Der Bruder, der für seinen Bruder verantwortlich ist

Rezensiert von Ralf Bei der Kellen |
"Gott hat die Törichten und Schwachen erwählt, um die Weisen und Starken zu beschämen." Diese Zeilen aus dem ersten Korintherbrief könnten als Credo über der Vita des Kanadiers Jean Vanier stehen. Zum 80. Geburtstag des Initiators der 'Arche', in der Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenleben, ist nun eine Biografie erschienen.
"Das Ziel jeder Kommunität, mag sie in Belfast oder Haiti liegen, bleibt jedenfalls immer das gleiche: eine Familie zu bilden, in der Menschen mit geistiger Behinderung die Sicherheit und den Frieden finden, worin sie sich entfalten können. Und auch der Geist ist der Gleiche: der Geist besonderer Sensibilität für die Bedürfnisse wie auch die prophetische Rolle der Armen."

Ob in Deutschland, Indien, Burkina Faso oder Honduras – überall findet man sie: die Einrichtungen der Arche. Aktuell gibt es130 Kommunitäten in allen Erdteilen. Sie alle gehen zurück auf die Vision des kanadischen Philosophieprofessors Jean Vanier. So imposant dieses Lebenswerk ist, so ungewöhnlich ist die Vita Vaniers.

"Jean kam als viertes Kind der Familie Vanier zur Welt, und zwar in der Schweiz, wohin sein Vater als Militärberater der kanadischen Delegation beim Völkerbund berufen worden war."

Der Vater war zudem in einer strengen katholischen Umgebung aufgewachsen. Militär und Religion sollten auch das Leben des Sohnes entscheidend bestimmen. Als 13jähriger äußert Vanier den Wunsch, auf das Elitecollege der britischen Marine in Dartmouth zu gehen.

"An die Gründe, die er seinem Vater dafür nannte, konnte er sich nicht erinnern; dagegen genau an dessen Stellungnahme zu diesem lebensgefährlichen Entschluss: 'Du hast mein vollstes Vertrauen. Wenn du spürst, dass du das tun musst, dann tu es.'"

Aus dem Vertrauen des Vaters in die frühe Eingebung seines Sohnes zog Jean Vanier später die Zuversicht, auf seine Intuition zu hören und die Arche zu gründen. Dahin war es aber noch ein langer Weg. Nachdem er 1945 das Marine-College erfolgreich absolviert hatte, verbrachte er die nächsten zweieinhalb Jahre größtenteils auf Ausbildungsschiffen.

"In einem Marinebericht über Jean Vanier steht, er lege als Offizier gute Fähigkeiten an den Tag, aber es mangele ihm an Respekt vor seinen Vorgesetzten. Die Reaktion seines Vaters war typisch: 'Solange er seine Untergebenen mit Respekt behandelt, liegt er richtig.'"

Eine Pilgerfahrt mit dem Vater nach Lourdes lässt in ihm den Entschluss reifen, Geistlicher zu werden. 1950 erbittet er die Genehmigung, die Marine verlassen zu dürfen. Im selben Jahr lernt er Père Thomas kennen, der zu seinem lebenslangen spirituellen Begleiter wird. Jean Vanier begibt sich in das von dem französischen Dominikaner gegründete Studienhaus Eau Vive bei Paris. 1952 wird Père Thomas von Hardlinern innerhalb seines Ordens denunziert: Er sei in seiner geistigen Unterweisung zu mystisch und würde vom rechten Glauben abweichen. Man schickt ihn, was damals durchaus üblich war, zunächst in eine psychiatrische Klinik und anschließend ins Exil.

Auf diesem Hintergrund entscheidet sich Jean Vanier gegen eine kirchliche Laufbahn und macht stattdessen seinen Doktor in Philosophie. Als er Père Thomas 1963 nach langer Pause wiedertrifft, ist dieser Hausgeistlicher in einem Heim mit Werkstätten für geistig behinderte junge Männer in einem Dorf nördlich von Paris. Bei seinem Besuch dort fühlt sich Jean Vanier gleichermaßen abgestoßen wie angezogen. Erst in der Reflexion bemerkt er, dass er etwas Wichtiges entdeckt hat. Er beginnt, verschiedene Einrichtungen für Menschen mit geistigen Behinderungen zu besuchen.

"Was er dort alles vorfand, erschütterte ihn, vor allem in einem Heim südlich von Paris, wo rund 80 geistig behinderte Männer unter chaotischen und gewalttätigen Verhältnissen in zwei Schlafsälen hausten. Die Insassen hatten keine Arbeit. Sie aßen in einem riesigen Speisesaal und verbrachten ihre Zeit damit, im Kreis herumzulaufen. Ein Mann namens Dany hatte sein Leben in einem Keller verbracht und spuckte jeden an, der sich ihm näherte."

Trotzdem hat Jean Vanier das Gefühl, diese, wie er sie nennt, "verwundeten" Menschen könnten dem Rest der Gesellschaft viel geben. Immer wieder vergleicht er sie mit Jesus, der sich ebenfalls verwundbar machte. Mit eben jenem Dany sowie zwei weiteren Insassen zieht er im August 1964 in die unmittelbarer Nähe von Père Thomas.

"Die Mauern des kleinen Hauses waren solide, aber das Innere ließ in allem zu wünschen übrig. Es gab nicht einmal eine Toilette, sondern nur einen Eimer."

Aber Vanier war entschlossen, und es zeigt sich bald, dass er mit seinem Entschluss richtig liegt. Schon im ersten Jahr kommen immer mehr Behinderte. Es kommen aber auch Assistenten, die ihre Dienste gegen Kost und Logis anbieten – sogar aus den USA und Kanada. In den nächsten Jahren werden immer mehr Dependancen der Arche gegründet. Mit diesem Wachstum wurde sich Vanier auch der Tatsache bewusst, dass eine derart große Organisation, wie sie die Arche nun wurde, nicht für immer von ihm geleitet werden konnte, und dass er sie möglichst bald einer kommenden Generation übergeben musste – nicht zuletzt, um eine Verehrung und eine Fokussierung auf ihn als Gründervater zu vermeiden. Bereits 1975 gibt er das Amt des "Internationalen Koordinators" ab. Ab 1981 ist er nur mehr einfaches Mitglied der Gemeinschaft. Jean Vanier begriff sich immer als Katholik. Von Anfang an unterstützte er die Ökumene, die sich in seinen Archen häufig auf eine ganz natürliche Art entwickelte.

"Wir leben in einer Welt voller Kriege; überall brechen Feuer aus", sagte er empört, "und wir Christen schaffen es nicht, zusammenzukommen und über das Evangelium zu sprechen? Was ist da los?"

Die Autorin Kathryn Spink hat bereits Biographien zu Mutter Theresa und Frère Rogers geschrieben. Im vorliegenden Fall beschreibt sie das Subjekt ihrer Biographie in einem bisweilen allzu huldigenden Ton. Wie viele Menschen vor ihr scheint Jean Vanier sie mit seinen Visionen und seinem Charisma angesteckt zu haben. Die Kritik an der Arche und an ihrem Initiator kommt dann auch in erster Linie von Vanier selbst, der in seinen Schriften immer schonungslos mit sich ins Gericht ging. Den Titel des Gründers hat er Zeit seines Lebens von sich gewiesen. Für ihn stand immer das Lernen von den in der Einrichtung betreuten Menschen im Mittelpunkt.

"Ich muss jetzt nicht mehr so tun, als sei ich jemand. Ich kann jetzt das Kind akzeptieren, das ich bin, das Kind Gottes… Und jetzt, da ich realistischer und hoffentlich etwas demütiger geworden bin, kann ich in eine wahrere Beziehung zum Behinderten eintreten. Ich bin sein Bruder, ein Bruder, der für seinen Bruder verantwortlich ist."

Kathryn Spink: "Jean Vanier und die Arche. Die Geschichte einer außergewöhnlichen Berufung." Aus dem Englischen von Bernadin Schellenberger, Neufeld Verlag 2008, 207 Seiten, 17,90 Euro.