchte, sehr viel verstehen.
Zunächst Gudrun Krämer: Gudrun Krämer ist Professorin am Institut für Islamwissenschaft an der Freien Uni Berlin. Sie ist seit Jahren in der islamwissenschaftlichen Forschung tätig hier in Deutschland, international. Und sie hat gerade ein neues Buch vorgelegt. Das heißt "Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt". Schönen guten Tag, Frau Krämer.
Gudrun Krämer: Guten Tag.
Claus Leggewie: Dann habe ich hier zu meiner Linken Stefan Weidner. Stefan Weidner kennt die Region ebenso gut. Er ist Autor, Übersetzer, Chefredakteur der Zeitschrift "Fikrun wa Fann" und hat auch ein neues Buch zum Thema geschrieben, "Aufbruch in die Vernunft" über Islamdebatten, das soeben beim Dietz Verlag erschienen ist. Und er wird uns ein zweites Buch heute vorstellen: Alaa al-Aswani "Im Land Ägypten". Schönen guten Tag, Herr Weidner.
Stefan Weidner: Guten Abend.
Claus Leggewie: Frau Krämer, wann waren Sie zum ersten Mal in Ägypten?
Gudrun Krämer: 1973.
Claus Leggewie: Wie kam's? Was war das Interesse? Was hat Sie seither immer wieder nach Ägypten verschlagen? Was ist das wissenschaftliche Interesse, vielleicht die Faszination? Was ist der Grund, dass Sie gerade dieses Land so intensiv kennen gelernt haben?
Gudrun Krämer: Als ich noch in der Schule war, wollte ich Ägyptologin werden. Ich war fasziniert vom alten Ägypten, vom pharaonischen Ägypten, habe dann schon mal angefangen Arabisch zu lernen, Volkshochschule, Privatstudium, was etwas schwierig ist, und habe mich dann entschlossen, statt der – ja, wenn ich es so sagen darf – doch toten Kultur der Pharaonen, so sehr sie mich immer noch interessiert, die lebendige Kultur des Islam zu studieren, verbunden mit dem Studium der Geschichte. Und da lag's natürlich nahe, auch in das Land meiner Begierden und Träume zu reisen. Das hab ich dann immer wieder wiederholt. Und ja, Sie haben es gesagt, viele Jahre sind seitdem vergangen, fast zu viele schon.
Claus Leggewie: Wie geht's weiter in Ägypten?
Gudrun Krämer: Das weiß ich auch nicht. Wir sehen alle, dass auf der einen Seite die Bewegung, wenn man von ihr sprechen will, eigentlich ungebrochen ist, nach wie vor Menschen, in den Städten vor allem, sich mobilisieren lassen, um gegen das zu demonstrieren, was immer noch die Missstände sind, die Tatsache, dass das Militär nun, gestützt doch auf starke Kräfte des alten Regimes, sich an die Macht krallt, dagegen vorgehen, immer noch ankämpfen. Und das gibt einem natürlich Mut. Das gibt sicherlich auch den Leuten selber Mut. Und gleichzeitig sieht jeder die Widerstände, nicht nur die Vertreter des alten Regimes, sondern auch die ganzen ökonomischen, sozialen Schwierigkeiten, die sich auftun. Aber ich habe als Außenstehende die Hoffnung keineswegs aufgegeben.
Claus Leggewie: Und behauptet wird, dass eher eine säkulare, urbane, zivile, auch sehr junge Bewegung diese Revolution gemacht hat und die Muslim-Brüder davon profitieren werden.
Gudrun Krämer: Ja, das ist eine Zweiteilung der ägyptischen Gesellschaft, die gerne vorgenommen wird, weil in der Tat auf dem Tahrir- Platz und an anderen Orten junge Menschen aufgestanden sind, die überhaupt nicht mit religiösen Formeln argumentiert haben, die tatsächlich nach Freiheit gerufen haben, nach Mitbestimmung, nach einem Leben in Würde und Anstand.
Das heißt aber nicht, dass die Muslim-Brüder und andere islamische Kräfte völlig abwesend gewesen wären. Und das heißt auch nicht, dass diejenigen, die diese Bewegung mitgetragen haben, sich alle von der Religion abgewandt hätten. Ich würde schon davon ausgehen, dass – wenn es darum geht, die nachrevolutionäre Ordnung zu gestalten – der Islam auf jeden Fall eine wichtige Rolle spielt. Man sieht das bei der Diskussion über eine Verfassung. Da wird der Verweis auf den Islam nach wie vor als grundlegend gehandelt. Und ich glaube, dass der erhalten bleiben wird.
Also, es ist – glaube ich – nicht so, dass man sagen muss, dass die Muslim-Brüder den säkularen jungen Leuten die Revolution stehlen, wie es gerne mal dargestellt wird.
Claus Leggewie: Frau Krämer hat ein Buch "Demokratie im Islam" vorliegen, in das sehr lange Forschung eingeflossen ist, das gleichzeitig ein sehr lesbares, sehr gut lesbares wissenschaftliches Sachbuch ist. Es hat acht Kapitel, in denen es vor allen Dingen um die Frage geht, inwiefern es einen islamischen Staat, eine islamische Demokratie geben kann. Herr Weidner, wie haben Sie das Buch gelesen?
Stefan Weidner: Ich kenne viele der Aufsätze schon aus früheren Publikationen und habe mich eigentlich gefreut, dass ich das hier gesammelt gesehen habe, weil das natürlich Publikationen waren eher für den Fachmann. Und wenn man so zusammen liest, scheint es mir eine sehr schlüssige abgerundete Fassung oder Auseinandersetzung und auch sehr differenziert mit der Frage, was Islam und Demokratie denn nun miteinander gemein haben oder auch nicht.
Dabei wird ganz schnell klar, dass es eben nicht, wie es in der oberflächlichen Diskussion bei uns so scheint, zwei gegensätzliche Begrifflichkeiten sind. Damit spielt ja so ein bisschen auch der Titel – "Demokratie im Islam". Da kommt natürlich sofort die Frage: Geht das überhaupt? Und dann merkt man, das Ganze ist kein absoluter Gegensatz wie Schwarz und Weiß. Es sind nicht zwei Kontrastfarben, die da aufeinanderprallen, sondern es sind zwei Konzepte, die sich überhaupt nicht ausschließen, sondern die sich einfach, wie viele andere Konzepte, auch aneinander reiben, die gegeneinander abgewogen werden müssen und wo das eine osmotisch in das andere übergeht. Diese ganzen Diskussionen werden ganz gut geschildert. Und dabei wird klar, wie gesagt, Islam und Demokratie ist kein klarer Gegensatz. Es ist eine.. Das Ganze befindet sich in der Diskussion. Und diese Diskussion kann eigentlich nur profitieren davon, dass man halbwegs oder zunehmend demokratische Verhältnisse hat, freie Meinungsäußerung usw. dies, rechtsstaatliche Verhältnisse auch, die die Diskussion auf eine legale Grundlage stellen. Denn vorher wurden diese ganzen Diskussionen, so habe ich es zumindest wahrgenommen, über den Islam und über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie teilweise unterdrückt oder in sehr bestimmte Richtungen gedrängt durch die despotischen Regime in der islamischen Welt.
Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, Frau Krämer.
Gudrun Krämer: Ja, natürlich. Wenn Sie solche grundlegenden Debatten in einem repressiven Klima führen müssen, dann schauen Sie sich gewissermaßen immer um, bevor Sie etwas sagen und verkleiden vieles von dem, was Sie sagen wollen, sei es, indem Sie verschleiern, was Sie wirklich wollen, oder indem Sie es gefällig darbieten oder harmlos. Von daher hoffe ich auch, dass durch ein offeneres Klima das positive Potenzial der ganzen Diskussion noch besser zum Tragen kommt und auch die Reibungen noch deutlicher werden. Denn die sind natürlich da.
Ich habe es ja mit Absicht nicht Islam und Demokratie genannt, sondern Demokratie im Islam, und dabei etwas offen gelassen, wer dieser Islam nun eigentlich ist, ob das nun ein abstraktes Gebäude von Lehren ist oder das – und dazu neige ich selber stark –, was Muslime für Islam halten, was sie für richtig halten und was sie praktizieren. Und da kann man natürlich dann schon fragen, wie ein gläubiger Muslim, eine gläubige Muslimin mit dem Thema Demokratie, Menschenrecht, Rechtsstaatlichkeit, Partizipation umgeht, sodass sie oder er es für islamisch legitim halten. Das ist eigentlich das, was mich wirklich interessiert.
Claus Leggewie: Und Sie zeigen, deshalb habe ich von den Islamen gesprochen im Plural, Sie zeigen durchaus, wie differenziert, wie pluralistisch die Debatte ist. Und gleichzeitig zeigen Sie, wo sozusagen am Ende, was auch immer das Ergebnis einer offenen Diskussion ist, sich die islamische Demokratie von einer liberalen Demokratie im Westen auch unterscheiden wird. Könnten Sie die Punkte noch mal in Erinnerung rufen?
Gudrun Krämer: Also, ich würde sagen, wenn im heutigen Ägypten oder auch Tunesien oder Syrien eine islamische Demokratie eingerichtet würde, dann würde wohl, was die politischen Institutionen angeht, wenig auffallen. Es würde Wahlen geben, Männer und Frauen hätten das Wahlrecht. Es gäbe einen Wechsel in bestimmten Abständen. Es gäbe ein Verfassungsgericht, vielleicht ein Zweikammerparlament und Ähnliches mehr. Aber ich denke, dass im augenblicklichen geistigen Klima es keine liberale Demokratie wäre, in der also Grundsätze eines liberalen Verständnisses auf allen Feldern durchgesetzt werden, zum Beispiel zugestanden wird, dass jeder das Recht hat, auch sexuell, in seiner ganzen Lebensführung so zu leben, wie er oder sie das für richtig hält, oder künstlerische und wissenschaftliche Freiheit ganz unbeschnitten wäre.
Ich denke, dass eine viel eingeengtere Fassung von Freiheit zunächst mal zur Geltung kommen würde, übrigens eine, die lang genug – ich muss das doch in diesem Zusammenhang sagen – die lang genug auch in westeuropäischen Gesellschaften gängig war. Es ist ja nun wirklich noch nicht so lange her, dass wir ganz laut bejahen, dass jeder Mensch das Recht hat, im Wesentlichen sein Leben doch so zu gestalten und zu führen, wie er oder sie das gerne hätte. Also, gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind ja noch nicht so lange her als legitim und legal anerkannt. Und die uneingeschränkte Wissenschaftsfreiheit ist auch nicht jedermanns Sache.
Also, ich würde insofern zwischen einem demokratischen politischen System auf der einen Seite unterscheiden und einem liberalen Gemeinwesen, was bestimmte Grundwerte angeht.
Stefan Weidner: Ich weiß gar nicht. Das ist eine interessante These. Aber natürlich muss man einerseits sagen, dass Demokratie nicht identisch ist mit unserer Gesellschaftsform und unserer Lebensart. Also, ich glaube, da muss man sehr vorsichtig sein. Und wenn man redet von einer islamischen Demokratie, muss man sehr aufpassen, ob das nicht irgendwie dann doch abwertend gemeint ist. Also, sozusagen Demokratie mit so ein paar in Anführungszeichen. Ich glaube, das muss nicht der Fall sein.
Und was die Frage, das ist eine sehr interessante Frage, was künstlerische Freiheit, Gedankenfreiheit, Freiheit der Lebensführung und so was angeht, da müssen wir einerseits feststellen, dass ich glaube, dass eine totale Kontrolle über die Gesellschaft – also, das würde ja implizieren, dass eine Regierung oder eine Gesellschaft oder eine Mehrheit, die demokratisch repräsentativ gewählt ist, eine mehr oder weniger totale Kontrolle über eine Gesellschaft ausübt. Nur dann können ja die Freiheitsrechte entsprechend eingeschränkt sein.
Ich glaube erstmal, dass in einer modernen Gesellschaft eine solche totale Kontrolle überhaupt nicht möglich ist. Saudi Arabien, das Homosexualität streng bestraft, sie wird aber exzessiv praktiziert zum Beispiel. Also, das ist schon mal gar nicht möglich. Dann fragt man sich natürlich auch, wie weit ist bei uns eine solche Kontrolle nicht durch die Hintertür dann doch wieder da, Stichwort Internet. Sodass ich also sagen würde, na ja, vielleicht kann aber doch dann ein Schriftsteller in der Regel alles schreiben, was er will. Es kann aber natürlich trotzdem sein, dass irgendwelche Islamisten dann mal ein Kino attackieren, wo ein Film läuft, der ihnen jetzt nicht genehm ist, und die Staatsmacht dann nicht auf diese Weise einschreitet, wie wir uns das wünschen würden. Das ist natürlich immer möglich. Aber, wie gesagt, Frage dann auch wieder: Ist bei uns so was völlig ausgeschlossen?
Gudrun Krämer: Aber wenn ich das sagen darf, es geht ja nicht darum, ob jetzt eine Gesellschaft total kontrolliert werden könnte. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen – nirgendwo auf der Welt. Aber es macht doch einen Unterschied, ob etwas von Rechts wegen als legitim anerkannt ist oder ob Sie das mehr oder weniger im Verborgenen tun und darauf hoffen, dass es keiner merkt – nach viktorianischer Moral. Was ich zu Hause mache, my home is my castle, geht niemanden was an, das wird ja selbst in Saudi Arabien praktiziert.
Es geht doch darum: Was darf im öffentlichen Raum gemacht und gesagt werden, ohne dass man dafür bestraft werden kann? Und da, denke ich, wird es gewisse Unterschiede geben. Und wenn Sie sich anhören, was zum Beispiel in Ägypten von den Muslim-Brüdern heute gefordert wird, dann ist das eine ganz interessante Sache. Sie sprechen davon, dass sie eine parlamentarische republikanische demokratische Ordnung wollen, einen zivilen Staat mit religiösem Referenzrahmen. – Und das ist natürlich eine äußerst interessante Formel, die für viele Interpretationen Raum lässt. Aber im Prinzip ist es zunächst mal die Bejahung einer Ordnung, die man durchaus als demokratisch anerkennen kann. Und ich finde, das muss man zunächst mal überhaupt zur Kenntnis nehmen, bevor man sich wieder große Gedanken macht, ob das im Islam überhaupt geht oder nicht. Ganz offenkundig geht es.
Claus Leggewie: Ist das so eine Perspektive wie, sagen wir, die Christdemokratie 1957? Oder ist das eine Perspektive wie die AK-Partei in der Türkei, die islamistische Wurzeln hat, aber sich eben doch sehr stark auch dem Laizismus und vor allem Säkularismus sozusagen angenähert hat und die sozusagen dieses islamische Element einbringt?
Gudrun Krämer: Also, ich würde sagen, der Vergleich mit der vorherrschenden Stimmung etwa in der Bundesrepublik der 50er und 60er-Jahre passt wahrscheinlich ganz gut. Die Türkei wird ja im Moment sehr stark als Vorbild besprochen. Da, denke ich, muss man immer eines vor Augen haben: Die Türkei war bis vor kurzem, ist es auch jetzt mal ein ausgesprochen nationalistischer Staat, in dem bis vor kurzem das Militär eine Rolle gespielt hat, das ich nicht als vorbildlich oder eine Weise, die ich nicht als vorbildlich betrachten kann. Und deswegen, finde ich, muss man sich auch zurückhalten.
Was die religiöse Partei angeht, hat sie in der Tat einen unglaublich interessanten Weg hinter sich gelegt, aber im türkischen System. Und der ägyptische Weg würde nicht der türkische sein.
Stefan Weidner: Also, man muss ja sowieso unterscheiden zwischen einerseits dem Diskurs und dem, was gesellschaftlich möglich ist. Aber stellen fest, dass auch die islamischen Parteien, sogar im Iran, teilweise haben den Demokratiediskurs, den Rechtsstaatlichkeitsdiskurs, den Diskurs über Good Governance usw. übernommen. Und das alles ist natürlich nicht identisch mit der Demokratie, aber es ist ein wichtiger Faktor.
Also, in dem Moment, wo ich diesen Diskurs übernehme, wo ich sage, ich will die Demokratie, in dem Moment öffne ich Tür und Tor für all das, was Frau Krämer jetzt in ihrem Buch beschreibt und was tatsächlich auch auf den Straßen die Protestierenden eingefordert haben. Ich glaube, das ist sehr, sehr wichtig.
Und dann muss man sich auch von der Vorstellung verabschieden, dass Demokratien also dass wir in der arabischen Welt – das wäre ja naiv zu glauben – so eine Entwicklung haben wie in den letzten 20 Jahren in Osteuropa. Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ich stelle mir eher so etwas vor wie in Lateinamerika beispielsweise oder in der UdSSR. Also, uns fehlen schon die materiellen Voraussetzungen dafür. Die Demokratien Osteuropa, wir sehen, auch in Ungarn ist sie auf der Kippe, wir wissen nicht genau, wie es in Serbien weitergeht, wir erleben das griechische Beispiel. Also, das alles ist entstanden mit massiver materieller Unterstützung. Eine solche Unterstützung wird keines der arabischen Regime bekommen, obwohl viele der Araber natürlich sehr, sehr reich sind. Also, Libyen ist ein reiches Land und natürlich die Golfstaaten, aber die haben schon aus politischen Gründen kein Interesse daran, eine echte Demokratie zu fördern. Das hatten sie schon vorher nicht. Und sie haben den Wahabismus und sozusagen die ganzen antidemokratischen Bewegungen gefördert.
Ich denke, da müssen wir realistisch sein.
Claus Leggewie: Es gibt uns mal die Gelegenheit, das zweite Buch etwas näher anzuschauen Alaa al-Aswani hat ein Buch geschrieben "Im Land Ägypten". Das ist eine Sammlung von Zeitungskommentaren. Die geht, glaub ich, im November 2009 los und geht bis zum Oktober 2010. Und der letzte Satz das Ceterum Censeo, was immer wieder kommt: "Demokratie ist die Lösung."
Herr Weidner, sagen Sie uns ein bisschen was über dieses schöne Buch.
Stefan Weidner: Also, erst mal zu Alaa al-Aswani: Alaa al-Aswani ist ein Zahnarzt, ein Zahnarzt, der eine literarische Begabung hat und irgendwann angefangen hat zu schreiben und zwei absolute Bestseller geschrieben hat, beide auf Deutsch übersetzt, "Der Jakubijan Bau" und "Chicago". "Der Jakubijan Bau" . Und dies ist ein Buch, was ein Panorama der ägyptischen Gesellschaft bietet und gleichzeitig extrem regimekritisch ist. Wir finden da, das Buch ist, glaub ich, 2004 oder 2005 erschienen, wir finden da eine Karikatur von Präsident Mubarak und dem ganzen politischen Regime, inklusive einer Darstellung der islamistischen Bewegungen, die sozusagen ganz klar auch als Reaktion auf dieses Regime geschildert werden, wo man sich fragt: Wie ist es möglich, dass ein solches Buch in Ägypten erscheinen konnte.
Und dasselbe gilt für die Leitartikel, die al-Aswani in den letzten fünf, sechs Jahren geschrieben hat eine große neue Zeitung, in dem er schonungslos das Regime attackiert, einzelne Vorfälle aufgreift, junge Männer, die auf der Straße Mädchen überfallen, sich zusammenrotten, was er ganz klar auf die soziale Situation zuführt, eine Demonstration, aus der Frauen brutal herausgegriffen werden von einem General, niedergemacht, getreten werden usw., wo er ganz klar sagt, so ist das, wo die Arbeitsministerin angegriffen wird, weil sie der Frau von Mubarak die Hand küsst, was eine Geste ist, die man sich einfach nicht zuschulden kommen lässt, wenn man seine Würde bewahren will.
Und all das ist so klar und so schonungslos formuliert schon vor dem Jahr 2011, dass man sich fragt, wie es möglich sein kann, dass das Regime das geduldet hat.
Im Oktober 2010, da war weder in Tunesien noch in Ägypten von den Revolutionen irgendetwas zu sehen, schreibt er nicht nur, wie immer, "Demokratie ist die Lösung", sondern auch "Ägypten hat sich erhoben und niemand, wer auch immer es sei, kann sich ihm auf dem Weg in die Zukunft entgegenstellen". Und das ist schon verblüffend, wenn man das jetzt liest.
Claus Leggewie: Das ist ja ohnehin nicht vom Himmel gefallen. Also, 2005, erinnere ich mich, gab's eh schon eine nicht so große und breite Bewegung, aber es gab eine Bewegung, die gesagt hat, genug. Weil wir immer den Islam so homogen anschauen: Wo waren sozusagen die Wurzeln dieser Demokratiebewegung, die hier im Alltag geschildert wird und die viele für so unwahrscheinlich gehalten haben? Woher kommt's.
Gudrun Krämer: Die Missstände waren den meisten Menschen in den Ländern ja seit Langem bewusst, und zwar in ihrem politischen Zusammenhang. Ich glaube, das ist so wichtig. Weil, hier wird immer wieder gesagt, ja, wir reden jetzt von Demokratie und von Freiheit, aber ein Wirklichkeit wollen doch die alle nur einen Arbeitsplatz oder sie wollen bessere Löhne haben oder zu essen. – Ja, natürlich wollen sie einen Arbeitsplatz und bessere Löhne und etwas zu essen, aber sehr viele der Leute, die betroffen sind, und zwar nicht nur Intellektuelle, wissen, was Politökonomie ist, ohne das Wort zu kennen. Sie wissen, dass sie in einem korrupten, klientelistischen System keinen Arbeitsplatz und keine vernünftige Stelle und keine lebenswerten Bedingungen bekommen und dass sie also das politische System angehen müssen, um auch ökonomisch voranzukommen. Das macht ja Alaa al-Aswani in seinen Aufsätzen, auch mit seinen Artikeln ganz, ganz deutlich. Und damit steht er nicht alleine.
Und das Phänomenale an der Situation, Sie haben es angesprochen, ist, dass diese Kritik auch seit vielen Jahren schon formuliert worden ist. Seit vielen Jahren gibt es in der ägyptischen Presse Berichte über die Folter in ägyptischen Polizeistationen – mit Bildern. Da werden die Polizeioffiziere abgebildet mit Namen und Titeln, die das gemacht haben. Was immer tabu war, war einerseits die Person des Präsidenten, dann die Armee, und auch da hält er sich noch zurück, das ist wahrscheinlich die rote Linie, er hält sich nicht völlig zurück. Und dann die Religion: Da ist er nun nicht zimperlich.
Und ich glaube, man muss einfach wissen, dass dieses System es über lange Jahre geschafft hat, bestimmte Formen auch der beißenden Kritik zuzulassen, solange sie sich nicht in organisierte Opposition übersetzt hat. Erst in der letzten Zeit wurden dann selbst Intellektuelle oder junge Leute, die in Internet-Cafés gingen, regelrecht bedroht, zusammengeschlagen – der berüchtigte Fall des Bloggers, der totgeschlagen wurde, ist ein Beispiel dafür. Davor haben wir über lange Jahre diese Art der Kritik gehabt. Und er nimmt wirklich kein Blatt vor den Mund.
Was den Präsidenten selber angeht, wie gesagt, auch noch vorsichtig, aber seine Entourage wird nicht geschont. Und wozu er, finde ich, in einer wunderbaren Weise auch Stellung nimmt, ist, ja, dieser Umgang mit Frauen, die hier als Körper dargestellt werden, die sich verhüllen müssen, provozierend sind, wenn sie es nicht tun, und denen sich so viel der Frustration, vor allen Dingen der jungen Männer fest macht.
Es gibt dann Dinge, die ich kritisch sehen würde, zum Beispiel seinen ausgesprochen ägyptischen Chauvinismus. Ägypten ist die Mutter aller arabischen Beglückungen und alles haben wir als erste gemacht und besser gemacht. Und vieles von dem, was böse ist, kommt von außen, zum Beispiel durch den Wahabismus und die Saudis. Das ist eine Darstellung, die man in Ägypten immer wieder findet. Aber das muss man ja nun nicht zu sehr in den Mittelpunkt rücken. Es ist ein mutiger Mann mit klarem Blick, der vielleicht schärfer und prägnanter und einprägsamer Punkte formuliert hat, die sehr viele andere auch gespürt haben und zum Teil auch vorgetragen haben.
Und von daher ist das Buch wichtig. Und, man darf es fast nicht sagen, es liest sich sehr gut – bei allem Schrecklichen, das sich in ihm findet.
Claus Leggewie: Herr Weidner, da ist ja auch die Rede vom Fußball, dass Ägypten besser als Algerien ist. Das lassen wir jetzt mal dahingestellt. Gehen wir doch noch mal in ein anderes Land, das im Moment sehr en vogue ist, wo viele sich Sorgen machen, wie es weitergeht, Syrien. Da wird ja häufig von einem Dominoeffekt gesprochen. Man darf nicht übersehen, wie unterschiedlich die Regime sind.
Wir wollen jetzt nicht sagen, wie es in Syrien ausgeht, aber wir wollen vielleicht die Frage stellen, wie die Situation im Blick auf Islam und Demokratie oder Demokratie im Islam in diesem Land sein könnte, wo die Perspektiven für einen glücklicheren Ausgang auch in Syrien wären.
Stefan Weidner: Also, an einen glücklichen Ausgang glaube ich in Syrien derzeit überhaupt nicht. Das Regime hat noch zu viele Anhänger oder kann sich auf zu viele Vasallen stützen. Und es scheint bereit, mit absoluter Brutalität nicht nur vorzugehen, sondern auch die Differenzen in den Bevölkerungsgruppen auszuspielen und dabei besonders die Situation der Christen und der anderen Minderheiten – Kurden und der Aleviten, also der schiitischen Minderheit in Syrien – auszunutzen und gegeneinander auszuspielen, mit dem Ergebnis, dass – wenn das Regime tatsächlich wanken sollte, also, wenn es militärisch die Kontrolle verliert, politisch über bestimmte Gegenden zumindest – dass dann ein offener Bürgerkrieg ausbricht und man sich nicht scheuen wird, wirklich auch ja meinetwegen Christen anzugreifen und das den Muslim-Brüdern in die Schuhe zu schieben, die natürlich eine Rolle spielen in Syrien, lange unterdrückt, jetzt sozusagen Oberwasser gewinnend und sich sozusagen einspeisend in diesen großen Strom der politischen Opposition, die sich zu formieren sucht im Inland und im Ausland.
Also, die These, also, diese Diskussion über Islam und Demokratie jetzt am syrischen Beispiel zu führen, ist für mich einerseits zu früh. Und sie stellt auch erstmal die falschen Fragen. Man kann nur sagen, das Regime muss weg und dann kann man sehen, was daraus wird. Dann kann man diese Frage stellen. Vorher wäre es sozusagen ein Spiel, das dem Regime nur in die Hand arbeitet, das definitiv undemokratisch ist, das sozusagen von der Bildfläche weggefegt gehört, egal, was danach kommt – ist jedenfalls meine Meinung.
Claus Leggewie: Frau Krämer, was können wir tun, außer solche Sendungen produzieren von Europa aus, um das zu unterstützen, was da abläuft? Können wir überhaupt was machen? Tun wir das Richtige? Was wir alles falsch gemacht haben, brauchen wir gar nicht mehr erwähnen.
Gudrun Krämer: Ja, die Maßnahmen sind an sich bekannt, die man ergreifen müsste. Sie wären vielfach ganz konkreter Art: Zum Beispiel Marktöffnung in der europäischen Union, um die lokale Wirtschaft zu fördern und die Arbeitsplätze zu schaffen, die nun tatsächlich gebraucht werden, Öffnung unserer Gesellschaften für Migranten, nicht nur Migranten, Studierende, Wissenschaftler, Künstler und sonstige Leute, die uns besuchen wollen, ohne unsere Gesellschaft zersetzen zu wollen. Und da sind die Schranken ja immer noch sehr hoch. Das ist auch eine sehr greifbare Maßnahme, die man ergreifen kann.
Selbstverständlich würde dazu gehören, auch sonst den demokratisch legitimierten, hoffentlich bald ins Amt kommenden Regierungen beizustehen in einer Form, die die selber möchten, die sie sich selber wünschen. Und dann gibt es noch Dinge, die man unterlassen sollte. Zum Beispiel steht es sich ja nun eklatant im Wege, auf der einen Seite von einer Unterstützung der Demokratiebewegung in Nordafrika zu sprechen und andererseits Waffen nach Saudi Arabien zu liefern, die, wie wir wissen, auch der Unterdrückung des kritischen Potenzials im eigenen Lande dienen und mit denen in Bahrain eine Bürgerrechtsbewegung niedergeschlagen wurde, die keineswegs auf die Einrichtung einer islamischen Republik nach iranischem Vorbild abzielte.
Also, wir wüssten an sich, was zu tun ist, und wissen alle, dass es da Ziel- und Mittelkonflikte gibt, aber wer Augen hat, zu sehen, der kann schon sehen.
Claus Leggewie: Zur Übung dieser Sendung gehört, dass wir am Schluss noch einen kurzen Literaturtipp für unsere Hörerinnen und Hörer machen. Herr Weidner, was haben Sie vorzuschlagen?
Stefan Weidner: Ich habe vorzuschlagen eine historische Vertiefung unseres Themas. Wir sind ja sehr an der Aktualität. Und es gibt ein für mich sehr spannendes Buch von Thomas Bauer, "Kultur der Ambiguität", im Verlag der Weltreligionen erschienen, ein großer 400-seitiger Essay, der sozusagen die Geschichte des Islams, die Geistesgeschichte des Islams aufarbeitet mit der These, dass der Islam traditionell eine große nicht nur Toleranz, sondern, wie Thomas Bauer eben sagt, Ambiguität, entwickelt hat, das heißt, die Fähigkeit, verschiedene Lebensentwürfe oder Deutungen, sei es von Texten, sei es, wie gesagt, von Lebensentwürfen usw. zu dulden und dies zu kultivieren, so sehr, dass wir, wie gesagt, einerseits den Theologen haben, der meinetwegen die Homosexualität und das Weintrinken verdammt und andererseits aber wieder die Dichter, die beides loben. Und beide konnten eigentlich nebeneinander in derselben Moschee beten – so ungefähr.
Und dass diese Kultur der Ambiguität im Laufe der Zeit, vor allen Dingen auch in der Begegnung mit dem Westen, mit der Kolonialmacht aus dem Westen, Schwierigkeiten hatte, sich selbst zu rechtfertigen – der Westen hatte gerade in viktorianischer Zeit im 19. Jahrhundert ein sehr monothematisches und sozusagen monotheistisches Weltbild, das sich auf eine Deutung fixiert hat und mit dieser Ambiguität, mit dieser Vielfalt nichts anfangen konnte, und hat den Islam unter Druck gesetzt, er möge doch jetzt auch sich mal entscheiden, was er eigentlich wolle. Ja, also, entweder ausschweifend oder eben streng.
Und die Muslime haben sich natürlich gedacht, na ja, das Ausschweifen, das steht nicht hoch im Kurs. Wenn wir uns in der Welt ein bisschen Geltung verschaffen wollen, dann sind wir umso strenger, und sozusagen, um das mal zu verkürzen und ein bisschen zu parodieren, wir erfinden den Wahabismus, der das Ganze eng führt zu einem strengen fundamentalistischen Islam.
Claus Leggewie: … und beenden die Ambiguität
Stefan Weidner: ..und beenden damit die Ambiguität und die Vielfalt im Islam. Und das ist definitiv auch, nicht nur, aber auch unter westlichem Einfluss tatsächlich, denke ich, so geschehen. Und Thomas Bauer arbeitet diese Geschichte ganz spannend auf und sagt am Ende, na ja, das was die die Meinungsfreiheit und sozusagen die Vielfalt, die die westlichen Gesellschaften heute haben, ist eigentlich ein Produkt von 1968 und den Folgen. Und vorher war der Westen ganz anders, nämlich so, wie wir uns heute den Islam schrecklicherweise vorstellen.
Claus Leggewie: Frau Krämer, Sie haben auch noch einen Buchtipp – möglichst kompakt.
Gudrun Krämer: Mein Buchtipp hat nicht so viel mit dem Islam zu tun. Es ist ein Buch von Toby Lester. Es heißt "Der vierte Kontinent. Wie eine Karte die Welt veränderte" und ist die Geschichte einer Weltkarte, die 1507 von dem Elsässer Humanisten und Kleriker Martin Waldseemüller mit anderen hergestellt wurde und auf der zum ersten Mal Amerika mit diesem Namen verzeichnet ist.
Das ist eine, finde ich, wunderbare Kulturgeschichte, die weit zurückgreift bis in die Antike und zu tun hat mit dieser Verbildlichung von Welt, mit Weltbildern. Wie stellen sich Menschen die Welt vor? Räumt zum Beispiel mit der Vorstellung nochmals aus und auf, im Mittelalter hätten die Leute gedacht, die Welt sei eine Scheibe. Nein, sie wussten mehrheitlich, dass die Erde rund ist, aber sie haben sie nicht rund zeichnen können. Also, es ist eine, finde ich, wunderbare Geschichte, in der auch der Islam eine Rolle spielt, aber gar nicht primär.
Ich habe es zwar immer noch nicht geschafft, das Buch ganz bis zu Ende zu lesen, aber ich bin dran.
Claus Leggewie: Weihnachten naht. Das war Lesart Spezial, Deutschlandradio Kultur mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, der Buchhandlung "Proust", dem Schauspiel Essen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag.