Der Ausländerbeauftragte im brennenden Haus

Moderation: Katrin Heise |
Als in den letzten Augusttagen des Jahres 1992 ein rassistischer Mob ein von Vietnamesen bewohntes Haus angreift, steht Wolfgang Richter Todesängste aus: Der damalige Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock flüchtet mit den Bewohnern übers Dach aus dem brennenden Sonnenblumenhaus. Das Ereignis habe bei ihm eine "Jetzt-erst-recht"-Haltung ausgelöst, seine Arbeit unbedingt fortzuführen, erzählt Richter heute.
Katrin Heise: Wie durch ein Wunder wurde in diesen letzten Tagen des August 1992 kein Mensch getötet. Sie flüchteten in Todesangst über das Dach. Ihr Tod war allerdings in Kauf genommen worden. Rostock-Lichtenhagen steht seitdem für die Eskalation des Fremdenhasses im wiedervereinten Deutschland. Die Ausschreitungen begannen heute vor genau 20 Jahren. Das war kein Zufall, dass ausgerechnet Rostock -Lichtenhagen der Ort dieser pogromähnlichen Überfälle wurde: Seit 1990 musste sich jeder, der in Mecklenburg-Vorpommern Asyl beantragen wollte, bei der ZAST (Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber) melden. Untergebracht wurden sämtliche Bewerber in einem Plattenbauviertel in Rostock-Lichtenhagen. Die Konsequenz: Die Asylbewerber hatten viel zu wenig Wohnraum, Beitrag von Thilo Schmidt als MP3-Audio wie unser Reporter Thilo Schmidt schildert .

O-Ton Wolfgang Richter aus der Reportage: "Die Chaoten sind unten durch die Tür eingedrungen! Ich habe schon telefoniert, die Polizeiinspektion Lütten Klein hat es nicht begriffen, die haben es nicht begriffen, was hier vorgeht!"

Katrin Heise: So der damalige Ausländerbeauftragte in Rostock, Wolfgang Richter. Er hatte dieses Amt damals gerade mal seit einem Jahr inne. Wolfgang Richter ist jetzt am Telefon. Ich grüße Sie, Herr Richter!

Wolfgang Richter: Ich grüße Sie, Frau Heise!

Heise: Man hörte eben Ihre äußerste Not und Verzweiflung. Was geht Ihnen, wenn Sie das jetzt so nach 20 Jahren wieder hören, was geht Ihnen da durch den Kopf?

Richter: Dann sind die Bilder von damals wieder da. Und es war genau dieser Moment, wo uns klar geworden ist: Von Polizei, von Feuerwehr können wir keine Hilfe bekommen, wenn wir uns aus diesem brennenden Haus befreien wollen, dann können wir es nur selber tun. Und der einzige Weg, der für uns offen war, war der zum Dach hoch, um dann eben über das lange Wohnblockdach aus diesem brennenden Bereich fliehen zu können.

Heise: Das war lebensgefährlich. Die 150 Vietnamesen, denen die Angriffe ja galten, mit denen Sie im Haus waren, die hatten ja teilweise seit Jahren in der DDR gearbeitet, waren auch sozusagen Nachbarn, wenn auch abgeschottete Nachbarn. Wie haben die reagiert?

Richter: Es war für sie erst einmal unverständlich, als am Sonnabend diese Gewalt losbrach. Weil das Problem war ja die völlig überfüllte zentral Anlaufstelle für Flüchtlinge, die Flüchtlinge, die auf der Wiese lagern mussten, bevor sie ihren Asylantrag stellen konnten. Und immer kam so ein Nachsatz von Anwohnern, die zum Teil auch übelste rassistische Beschimpfungen gegenüber den Flüchtlingen aus Rumänien, den Roma, hatten: "Aber die Vietnamesen meinen wir nicht". Und in dem Moment, als der erste Stein am Sonnabend flog, flog dieser Stein in das Wohnheim der Vietnamesen, weil das einfach in der Hauptangriffsrichtung lag. Und von diesem Moment an waren die Vietnamesen im Zentrum der Gewalt.

Heise: Mich interessiert die Rolle der Polizei. Sie haben es ja eben auch angesprochen. In dem Ausschnitt, den wir gehört haben: "Sie haben das nicht begriffen, was hier vorgeht". Haben die das wirklich nicht begriffen oder hatten sie die Order, die Augen zu schließen?

Richter: Es ist bis heute einiges völlig unklar und unverständlich geblieben. Und in jener dritten Nacht, als wir dann alleine im Haus waren, ich in der Situation, wo unten bereits die Gewalttäter eingedrungen waren, wo das Haus unten schon brannte, mit der Polizeistation, der Einsatzleitung telefoniert habe, und dieser Beamte mich immer gefragt hat, ob denn das Feuer so schlimm wäre, dass die Feuerwehr kommen müsse. Das eben nach zwei Gewaltnächten, die wir dort schon erlebt haben, ist das also für mich völlig unvorstellbar.

Ich kann jetzt keine Theorie konstruieren, zu sagen, also man hat es bewusst so zuspitzen lassen, um den Asylkompromiss und die Grundgesetzänderung durchzubekommen, um die SPD zur Grundgesetzänderung zu zwingen. Aber ich glaube, dafür hätte man diese dritte Nacht überhaupt nicht mehr gebraucht. Der Sonnabend und der Sonntag waren so voller Gewalttätigkeit gegen Asylsuchende, dass das alleine für die Argumentation schon völlig ausgereicht hätte.

Heise: Sie klingen heute, nach 20 Jahren, immer noch so – also verzweifelt eigentlich über das, was Sie da erleben mussten, von verschiedenen Seiten erleben mussten. Gab es danach Gespräche, beispielsweise mit der Polizei? Oder auch, sie waren ja auch entsetzt über das Verhalten der Stadt, dieses überfüllte Asylbewerberheim betreffend. Diese Ignoranz gegenüber der ja seit Wochen aufkeimenden Wut der Rostock-Lichtenhagener. Gab es da Gespräche danach mit den staatlichen Stellen?

Richter: Ja, es gab Gespräche. Es gab Gespräche in der Stadtverwaltung, wobei man eben klar feststellen muss, dass die Verantwortung sowohl bei der Stadt als auch beim Land lag. Weil diese zentrale Anlaufstelle unterstand ja dem Innenministerium. Und die Flüchtlinge, die dort ihren Asylantrag stellen wollten, waren ja nicht Asylsuchende, die der Hansestadt Rostock dann in einem Verteilungsverfahren zugewiesen waren, sondern es waren die, die eben ihren Erstantrag dort stellen wollten, und dafür ist das Bundesamt und das Landesamt zuständig.

Aber ich hab ja selber in der Stadtverwaltung erlebt, dass die Stadt immer gesagt hat, es sind die Flüchtlinge des Landes und das Land muss dort dafür sorgen, dass also diese Wiese wieder frei wird und die Flüchtlinge aufgenommen werden können. Und das Land hat gesagt: Moment mal, die, die im Haus sind, die Registrierten, das sind unsere Flüchtlinge, und die, die auf der Wiese sind, das sind Obdachlose. Und dafür ist die Kommune zuständig.

Und in diesem sinnlosen Hin und Her ist die Lösung, wo beide hätten sich zusammensetzen müssen, um sofort diese Wiese zu räumen, dass dort eben nicht mehr Flüchtlinge auf dieser Wiese warten mussten, diese Lösung ist einfach auf der Strecke geblieben. Und das war dann der Auslöser für das, was dort an Gewalt in diesen drei Tagen, ja eigentlich sogar vier Tagen, stattgefunden hat.

Heise: Wolfgang Richter war vor 20 Jahren Ausländerbeauftragter in Rostock-Lichtenhagen. Herr Richter, Sie hatten den Job des Ausländerbeauftragten angenommen, ein Jahr vorher, aus Interesse am Anderen, aus – ja, einfach auch aus dem, etwas anderes kennenlernen zu wollen. Sie sind es dann 18 Jahre lang auch geblieben. Das war aber natürlich nach diesen Vorkommnissen ein ganz anderer Job als vorher, oder?

Richter: Es war ein ganz anderer Job, weil dieses Erlebnis, das wir, die wir in dem Haus waren, hatten, was aber eben auch diese Stadt hatte, dieses nicht vorstellbare Maß an Gewalt, diese Pogromstimmung, die ich sonst nur aus Literatur oder aus Fachbüchern kannte, das haben wir dort drei Tage erlebt, wie eine enthemmte Menschenmenge grölt und jubelt, wenn dort Menschen im Haus ums Leben kommen können.

Das hat auf diese Stadt Einwirkung gehabt, und das hat auf uns alle, die wir dort drin waren, hat das Auswirkungen gehabt. Und das waren sowohl welche, die motivierend waren, zu sagen, dass die Frage von Integration von Migranten, die Frage von politischer Verantwortung, das Arbeiten, in dem solche Konfliktfelder überhaupt nicht mehr zugelassen werden können, das war eine der Folgen.

Aber ich habe leider auch in den Jahren danach und bis heute erlebt, dass es auch in Rostock Menschen gibt, die es verdrängen, die Verantwortung wegschieben wollen, die den Zugereisten die Schuld an dieser Gewalt geben wollen und die also dort lieber politischer Verantwortung ausweichen, was das Thema Integration von Migranten oder Fremdenfeindlichkeit betrifft.

Heise: Was ich mir ja, ehrlich gesagt, überhaupt nicht vorstellen kann, ist, wie man überhaupt danach wieder aufeinander zu geht. Was waren denn so die ersten Sachen, um wieder miteinander ins Gespräch zu kommen, Bürger, Ausländer?

Richter: Gut, für mich war es erst mal wichtig, und darum hatte ich dann den Oberbürgermeister und die zehn Senatoren, die Rostock damals gehabt hat, gebeten, um ein Gespräch, um zu sehen, ob ich mit diesen Menschen, die für mich ja durch eklatante Fehler, die sie begangen haben, durch Nichtwahrnehmung von Verantwortung einen Teil der Schuld an dem, was dort passiert ist, hatten, und da war für mich wichtig, das Gespräch mit denen zu suchen, um für mich zu entscheiden, ob ich mit diesem Menschen weiter zusammenarbeiten kann.

Heise: Was Sie ja dann so entschieden haben.

Richter: Ja, weil ich dort in dieser sehr internen Runde Menschen erlebt habe, von denen ich weiß, dass sie zumindest für sich über ihr Versagen reflektiert haben, in diesem Gespräch es getan haben. Und von daher war für mich die Motivation, jetzt gerade und jetzt erst recht. Und denen, die dort Hass und Gewalt geschürt haben, darf man diese Stadt nicht überlassen und nicht dieses Land. Es war also Motivation, weiterzumachen, zu sagen: jetzt erst recht und jetzt dafür sorgen, dass diese Arbeit anders wird.

Und ich muss sagen, mit diesen Geschehnissen von Lichtenhagen war es plötzlich auch für einen kommunalen Ausländerbeauftragten aus Rostock möglich, Zugänge in Politik zu bekommen, zum Beispiel in die Landesregierung, zu Ministern, zu Staatssekretären. Oder auch auf der Bundesebene. Oder auch Zugänge zu Journalisten, die bundesweit arbeiten, sodass ich danach durchaus auch ein ganz anderes Spektrum von Möglichkeiten hatte, diese Arbeit zu machen.

Heise: Also man hat Ihnen einfach endlich zugehört. Sie haben das sogenannte "Rostocker Modell" entwickelt im Umgang mit in Deutschland lebenden Ausländern. Wodurch zeichnet sich das aus?

Richter: Wir haben versucht, Schwerpunkte zu setzen, die also die Integration in den Kindertagesstätten, in den Schulen betraf, die Berufserstausbildung für jugendliche Migranten, die sprachliche und berufliche Förderung von erwachsenen Migranten, Migrantenselbstorganisation zu stärken, damit Migranten Partner in diesem Prozess sind und nicht irgendwelche Objekte, mit denen was gemacht wird.

Heise: Es hat sich auch die Initiative "Lichtenhagen bewegt sich" gegründet, eben aus verschiedenen Institutionen und Vereinen, die sich da zusammengeschlossen haben, aber Sie haben es vorhin schon gesagt: Viele Bürger in Rostock, vor allem die wahrscheinlich, die in Lichtenhagen wohnen, haben keine große Lust, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Ist das dann doch wieder Verdrängung statt Aufarbeitung? Erleben Sie das doch häufiger?

Richter: Was mir in jüngster Zeit Sorgen macht, sind Menschen, die in politischer Verantwortung stehen, in Ortsbeiräten zum Beispiel oder eben auch in der Stadtverwaltung oder einen Landtagsabgeordneten, den ich da erlebt habe. Und da glaube ich, waren wir einfach schon mal in der politischen Aufarbeitung und im Beziehen von politischen Standpunkten auch schon mal ein Stück weiter in dieser Stadt.

Heise: Sagt Wolfgang Richter, ehemaliger Ausländerbeauftragter in Rostock. Herr Richter, vielen Dank für dieses Gespräch!

Richter: Bitte schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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