Der Brexit, das Virus und die Literatur

"I want my country back"

29:24 Minuten
Ein englischer 'Pro-Brexit' Demonstrant mit einem 'Happy Brexit Day' Button am Anzug in Nationalfarben vor dem Parliament Square in London, 31. Januar, 2020.
"We want our country back“ wetterte die „Leave“-Bewegung. Die Autorin Laurie Penny hat diesen Slogan dann gekapert. © imago images/Empics/Matt Crossick
Von Hans von Trotha |
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Nach der Entscheidung, Europa zu verlassen, bot sich britischen Autorinnen und Autoren viel Romanstoff. Dann kam die nächste Realität gewordene Dystopie: das Virus. Was bedeutet die Kombination aus Brexit und Covid-19 für die britische Literatur?
"I want my country back": So überschrieb die junge Autorin Laurie Penny nach dem Brexit-Referendum 2016 einen aufrüttelnden Text, in Abwandlung eines Slogans der Brexit-Befürworter.
J. K. Rowling hatte per Tweet noch gewarnt, Lord Voldemort würde für Leave stimmen. Und Robert Harris twitterte: "Fühle mich, als wenn ich in einem schlechten dystopischen politischen Thriller lebe."
Andere Autorinnen und Autoren gingen gleich zur Analyse über. Martin Walker etwa: "Das Brexit-Votum ist ein Sieg der Vergangenheit über die Zukunft, der Alten über die Jungen, der weniger Gebildeten über die Akademiker, von Little England über Great Britain."
Oder Philip Pullman, der Präsident der Society of Authors, der es so auf den Punkt brachte: "Wir hatten Kopfschmerzen, also schossen wir uns den Fuß ab. Jetzt können wir nicht mehr laufen und haben immer noch Kopfschmerzen."

Ein feindseliger, ungastlicher Ort

Zu den Slogans der "Leave"-Bewegung gehörte: "We want our country back". Die junge Bloggerin und Schriftstellerin Laurie Penny schrieb nach dem Referendum in ihrem "I want my country back"-Artikel:
"Ich habe Angst, dass der Wunsch derer, die IHR Land zurück haben wollen, in Erfüllung geht. Es wird ein feindseliger, ungastlicher Ort für Einwanderer, ethnische Minderheiten, queere Menschen – für alle, die nicht gemeint waren, als Nigel Farage, (einer der Mitbegründer der Brexit-Partei), den Sieg der normalen, korrekten Leute erklärt hat."
Großbritannien ist traditionell eine literarische Nation. Und so haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller die Diskussion um den Brexit begleitet und befördert. Die schottische Autorin A. L. Kennedy lebt in London und hat sich als engagierte Brexit-Gegnerin oft zu Wort gemeldet, nicht zuletzt in Kolumnen in deutschen Zeitungen.

Vom Trumpismus infiziert

Sie sieht England vom Trumpismus infiziert. Literatur aber befördere Empathie und die sei in einer Gesellschaft, in der Beleidigungen und Empörung an der Tagesordnung seien, eher nicht gefragt. Zum Glück interessierten sich aber noch Menschen für Literatur und seien schockiert von dem, was mit ihrem Land geschehe, sagt sie.
Jonathan Coe legte 2018 einen der Romane der Stunde vor: "Middle England" - eine Art Komödie, in der Coe seine Figuren in den Brexit schlingern lässt.
Im März 2020 sitzt der Autor in einem Berliner Café – vor einer der allerletzten Lesungen, die vor dem ersten Lockdown noch stattfinden. Eine eigenartige Nervosität liegt in der Luft. Wird er überhaupt nach London zurückfliegen können? Noch wissen wir alle nicht, wie sich ein Lockdown anfühlt.
Coe sagt: "Ich habe heute Morgen einen Artikel im Atlantic gelesen, der hat mich geärgert. Da hieß es, neben Corona würde der Brexit sofort zu einem vorübergehenden Problem. Selbst wenn neben Corona womöglich alles zum vorübergehenden Problem werden sollte – ich finde, wir müssen uns mehr als nur einer Sache widmen können."
Doch das ist manchmal gar nicht so einfach – schon gar nicht, wenn zwei Phänomene sich in ihrer Dramatik und Dynamik gegenseitig potenzieren. Bereits bevor das Virus auf die Insel kam, waren die Visionen dessen, was auf Großbritannien zukommen würde, düster.

Die tief gespaltene Nation

In John Lanchesters Roman "Die Mauer" von 2019 ist England von einer hohen Mauer umgeben, die mit allen Mitteln gegen etwaige Eindringlinge verteidigt wird, Schlauchboote inbegriffen – ein Ergebnis des Brexit in Verbindung mit dem im Roman sogenannten Wandel, also dem Klimawandel.
Der Brexit hat die Nation tief gespalten. Oder die Abstimmung hat einfach zutage gefördert, wie gespalten die Nation ist.
David Cameron habe nicht gewusst, dass er mit der Abstimmung die Büchse der Pandora öffnen würde, glaubt Jonathan Coe. Jemand mit mehr Verantwortungsgefühl hätte das nicht getan, meint er.
Viele Autorinnen und Autoren sehen das so. Laurie Pennys Aufsatz schließt mit den Worten: "Dieses Britannien ist nicht mein Britannien. Ich will mein Land zurück. Ich will mein unvollkommenes, tolerantes, zukunftsgerichtetes, kreatives Land zurück."
Für A. L. Kennedy ist es ein untrügliches Zeichen für den Niedergang öffentlich-rechtlicher Medien, wenn sie einem Mann wie Nigel Farage eine Bühne bieten: "Die BBC hat ihn groß gemacht. Diesen grässlichen Kerl, der aussieht wie ein misshandelter Frosch und nichts Zusammenhängendes zu sagen hat. Er ist der langweilige, aggressive Säufer, der im Pub in der Ecke hockt. Und da hätte er mal bleiben sollen."

Das Britische an den Briten

Seit dem Brexit-Referendum sind zahlreiche Essaybände und Sachbücher zum Thema erschienen, auch ironisch gefärbte Bücher, die uns Europäern erklären, wie Großbritannien tickt.
Das Britische an den Briten, die Britishness, betonen nicht nur die Sachbücher, sondern auch viele Romane dieser Tage. In John Lanchesters "Die Mauer" werden zum Beispiel die Trinkgewohnheiten in den Pubs besonders hervorgehoben – auch ein Kulturunterschied zwischen Briten und Europäern:
"Rauschzustände, bei denen man so schnell so viel Alkohol in sich aufnimmt, dass man während der darauffolgenden zwei Stunden, in denen man doch eigentlich nichts mehr trinkt, kontinuierlich immer betrunkener wird."
Der aktuelle Roman von John Le Carré, 2020 erschienen, trägt einen Sport als Titel, der die elegant tänzelnde englische Art der Kommunikation spiegeln soll: "Federball". Ein typischer Le Carré, in dem sich der Altmeister des politischen Thrillers durch den Brexit und das außenpolitische Wiederauftrumpfen Russlands offenbar noch einmal herausgefordert fühlt.

Goldenes Zeitalter der Fiktion?

Der Brexit und seine Folgen sind Thema der Literatur. A. L. Kennedy allerdings erwartet den großen literarischen Wurf erst noch – und sie fragt sich, ob der dann überhaupt bemerkt würde:
"Die Literatur wird reagieren, auf jeden Fall. Aber ob das noch bemerkt werden wird? Literatur hat hier inzwischen so wenig Öffentlichkeit. Wenn ich über den Brexit schreibe, wird das eher in Deutschland wahrgenommen als in England."
Der Autor Will Self sieht dagegen schon ein goldenes Zeitalter der Fiktion anbrechen. In einem Text von ihm heißt es: "Auch wenn die Brexit-Entscheidung ein unerwartetes, schockierendes Ereignis war, inspiriert Schriftsteller vor allem das, was dem vorangegangen ist und das, was ihm folgt. Denn das erzählt etwas über den Charakter unserer Nation."

Brexit oder Covid-19

In den kommenden vier bis fünf Jahren wird die englische Literatur nicht nur den Brexit zu verarbeiten haben. Zum einschneidenden Wandel, den der vollzogene Brexit bedeutet, kommt das Coronavirus hinzu. Welches der beiden Themen wird die Literatur dominieren?
A. L. Kennedy sagt dazu: "Ob der Brexit oder Corona die britische Literatur stärker beeinflusst? Hier haben wir Brexit, Corona und unsere Regierung mit ihrem Versagen. Die gleichen Leute sind für beides verantwortlich – also werden wir wohl von beidem die schlimmstmögliche Variante bekommen."
(DW)

Sprecherin und Sprecher: Nina Weniger und Tonio Arango
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Andreas Stoffels
Redaktion: Dorothea Westphal

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