Der Autor, der nicht von sich reden möchte

01.02.2008
Zwischen den beiden Weltkriegen war Leo Perutz ein viel gelesener Autor. Doch über sein eigenes Leben gab er ungern Auskunft: "Bitte schreiben Sie nichts über mich und alles über meine Romane!" Hans-Harald Müller ist es mit seiner Biographie dennoch gelungen, das Leben des Versicherungsmathematikers und Schriftstellers umfassend zu porträtieren.
Leo Perutz ist eine harte Nuss für Biographen. Anders als etwa bei Thomas Mann oder Franz Kafka sind seine Werke nicht autobiographisch grundiert. Sie lassen sich deshalb nicht leicht in eine Lebenserzählung integrieren oder als verkappte Selbstauskünfte zu Rate ziehen. Neugier auf seine Existenz wies Perutz zu Lebzeiten in die Schranken. Als er 1957, wenige Monate vor seinem Tod, um biographisches Material für einen Geburtstagsessay zum 75. gebeten wurde, antwortete er schroff: "Ich halte es auch für ganz nutzlos, über mein Leben zu schreiben." Stattdessen verwies er auf seine Bücher: "Bitte schreiben Sie nichts über mich und alles über meine Romane!"

Wenn Hans-Harald Müller nun doch die große Perutz-Biographie gewagt hat, so ist sein Tun durch jahrelangen Einsatz für dessen Werke legitimiert. Als Literaturwissenschaftler und Herausgeber hat er unermüdlich geworben für diesen Autor, der in Deutschland zu einer eher seltenen Spezies gehört: als Verfasser unterhaltsamer Romane, die zugleich literarischen Anspruch erheben. Obwohl sie einem Genre zuzurechnen sind, das für dicke Schwarten voller fabuliertem Schund berüchtigt ist – dem historischen Roman –, bleiben Perutz’ Bücher schlank, präzise und intelligent.

Diese Qualitäten macht Müllers Biografie deutlich, indem sie ausgiebig die einzelnen Romane vorstellt, von frühen Erfolgen wie "Das Mangobaumwunder" oder "Der Meister des jüngsten Tages" bis hin zu den späten Meisterwerken "Der schwedische Reiter" und "Nachts unter der steinernen Brücke". Und das Leben? Als hätte Perutz die Spuren verwischt, gibt es über die frühen Jahre wenig zu sagen. 1882 wurde er in Prag als Sohn eines Textilfabrikanten geboren; 1901 zog die Familie nach Wien. Nach wenigen Seiten ist der Biograph dann schon bei Perutz’ literarischem Debüt, der Erzählung "Der Feldwebel Schramek", in der es bereits um zentrale Motive wie die Diskontinuität des Lebens und die Unüberschaubarkeit der Folgen menschlichen Handelns geht.

Egon Erwin Kisch, mit dem der gesellige Perutz befreundet war, lobte einmal die "mathematische Präzision", mit der dieser die Stoffe seiner Romane ausarbeitete. Kein Wunder: Perutz war im Hauptberuf Versicherungsmathematiker; unter anderem befasste er sich mit der Prognosegenauigkeit von Sterblichkeitverläufen und beglückte das Lebensversicherungswesen mit der "Perutzschen Ausgleichsformel".

Im Kaffeehaus, das er beinahe täglich besuchte, führte er lange Zeit zwei Stammtische: einen für Literaten und einen, an dem mathematische, naturwissenschaftliche und philosophische Themen debattiert wurden. Es erhöht den Reiz der Biografie, dass es sich bei Perutz offenbar um eine Art multiple Persönlichkeit handelt. Denn nebenbei war der mit einer halben Lunge aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrte Autor auch noch leidenschaftlicher Tarock- und Bridgespieler, Wassersportler und Bergsteiger, Familienvater und Erotomane, der das Wort "Freundin" meist im Plural zu verwenden hatte.

Hans-Harald Müller ist kein Biograf, der Überlieferungslücken durch Spekulationen und romanhafte Beschreibungskunst füllen würde. Wo er nichts weiß, schreibt er nichts. Seine trockene Zurückhaltung bewährt sich, wenn er immer wieder zurücktritt hinter O-Töne aus Briefen und Aufzeichnungen von Freunden und Verwandten. Die vielen langen Zitate sind sehr gut ausgewählt und tragen durch ihre Beobachtungsgenauigkeit zu einem lebendigen Bild von Perutz bei. Die direkte Charakterisierung vermeidet Müller eher. Er kennt sich so gut aus, dass er das Material sprechen lassen kann.

In den 20er Jahren konnte Perutz große Erfolge feiern. Als "Wohin rollst du, Äpfelchen" 1928 als Fortsetzungsroman in der "Berliner Illustrierten" erschien, bescherte dies der Zeitschrift einen Auflagenzuwachs von 30.000 Exemplaren – und Perutz ein zusätzliches Honorar, das heute 120.000 Euro entsprechen würde. Nebenbei erhielt er stattliche Einkünfte aus den Familienbetrieben, die von seinen Brüdern weitergeführt wurden. In den Dreißiger Jahren büßte er dann aufgrund seiner jüdischen Herkunft viele Publikationsmöglichkeiten ein und geriet in finanzielle Nöte. Seine anfangs so sonnige Existenz wurde überschattet durch den frühen Tod seiner Frau (die er ungeachtet seiner Affären offenbar sehr liebte) und den Antisemitismus.

Perutz selbst, der den Irrationalismus in Romanen wie "St. Petri Schnee" darstellte und den meisten seiner Bücher phantastische Ingredienzen beimischte, blieb von den diversen politischen Wahnsystemen der Epoche unbeeindruckt. Schon die unter vielen Literaten verbreitete Kriegsbegeisterung des Jahres 1914 hatte er nicht geteilt. Rechtzeitig emigrierte er 1939 nach Palästina. Er schrieb weiter, und erfreute sich – dank einiger Freunde, die sich für sein Werk einsetzten – in Südamerika eines gewissen Ruhmes. In Deutschland und Österreich geriet er jedoch zu seiner Verbitterung immer mehr in Vergessenheit. Wenn dies heute nicht mehr so ist, ist das nicht zuletzt ein Verdienst von Hans-Harald Müller.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Hans-Harald Müller: Leo Perutz. Biographie
Zsolnay Verlag, Wien 2007
404 Seiten, 24,90 Euro