Seelsorger Uwe Müller
Der Beginn der Telefonseelsorge in Ostberlin war abenteuerlich: Die Stasi hörte die Gespräche mit und die meisten Menschen mussten aus Telefonzellen anrufen, da nur die wenigsten einen eigenen Anschluss hatten. © picture alliance / imageBROKER
„Der beste Telefonseelsorger ist mindestens einmal geschieden"
31:38 Minuten
Er hat die erste Telefonseelsorge Ostberlins gegründet - ein Service, der bis heute aktiv ist. Inzwischen kümmert sich der ehemalige Kfz-Mechaniker Uwe Müller um über 150 Ehrenamtliche * in Berlin, die am Telefon helfen, beraten oder einfach nur zuhören.
Was braucht jemand, der bei der Telefonseelsorge mitarbeiten möchte? Er müsse belastbar und psychisch stabil sein, zudem auch ein gewisses Maß an Selbstreflexion besitzen, meint Uwe Müller. Und um es ganz konkret zu machen:
„Der beste Telefonseelsorger ist mindestens einmal geschieden, ein Elternteil ist verstorben, hatte schon drei bis fünf Krisen, und hat sich mit seinem eigenen Tod beschäftigt“, sagt Müller. Der Mann muss es wissen, schließlich ist er seit 1988 Leiter der „Kirchlichen Telefonseelsorge Berlin“, also seit der Gründung in Ostberlin.
Auch sollte man sich mit seinen Erfahrungen, seinen eigenen Gefühlen auseinandergesetzt haben, sonst könne man nicht professionell agieren.
"Schmerzen, Tod und Trauer – alles, was das Leben bringt“
„Stellen Sie sich mal vor, da ruft jemand an und erzählt ihnen ihre eigene Lebensgeschichte. Das ist mir mal passiert“. Weihnachten 1989 war das, so erinnert sich der Seelsorger. Müller hatte gerade die Scheidung hinter sich, Frau und Sohn waren in den Westen gegangen. Ein Anrufer in jener Weihnachtsnacht habe von ganz ähnlichen Erfahrungen erzählt.
„Wir haben ein zweistündiges Gespräch geführt, ein sehr solidarisches Männergespräch, möchte ich mal sagen. Das hatte mit Telefonseelsorge überhaupt nichts zu tun. Und da habe ich dann gemerkt, du musst an das Thema deiner eigenen Scheidung, das Thema Verlust, noch einmal ran.“
Die Probleme und Sorgen, mit denen sich die Anrufenden heute bei der Telefonseelsorge melden, seien mit denen aus den früheren Jahren durchaus zu vergleichen.
„Einsamkeit, Beziehungsschwierigkeiten, Schmerzen, Tod und Trauer – alles, was das Leben bringt“, davon hört der Seelsorger, dazu zähle auch Gewalt in der Familie.
Und immer wieder seien auch Menschen mit Suizidgedanken in der Leitung. 1956 hatte man deshalb in Westberlin die erste Seelsorgestelle Deutschlands geschaffen, „Lebensmüdenbetreuung“ nannte man das damals.
Mangelware Telefonanschluss
Uwe Müller wird zunächst Kfz-Schlosser, macht später eine Ausbildung bei der Diakonie. Mitte der 1980er-Jahre hat er die Idee, eine kirchliche Telefonseelsorge in Ostberlin zu gründen. Auch über ein Frauenhaus oder eine Drogenberatungsstelle habe man damals nachgedacht. Alles Tabuthemen in der DDR, so der Seelsorger.
Sehr abenteuerlich sei die Gründungsphase der Seelsorge dann verlaufen. Die Stasi habe oft mitgehört, mitunter auch die Leitungen unterbrochen, erzählt Müller. Hinzu kam eine weitere Hürde: nur 16 Prozent der DDR-Bevölkerung besaß einen eigenen Telefonanschluss.
„Daher haben wir damals gesagt, wir schließen mal die Nachtlücke in der ganzen Beratungslandschaft, haben von abends 18 Uhr bis 6 Uhr morgens den Telefondienst gemacht. Und ganz viele Leute sind runter in die Telefonzelle gegangen, haben mit ihrem 20 Pfennig-Stück bei der Telefonseelsorge angerufen.“
Die ersten 20 Sekunden entscheiden
Bis heute, so Uwe Müller, „entscheidet sich in den ersten 20 Sekunden“, ob man miteinander ins Gespräch komme. Alles, was länger als eine dreiviertel Stunde dauert, zähle zu den längeren Gesprächen, sei später auch ein Fall für die Supervision. „Die Erfahrung zeigt, dass nach 45 Minuten die Gefahr besteht, dass man sich im Kreis dreht, dass man wieder an den Anfang kommt.“
Uwe Müller hat seit 1988 unzählige Gespräche geführt. Heute, mit über 60, denke er über seine Nachfolge an der Spitze der Telefonseelsorge nach. Es dürfe gern eine Frau sein.
Ganz zur Ruhe setzen will Müller sich später aber nicht. „Der ganze Bereich Aus- und Fortbildung ist ja, wo mein Herzblut dranhängt. Wenn Menschen lernen wollen, über sich und um in Beziehungen zu anderen Menschen ein Stück weiter voranzukommen, das finde ich von zu unschätzbarem Wert. An der Stelle kann man mich immer wieder locken.“
(ful)
(*) Wir haben eine Zahlenangabe berichtigt.