Der Bordsteinkönig

Von Petra Marchewka |
Michael Ruge will schon als Zehnjähriger Zuhälter werden. Sein Traum ist der Hamburger Kiez, die Männer auf der Reeperbahn bestaunt er mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung. Warum er dann doch Selbstverteidigungstrainer wurde, hat er in einem Buch beschrieben.
In der Kultkneipe "Zum Silbersack" stehen die Menschen dicht gedrängt. Die noch draußen in der Kälte warten, werden keinesfalls mehr reinpassen. Die Luft drinnen: zum Schneiden. Vorne, zwischen Tresen und Herrenklo, ein kleiner runder Tisch mit Mikrophon. Michel Ruge blättert in seinem Buch, aus dem er gleich vorlesen will.

"Jeder, der mich kennt, der weiß, dass ich ein miserabler Vorleser bin, ich geb mir Mühe... Seid ihr bereit?"

Hellbraune, kurze Haare, ein freundliches, offenes Lächeln, breites Kreuz – seine frühere Karriere als Türsteher und Personenschützer bezweifelt man keine Sekunde. Als müsse er sich aber in die Schriftsteller-Rolle erst noch hineinfinden, wirkt Michel Ruge geradezu schutzlos, wie er da zwischen Bücherverkaufsstapel und schepperiger Tonanlage Kurs nimmt auf seinen ersten Satz. Doch die rund 100 Hamburger Kiezgänger ermuntern den Bordsteinkönig mit wohlwollender Aufmerksamkeit.

" 'Meine Mutter war 16, ihre Klamotten waren eng, langes, volles schwarzes Haar. Lange Beine, lange Lederstiefel. Nur der Rock und ihre Kindheit waren kurz....'""

Wenige Meter von dieser Hamburger Eckkneipe entfernt, auf der Reeperbahn und in den angrenzenden kleinen Straßen von St. Pauli, hat Michel Ruge seine Kindheit und Jugend verbracht. Diese Zeit – wahrlich keine idyllischen Jahre, wie die Zuhörer an diesem Abend erfahren werden – berührt bis heute sein Herz:

"Ich hab gerade die Anweisung bekommen, ich soll langsamer lesen, stimmt das?" - Publikum: "Ja. Aber sonst is top!"

In Hamburg sind die Nächte lang, sagt ein alter Schlager, und tatsächlich ist es für den Bordsteinkönig spät geworden im "Silbersack". Rum für alle und Freibier hat es zu später Stunde gegeben, und noch am nächsten Tag ist Michel Ruge beseelt von den neuen Dimensionen, die das autobiografische Schreiben in sein Leben gebracht hat.

"Ich habe meinen ganz eigenen Schreibstil entdeckt und dass man mit Schreiben so nah auch an Dinge herankommt und sie beleuchten kann, wie man eigentlich mit keinem anderen Medium es erreichen kann. Es ist wirklich ein Geschenk."

Ein bisschen blass wirkt der 43-Jährige heute. Er laboriert an einer Mittelohrentzündung herum, hat Fieber. Aber statt Kamillentee bestellt Michel Ruge im Café einen doppelten Espresso mit wenig Milch:

"Immer mehr ist mir bewusst geworden, dass auf St. Pauli aufzuwachsen doch ganz anders ist als in einer bürgerlichen Gesellschaft. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass ich in einer Parallelgesellschaft aufgewachsen bin, in einem Mikrokosmos, wo eigene Regeln gelten, und ich mich als Kind und Jugendlicher ja auch als Außenseiter gefühlt hab."

In dicker Daunenjacke schlendert Michel Ruge durch die Straßen seiner Kindheit.

"Da vorne gab's 'n Kiosk, wo zwei ältere blonde Frauen gearbeitet haben, da hat sich immer alles versammelt, es war schon auch faszinierend, ich hab‘ da von Prostituierten, Transvestiten, Zuhältern, Ganoven, Arbeitslose, Künstler, Hafenarbeiter, alles gesehen."

Entwaffnend offen geht Ruge selbst mit den wenig schmeichelhaften Details seiner Biografie um. Gerade mal zwölf Jahre ist er alt, als er hier in der Nähe bei einer Hure sein "allererstes Mal" erlebt. Später dann die blutigen Gewaltexzesse mit den Jungs aus seiner Gang und die großen Gefühle zu seiner Jugendliebe Claudia, die anschaffen geht und sich mit sechzehn den "goldenen Schuss" setzt. Michel Ruge zeigt Innenansichten eines Milieus, das sich Hamburg-Besuchern nur allzu gern verklärend als Lokalkolorit präsentiert und lässt den Leser nahe an sich heran – etwa, wenn er sich zu seiner kindlichen Verehrung der Zuhälter von St. Pauli bekennt:

"Ich hab die negativen Begleiterscheinungen natürlich auch nie gesehen. Sondern ich habe die Leute gesehen, wie sie funkeln und strahlen, mit ihrem ganzen Schmuck, den Muskeln, die wunderschönen Frauen an ihren Seiten, die großen Autos, die ganze Show, die sie abgezogen haben. Das waren die Gewinner, sozusagen. Da gab's einmal die Verlierer, das waren die Lehrer, die frustriert in die Schule gekommen sind, blutleer, und immer schlechte Laune hatten, und dann gab es die Leute, die immer gute Laune hatten, da kann man sich natürlich ausrechnen, was man als kleiner Junge besonders toll findet."

Michel Ruges Protokoll seiner jugendlichen Selbstsuche ist gleichzeitig ein lesenswertes St.Pauli-Portrait der 1970er und 1980er Jahre. Damals war Hamburgs berühmtester Stadtteil ein Schmelztiegel aus Sex und Gewalt, und Ruge, der Bordsteinkönig, war ein Teil davon.

Aber Michel Ruge schafft den Absprung, holt das Abitur nach, besucht in Hamburg die Schauspielschule, zieht nach Berlin, arbeitet als Türsteher und als Lehrer für Selbstverteidigung, hält Vorträge über Zivilcourage. 2010 erscheint unter dem Titel das "Ruge-Prinzip" ein Sachbuch, in dem es um das Verhalten in Gefahrensituationen geht. Michel Ruge hat das Milieu verlassen, das ihn so sehr geprägt hat. Aber ganz und gar abstreifen lässt es sich nicht, gesteht der Bordsteinkönig schmunzelnd:

"Ja, ich liebe natürlich alles, was glitzert und funkelt, ich mein‘, ich komme von St. Pauli, das sind die Sachen, die das Leben so spannend und so anders machen. Ich liebe teure Taschen, ich liebe teure Uhren, ich hab mal mit Uhren gehandelt, alles was die Welt schöner macht und mit Liebe gemacht wurde, finde ich einfach toll."
Nach dem Tod der legendären Wirtin Erna Thomsen war die Kneipe rund zwei Monate lang geschlossen. Eine Gruppe von 20 Investoren hat den «Silbersack» übernommen und wieder eröffnet.
In der Kultgaststätte "Zum Silbersack" stellte Michal Ruge seine Biografie vor.© picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt