Der arme Sacher-Masoch und sein reiches Säkulum

Von Jochen Stöckmann |
Das 19. Jahrhundert erscheint aus der zeitlichen Distanz als eine Epoche der abwechselnden Stile und Moden in Kunst und Architektur. Eine Vortragsreihe an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig soll das viel gescholtene Jahrhundert rehabilitieren helfen anhand von "paradigmatischen Gestalten", wie der Titel heißt. Mit Leopold Sacher-Masoch wurde zugleich eine solche vorgestellt und wegen seiner Vielfalt gewürdigt.
Es war einmal ein Dichter, der hatte viele Bücher geschrieben. So könnte ein Märchen beginnen aus dem seltsam fernen 19. Jahrhundert, jener Zwischenzeit nach der Aufklärung und vor den verheerenden Weltkriegen. Doch die Geschichte verfuhr durchaus nicht märchenhaft mit Leopold Sacher-Masoch, jenem Autor, den Hannes Böhringer als Präsident der Gesellschaft zur Erforschung des 19. Jahrhunderts zu rehabilitieren sucht:

"Der arme Sacher-Masoch ist also auf diese kleine Erzählung 'Venus im Pelz' sozusagen festgenagelt worden und in diesem berühmten Handbuch der 'psychopathia sexualis' von Krafft-Ebing als der Schriftsteller, der das beschreibt, was er dann Masochismus nennt. Und uns ging es darum, die Breite dieses Schriftstellers wieder deutlich zu machen."

Und so hat Böhringer, Professor an der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste, zu einem Vortrag eingeladen, in dem am Beispiel des zeitweiligen Kultautors der ganze Facettenreichtum des 19. Jahrhunderts anschaulich werden soll:

"Sacher-Masoch war auch sozial engagiert, hat sich für die Emanzipation der Frau eingesetzt, hatte überhaupt ein ganz anderes Verständnis für Außenseiter und Randgruppen - und er hat sich auch mit Antisemiten angelegt."

Begraben wurde all dies unter jenem Vorwurf der "Vielschreiberei", gegen den Hannes Böhringer die Autoren des 19. Jahrhunderts in Schutz nimmt:

"Das gilt ja auch für die Wissenschaft - und ist nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen. Wenn Sie daran denken, welche Standardwerke im 19. Jahrhundert von einem einzigen Wissenschaftler geschrieben worden sind, was heute in dieser Qualität höchstens noch Forschergruppen - von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert - zustande bringen, dann muss man doch eine große Hochachtung vor dieser Vielschreiberei haben."

An Büchern herrschte wahrlich kein Mangel, die aufblühende Lithographie sorgte für prächtige Illustrationen, gewichtige Konversationslexika waren Gebrauchsgegenstand, nicht allein Statussymbol. Doch all diese Vorzüge verschwinden hinter Klischees wie dem Verdikt, dass "Sacher-Masoch in der Prosa" denselben Stil repräsentiere "wie Makart in der Malerei" - also Prunk und Pomp, luxuriöses Gepränge und üppige Nacktheit.

Hannes Böhringer: "Zumindest in der bildenden Kunst war es ja so, dass die klassische Moderne das 19. Jahrhundert als Popanz brauchte, um sich davon abstoßen zu können. Indem jetzt auch die klassische Moderne historisch geworden ist, haben wir uns gedacht, können wir das 19. Jahrhundert wieder mit neuen Augen betrachten."

Und dabei werden scheinbar festgefügte Begriffsprägungen in Frage gestellt, geraten scheinbar eindeutige Ereignisse in ein irritierendes Zwielicht. Begonnen hatte das 19. Jahrhundert etwa mit einem gigantischen Kunstraub, mit Napoleons Kunstkommissar Vivant-Denon, der aus aller Herren Länder Schätze in den Louvre schaffte. Statt sich nun aber zu beklagen, pilgerten Kunstfreunde - die sich bei dieser Gelegenheit als durchaus "europäische" Intellektuelle erwiesen - gerne nach Paris:

"Geraubt wurde immer schon. Aber das Interessante ist ja, dass mit der Französischen Revolution das Bewusstsein erwacht, dass die Bürger einer Nation Anrecht haben auf die Besichtigung der Kunst, die von ihren Fürsten gesammelt oder zusammengeraubt worden ist. Das wird als Bürgerrecht empfunden, das ist die Bedeutung des Louvre."

Auch nach Deutschland strahlt diese Tendenz aus. Aber erst mit gehöriger Verspätung wird um 1830 das so genannte Alte Museum auf der Berliner Museumsinsel eröffnet. Dort, wo heute nach der prächtigen Restaurierung das Bode-Museum im Brennpunkt einer Debatte steht um die Neuinterpretation, die Aufwertung des "Wilhelminismus":

"Ich, ehrlich gesagt, kann mich dieser Neubewertung dieser Endzeit des 19. Jahrhunderts nicht richtig anschließen. Wenn ich die Architektur in Berlin, sagen wir mal diese ganzen Schinkel- und Schinkelschüler-Kirchen mit dem neubarocken Dom vergleiche, finde ich das einen schrecklichen Abfall. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass man diesen pompösen Neobarock irgendwie klassizistisch uminterpretieren kann".

Dabei hütet sich Böhringer vor dem Fehler jener Kulturkritiker, die wie im Falle Sacher-Masoch ganze Stilrichtungen - und davon hatte das 19. Jahrhundert die Menge - in Bausch und Bogen verwerfen:

"Es hat natürlich interessante Phänomene im Wilhelminismus gegeben. Wir machen im Herbst eine große Tagung über die Stiftskirche von Königslutter, den so genannten Dom, der von dem damaligen Direktor des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg restauriert und innen ausgemalt worden ist."

Doch nicht nur um Stile und historistische Kostümierungen, um Ideen und Begriffe geht es, auch ganz handfeste Trends des 19. Jahrhunderts stehen auf dem Programm - das sich keineswegs auf Deutschland beschränkt:

"Die Engländer haben die Alpen entdeckt, das Bergsteigen - und den Sport."

Ruppig allerdings geht es in Böhringers 19. Jahrhundert nicht zu, das überlässt er - ganz ohne Weltfluchtanklänge - der Gegenwart:

"Die schrecklich großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, an denen sieht man, mit welcher Vehemenz das 20. Jahrhundert gegen diese bürgerliche Kultur gekämpft hat. Und wir haben auch das Gefühl, jetzt so etwas die Scherben wieder aufzukehren und durch diese Vortragsreihe noch einmal auf so etwas hinzuweisen, auf die Kultur einer bescheidenen, aber gebildeten Subjektivität - die auch in der wunderbaren Kammermusik dieser Zeit zum Ausdruck kommt."