Der Balzac unserer Tage
Der amerikanische Realist Tom Wolfe hat mit "I am Charlotte Simmons" einen Bildungsroman geschrieben. Eine begabte Abiturientin aus einfachen Verhältnissen erhält ein Stipendium an einer amerikanischen Elite-Universität. Wolfe zeichnet ein düsteres Bild, was unter der glänzenden Oberfläche zu finden ist.
Tom Wolfe wirkt nicht nur distanziert, er ist distanziert. Ein gutes Beispiel ist seine Lesereise durch Deutschland. Er tritt nicht etwa in Berlin, München und Hamburg auf und macht einen Abstecher nach Wien, ein Auftritt reicht. Es gibt noch einen Fernsehtermin bei Thea Dorn - das war‘s.
"Auftritt" ist das treffende Wort, Tom Wolfe pflegt sich, wenn er öffentlich in Erscheinung tritt, zu inszenieren, sorgfältig zu inszenieren. Er trägt meistens einen weißen Anzug, stets Krawatte, sorgfältig auf das Hemd abgestimmt, und Kenner würden die Auswahl seiner Schuhe, ja seiner Socken bewundern. So lässt er sich auch ablichten. Sein neues Buch trägt auf der Rückseite ein solches Porträt, und wie die meisten seiner Fotos ziert seine Züge ein Lächeln - kein freundliches, ein spöttisches, sarkastisches. Oder ist es gar überheblich? Anmaßend? Verächtlich?
Oft wird Wolfe wegen seiner gewählten Kleidung nachgesagt, er sei ein Geck. Ein völliges Missverständnis: Wolfe wirkt eher, als wolle er ein Erbe der Aristokratie übernehmen: wahre Vornehmheit und eine Distanz, die weniger auf Menschenfeindschaft gründet, als auf Skepsis gegenüber den lieben Zeitgenossen - und auf einer künstlerischen Notwendigkeit: um einen Blick aufs große Ganze zu gewinnen, braucht man Abstand.
Wolfe weicht Fragen über seine private Existenz aus. Er ist Romancier. Seine Identität erkennt, wer sich mit seinen Büchern und seinen Aufsätzen auseinander setzt.
Wolfe schreibt mit seinem neuen Werk "Ich bin Charlotte Simmons" einen Bildungsroman. Wenn der Autor die Handlung zusammenrafft, bemerkt man, dass jedes Wort überlegt, gewählt ist - er gibt seiner Stimme Schwung - und die Aussprache ist vorbildlich.
" Charlotte Simmons ist ein 18-jähriges Mädchen aus den Blueridge Bergen, die sehr behütetet in einem Haus, das sehr religiös ist, aufwächst. Zufällig ist sie ein Genie; sie hat ein Stipendium an einer der großen Universitäten in Amerika bekommen. Sie müssen mir einfach glauben, es ist eine Mischung aus Harvard, Yale, Princeton, Stanford und noch ein paar andere Universitäten, alles in einem. - Sie hat sich entschlossen, ein geistiges Leben zu führen. Das ist ihr großes Ziel. Sie bricht aus einer kleinen Stadt in North Carolina auf und geht über die Berge in die große weite Welt. "
Wolfes makellose Aussprache des Amerikanischen ist signifikant. Der Autor beschreibt häufig den Verfall der Kultur mit Hilfe des Verfalls der Sprache. Im "Fegefeuer der Eitelkeiten" sprach die negative Heldin, eine geldgierige Frau ohne alle Moral, in einem Südstaatenamerikanisch, das kaum mehr zu verstehen - und gleichwohl sorgfältig dem Slang nachgebildet war. Die Haltung Wolfes spiegelt sich nicht nur in seiner Schreibsprache, sondern auch im gesprochenen Wort.
Tom Wolfe vertritt kompromisslos den Wert der englischen Sprache, breitet mitreißend ihren verschwenderischen Reichtum an Vokabeln aus, demonstriert altmeisterlich ihre Wendigkeit, ihre Treffsicherheit bei der Wortfindung und ihre Fähigkeit zur Differenzierung, zur Nuance, zur Ironie, zum Sarkasmus. Eine Herausforderung für jeden Übersetzer. Walter Ahlers hat "I am Charlotte Simmons" ins Deutsche übertragen.
Wolfes Urteil über die Sprache der jungen Intelligenz in den USA ist ein Verdikt. Die Sprache der Elite zeichnet sich durch einen restringierten Code aus, durchsetzt mit den verschiedensten Formen von "fuck". Wolfes Begründung geht so ins Einzelne, dass keine Berufung erlaubt ist. Überdies setzt Wolfe "fuck" immer wieder ein, um die Verrohung der menschlichen, insbesondere der sexuellen Beziehungen Anfang des 21. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten zu charakterisieren. Wolfe fügt direkt eine verdichtete, linguistische Abhandlung zum Thema ein. - Wie soll man das übersetzen? Walter Ahlers hat eine überzeugende Lösung gefunden.
Zurück zum Roman, dessen Handlung und Figuren viel über seinen Autor verraten: Charlottes Vater, ein Globalisierungsopfer, hat seine Arbeitsstelle schon vor langer Zeit verloren, die Mutter schindet sich ab und führt den Haushalt - Menschen, die keinen Cent zuviel haben und sich entschieden von den Zerstreuungen der Konsumwelt abwenden - nicht nur der Not gehorchend, sondern auch der Überzeugung eines tief in amerikanischer Tradition wurzelnden Puritanismus‘ - Wolfe verneigt sich vor ihm, denn er weiß, was das im Positiven bedeutet: Redlichkeit. Hier liegt eine starke Verbindung Wolfes zum Konservatismus.
Die Leistungen von Charlotte sind so überragend, dass sie an allen Universitäten ein Stipendium bekommen hätte. Sie geht nach Dupont, eine Anstalt mit Prestige und Vergangenheit - aber Wolfe lässt sich natürlich nicht blenden. Er zeigt, was unter der glänzenden Oberfläche zu finden ist, mit der Kraft seiner Polemik, die er seit "A Man in Full" noch weiter gesteigert hat: Diese Universität ist ein versiffter Drecksladen mit Heuchlern an der Spitze, einem überwiegend verkommenen, korrupten Lehrkörper und Studenten, die nur drei Maximen haben: Anpassung, Anpassung und abermals: Anpassung.
Der Konsumismus herrscht. Tom Wolfe schildert ihn mit innerem Kopfschütteln. Als Charlotte ankommt, gilt sie Kommilitoninnen aus gutbetuchtem Hause als der letzte Dreck, weil sie sich keine Diesel-Jeans leisten kann. Entscheidender aber wird, wie Wolfe hinzufügt:
" Sie entdeckt sehr rasch, dass es nicht nur ein Leben des Geistes, sondern auch eines des Körpers gibt. Und das führt zu einigen starken Konflikten für die junge Charlotte Simmons."
Ein Mädchen, das mitreden will, muss nicht nur die angesagten Klamotten kaufen und tragen, sie muss auch - um Wolfes kritisch intendierten Sprachgebrauch zu folgen: "ficken". Die angesagten Jungs und möglichst viele. Am besten im Zustand vollständiger Trunkenheit. Charlotte ist Jungfrau - der Druck auf sie immens. Sie gibt ihm nach.
Ihre Defloration als Desaster zu bezeichnen verbietet sich als ungehörige Bagatellisierung. Es handelt sich um eine Rohheit, die ins Herz der Finsternis wie in die Finsternis der Herzen führt, jenes Dunkel, das die Gegenwart der Kultur in den Vereinigten Staaten, will man Wolfe glauben, bestimmt, wie dessen Zukunft.
Charlotte gerät an einen Jungen, der in einer "Fraternity", einer elitären Studentenvereinigung, die nicht ganz einer deutschen Burschenschaft entspricht, den Ton angibt; ein Felix Krull, Hochstapler, begnadet, der an Charlotte Interesse gewinnt, weil sie nicht gleich beim ersten Treffen ihm zu Willen ist. Das entzündet seinen Ehrgeiz, er lädt sie zu einem Ball ein. Er artet in ein Bacchanal aus, das an römische Ausschweifungen erinnert, vor allem in seiner Entfaltung aller menschlichen Niedrigkeit und Verworfenheit; der junge Vertreter einer durchsetzungsstarken Elite macht Charlotte zielgerichtet betrunken, gefügig, "fickt sie durch" und wendet sich, nachdem er das Ziel seiner Wünsche erreicht hat, von ihr ab. Ex und hopp.
Herzlosigkeit und Engstirnigkeit, Rohheit und Egomanie gehen eine unauflösliche Verbindung ein, die Tom Wolfe nutzt, um aufzuzeigen, was das heißt: "cool" - auf der Verhaltensebene. Es ist verwerflich. Hier nützt dem Autor die Distanz, die er sucht: sein Urteil wird dadurch glaubhafter, fast unumstößlich. Wolfe hat Aura und Autorität. Seine Vornehmheit verrät sich in der Güte - denn sein Urteil schützt seine Heldin.
Charlotte erleidet nach dieser gezielten sexuellen Attacke einen schweren Anfall von Depression. Deren Schilderung, ein analytisches Meisterstück Wolfes, deutlich angelehnt an Edgar Allen Poe, ist schrecklich zu lesen. Das Blei und die Strudel zum Tode vermag der Meister zu evozieren - der Leser leidet mit. Charlotte wird wieder gesund - so scheint es, aber die Depression leitet eine folgenschwere Veränderung ihres Charakters ein: Sie passt sich an. Damit einher geht die Aufgabe ihres Talents, das überragend ist - besser: war; daran lässt Wolfe keinen Zweifel.
Wolfe resümiert:
" Im Lauf der Geschichte, das ist meine große Hoffnung, bekommen Sie einen Eindruck, wie das Leben von Studienanfängern heute aussieht. Ich habe mir viele, viele Colleges angeschaut, und ich hab mich dort manchmal bis zu einem Monat aufgehalten, in der Hoffnung, etwas herauszufinden, was auch mir neu war: wie sieht den das Collegeleben heute aus? Ich denke, dies ist zugleich die Geschichte einer jungen Frau in einer neuen Umgebung wie die Beschreibung der amerikanischen Universität heute."
Das ist ein geradezu schon britisches Understatement. Der Roman ist viel mehr, umfassender: mit dem Ausschnitt der Gesellschaft wird das Ganze geschildert und mit der Beschreibung des Heute, der Gegenwart, verknüpft Wolfe, wie selbstverständlich Vergangenheit und Zukunft. Das, was Hegel als Totalität bezeichnete - amerikanischer Realismus, unübertroffen.
Es gibt im Deutschen derzeit keinen Erzähler, der Tom Wolfe das Wasser reichen könnte, in Amerika lässt er Philip Roth weit hinter sich wie John Updike. Selbst ein begeisterndes Talent wie Jonathan Coe - ein britischer Schriftsteller der mittleren Generation - kann nicht mithalten, man darf getrost auf den Gipfeln des Parnass‘ suchen, um einen vergleichbaren Autor zu finden, am besten einen Realisten an der Spitze des Fortschritts ...
Tom Wolfe ist der Balzac unserer Tage.
Tom Wolfe: "I am Charlotte Simmons". Farrar Straus Giroux. New York 2004. 676 Seiten kosten bei Amazon 25,50 €. Eine deutsche Übersetzung ist im Karl Blessing Verlag erschienen, 792 Seiten kosten 24,90 Euro.
"Auftritt" ist das treffende Wort, Tom Wolfe pflegt sich, wenn er öffentlich in Erscheinung tritt, zu inszenieren, sorgfältig zu inszenieren. Er trägt meistens einen weißen Anzug, stets Krawatte, sorgfältig auf das Hemd abgestimmt, und Kenner würden die Auswahl seiner Schuhe, ja seiner Socken bewundern. So lässt er sich auch ablichten. Sein neues Buch trägt auf der Rückseite ein solches Porträt, und wie die meisten seiner Fotos ziert seine Züge ein Lächeln - kein freundliches, ein spöttisches, sarkastisches. Oder ist es gar überheblich? Anmaßend? Verächtlich?
Oft wird Wolfe wegen seiner gewählten Kleidung nachgesagt, er sei ein Geck. Ein völliges Missverständnis: Wolfe wirkt eher, als wolle er ein Erbe der Aristokratie übernehmen: wahre Vornehmheit und eine Distanz, die weniger auf Menschenfeindschaft gründet, als auf Skepsis gegenüber den lieben Zeitgenossen - und auf einer künstlerischen Notwendigkeit: um einen Blick aufs große Ganze zu gewinnen, braucht man Abstand.
Wolfe weicht Fragen über seine private Existenz aus. Er ist Romancier. Seine Identität erkennt, wer sich mit seinen Büchern und seinen Aufsätzen auseinander setzt.
Wolfe schreibt mit seinem neuen Werk "Ich bin Charlotte Simmons" einen Bildungsroman. Wenn der Autor die Handlung zusammenrafft, bemerkt man, dass jedes Wort überlegt, gewählt ist - er gibt seiner Stimme Schwung - und die Aussprache ist vorbildlich.
" Charlotte Simmons ist ein 18-jähriges Mädchen aus den Blueridge Bergen, die sehr behütetet in einem Haus, das sehr religiös ist, aufwächst. Zufällig ist sie ein Genie; sie hat ein Stipendium an einer der großen Universitäten in Amerika bekommen. Sie müssen mir einfach glauben, es ist eine Mischung aus Harvard, Yale, Princeton, Stanford und noch ein paar andere Universitäten, alles in einem. - Sie hat sich entschlossen, ein geistiges Leben zu führen. Das ist ihr großes Ziel. Sie bricht aus einer kleinen Stadt in North Carolina auf und geht über die Berge in die große weite Welt. "
Wolfes makellose Aussprache des Amerikanischen ist signifikant. Der Autor beschreibt häufig den Verfall der Kultur mit Hilfe des Verfalls der Sprache. Im "Fegefeuer der Eitelkeiten" sprach die negative Heldin, eine geldgierige Frau ohne alle Moral, in einem Südstaatenamerikanisch, das kaum mehr zu verstehen - und gleichwohl sorgfältig dem Slang nachgebildet war. Die Haltung Wolfes spiegelt sich nicht nur in seiner Schreibsprache, sondern auch im gesprochenen Wort.
Tom Wolfe vertritt kompromisslos den Wert der englischen Sprache, breitet mitreißend ihren verschwenderischen Reichtum an Vokabeln aus, demonstriert altmeisterlich ihre Wendigkeit, ihre Treffsicherheit bei der Wortfindung und ihre Fähigkeit zur Differenzierung, zur Nuance, zur Ironie, zum Sarkasmus. Eine Herausforderung für jeden Übersetzer. Walter Ahlers hat "I am Charlotte Simmons" ins Deutsche übertragen.
Wolfes Urteil über die Sprache der jungen Intelligenz in den USA ist ein Verdikt. Die Sprache der Elite zeichnet sich durch einen restringierten Code aus, durchsetzt mit den verschiedensten Formen von "fuck". Wolfes Begründung geht so ins Einzelne, dass keine Berufung erlaubt ist. Überdies setzt Wolfe "fuck" immer wieder ein, um die Verrohung der menschlichen, insbesondere der sexuellen Beziehungen Anfang des 21. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten zu charakterisieren. Wolfe fügt direkt eine verdichtete, linguistische Abhandlung zum Thema ein. - Wie soll man das übersetzen? Walter Ahlers hat eine überzeugende Lösung gefunden.
Zurück zum Roman, dessen Handlung und Figuren viel über seinen Autor verraten: Charlottes Vater, ein Globalisierungsopfer, hat seine Arbeitsstelle schon vor langer Zeit verloren, die Mutter schindet sich ab und führt den Haushalt - Menschen, die keinen Cent zuviel haben und sich entschieden von den Zerstreuungen der Konsumwelt abwenden - nicht nur der Not gehorchend, sondern auch der Überzeugung eines tief in amerikanischer Tradition wurzelnden Puritanismus‘ - Wolfe verneigt sich vor ihm, denn er weiß, was das im Positiven bedeutet: Redlichkeit. Hier liegt eine starke Verbindung Wolfes zum Konservatismus.
Die Leistungen von Charlotte sind so überragend, dass sie an allen Universitäten ein Stipendium bekommen hätte. Sie geht nach Dupont, eine Anstalt mit Prestige und Vergangenheit - aber Wolfe lässt sich natürlich nicht blenden. Er zeigt, was unter der glänzenden Oberfläche zu finden ist, mit der Kraft seiner Polemik, die er seit "A Man in Full" noch weiter gesteigert hat: Diese Universität ist ein versiffter Drecksladen mit Heuchlern an der Spitze, einem überwiegend verkommenen, korrupten Lehrkörper und Studenten, die nur drei Maximen haben: Anpassung, Anpassung und abermals: Anpassung.
Der Konsumismus herrscht. Tom Wolfe schildert ihn mit innerem Kopfschütteln. Als Charlotte ankommt, gilt sie Kommilitoninnen aus gutbetuchtem Hause als der letzte Dreck, weil sie sich keine Diesel-Jeans leisten kann. Entscheidender aber wird, wie Wolfe hinzufügt:
" Sie entdeckt sehr rasch, dass es nicht nur ein Leben des Geistes, sondern auch eines des Körpers gibt. Und das führt zu einigen starken Konflikten für die junge Charlotte Simmons."
Ein Mädchen, das mitreden will, muss nicht nur die angesagten Klamotten kaufen und tragen, sie muss auch - um Wolfes kritisch intendierten Sprachgebrauch zu folgen: "ficken". Die angesagten Jungs und möglichst viele. Am besten im Zustand vollständiger Trunkenheit. Charlotte ist Jungfrau - der Druck auf sie immens. Sie gibt ihm nach.
Ihre Defloration als Desaster zu bezeichnen verbietet sich als ungehörige Bagatellisierung. Es handelt sich um eine Rohheit, die ins Herz der Finsternis wie in die Finsternis der Herzen führt, jenes Dunkel, das die Gegenwart der Kultur in den Vereinigten Staaten, will man Wolfe glauben, bestimmt, wie dessen Zukunft.
Charlotte gerät an einen Jungen, der in einer "Fraternity", einer elitären Studentenvereinigung, die nicht ganz einer deutschen Burschenschaft entspricht, den Ton angibt; ein Felix Krull, Hochstapler, begnadet, der an Charlotte Interesse gewinnt, weil sie nicht gleich beim ersten Treffen ihm zu Willen ist. Das entzündet seinen Ehrgeiz, er lädt sie zu einem Ball ein. Er artet in ein Bacchanal aus, das an römische Ausschweifungen erinnert, vor allem in seiner Entfaltung aller menschlichen Niedrigkeit und Verworfenheit; der junge Vertreter einer durchsetzungsstarken Elite macht Charlotte zielgerichtet betrunken, gefügig, "fickt sie durch" und wendet sich, nachdem er das Ziel seiner Wünsche erreicht hat, von ihr ab. Ex und hopp.
Herzlosigkeit und Engstirnigkeit, Rohheit und Egomanie gehen eine unauflösliche Verbindung ein, die Tom Wolfe nutzt, um aufzuzeigen, was das heißt: "cool" - auf der Verhaltensebene. Es ist verwerflich. Hier nützt dem Autor die Distanz, die er sucht: sein Urteil wird dadurch glaubhafter, fast unumstößlich. Wolfe hat Aura und Autorität. Seine Vornehmheit verrät sich in der Güte - denn sein Urteil schützt seine Heldin.
Charlotte erleidet nach dieser gezielten sexuellen Attacke einen schweren Anfall von Depression. Deren Schilderung, ein analytisches Meisterstück Wolfes, deutlich angelehnt an Edgar Allen Poe, ist schrecklich zu lesen. Das Blei und die Strudel zum Tode vermag der Meister zu evozieren - der Leser leidet mit. Charlotte wird wieder gesund - so scheint es, aber die Depression leitet eine folgenschwere Veränderung ihres Charakters ein: Sie passt sich an. Damit einher geht die Aufgabe ihres Talents, das überragend ist - besser: war; daran lässt Wolfe keinen Zweifel.
Wolfe resümiert:
" Im Lauf der Geschichte, das ist meine große Hoffnung, bekommen Sie einen Eindruck, wie das Leben von Studienanfängern heute aussieht. Ich habe mir viele, viele Colleges angeschaut, und ich hab mich dort manchmal bis zu einem Monat aufgehalten, in der Hoffnung, etwas herauszufinden, was auch mir neu war: wie sieht den das Collegeleben heute aus? Ich denke, dies ist zugleich die Geschichte einer jungen Frau in einer neuen Umgebung wie die Beschreibung der amerikanischen Universität heute."
Das ist ein geradezu schon britisches Understatement. Der Roman ist viel mehr, umfassender: mit dem Ausschnitt der Gesellschaft wird das Ganze geschildert und mit der Beschreibung des Heute, der Gegenwart, verknüpft Wolfe, wie selbstverständlich Vergangenheit und Zukunft. Das, was Hegel als Totalität bezeichnete - amerikanischer Realismus, unübertroffen.
Es gibt im Deutschen derzeit keinen Erzähler, der Tom Wolfe das Wasser reichen könnte, in Amerika lässt er Philip Roth weit hinter sich wie John Updike. Selbst ein begeisterndes Talent wie Jonathan Coe - ein britischer Schriftsteller der mittleren Generation - kann nicht mithalten, man darf getrost auf den Gipfeln des Parnass‘ suchen, um einen vergleichbaren Autor zu finden, am besten einen Realisten an der Spitze des Fortschritts ...
Tom Wolfe ist der Balzac unserer Tage.
Tom Wolfe: "I am Charlotte Simmons". Farrar Straus Giroux. New York 2004. 676 Seiten kosten bei Amazon 25,50 €. Eine deutsche Übersetzung ist im Karl Blessing Verlag erschienen, 792 Seiten kosten 24,90 Euro.